Keuchend kam sie die letzten Treppenstufen herauf und stellte die Kiste direkt im Flur ab. Sie hatte den ganzen Tag damit verbracht, ihre Sachen aus dem Anhänger, den sie sich von ihren Eltern nur zum Zwecke des Umzugs geliehen hatte, nach oben in die neue Wohnung zu tragen. Morgen wollte sie wieder zu ihren Eltern fahren, das Stück zurückbringen und ihre Tochter wieder abholen. Diese hatte sich sehr gefreut, dass sie zum ersten Mal bei ihren Großeltern übernachten durfte und sicher ging es ihr dort gerade gut. Die Tür fiel ins Schloss und endlich war sie alleine. Man hörte nur ein paar Schritte im Treppenhaus, vermutlich war es der nette ältere Herr aus der Wohnung über ihrer. Er hatte seine Hilfe angeboten, aber sie hatte dankend abgelehnt, das war ihr Umzug und sie schaffte das selbst! Alle Möbel waren schon da, das wenige was sie besaß oder sich neu leisten konnte. Einige Sachen hatte ihre beste Freunden beigesteuert, so zum Beispiel die Kaffeemaschine, die zwar schon ihre besten Tage hinter sich hatte, aber immer noch funktionstüchtig war und sich, nachdem man sie ein wenig vom Staub, den sie während ihrer Zeit auf dem Dachboden angesetzt hatte, befreit hatte, gut in das Gesamtbild der Küche einpasste. Sie war alt und hatte ihre besten Tage sicher schon hinter sich, aber es gab einen Geschirrspüler, diesen Luxus hatte sie in ihrem Haus nie gehabt. Den zweiten Haargummi vom Handgelenk ziehend ließ sie sich auf einem der Stühle nieder, machte sich schnell einen unsauberen Dutt und atmete dann erstmal tief durch. Während sie an sich hinabsah entdeckte sie Staub, ein paar zerdrückte Spinnenweben, etwas Farbe, noch von der letzten Woche und ein paar Holzspäne. Unter ihren Fingernägeln war der Dreck aus den Blumentöpfen, die sie ebenfalls hier hochgeschleppt hatte. Es gab einen kleinen Balkon, der nach innen zeigte und auf dem sie Platz für ein paar Pflanzen hatte, außerdem machte Grünzeug die Wohnung wohnlicher und nicht so leer. Die letzten Jahre hatte sie sich immer mehr Pflanzen in ihr Haus geholt, um die sie sich kümmern konnte und die ihr ein wenig Lebensfreude gaben, wenn sie sie am meisten brauchte. Jetzt würden sie Dekoration sein und sich in die Bilder der Räume einfinden, sie glücklich machen. Mit den wenigen Sachen, die sie hier hatten, würden sie erstmal auskommen müssen. Die Wohnung kostete relativ viel Miete und wenn man von ihrem Lohn noch Fixkosten und Essen abzog, dann blieb nicht mehr viel übrig. Vor allem nicht, da sie jetzt auch noch einen erhöhten Kindergartenbeitrag zaheln würde, da ihre Tochter jetzt bis kurz nach vier betreut werden musste. Aber das war es ihr wert und wenn sie etwas brauchte, dann konnte sie immer noch ihre Eltern fragen! Dieser Neuanfang würde schwer werden, das war ihr bewusst gewesen, aber er hatte sich nicht mehr länger hinauszögern lassen! Ihr Ehemann war immer gewalttätiger geworden. Sie hatte er schon von Beginn der Ehe an herabgewürdigt und wie Dreck behandelt, aber nachdem er vor zwei Monaten das erste Mal seine Hand gegen die gemeinsame Tochter erhoben hatte, da war es ihr zu viel geworden! Für ihre heile Welt und die Familie, die sie nach außen hin repräsentierten, für ihre Tochter war sie bereit gewesen, mit diesem Übel zusammenzubleiben, aber in dem Moment, in welchem er ihrem Baby etwas böses wollte, da war eine Grenze überschritten! Nur für ihre Tochter, damit diese einen Vater hatte, war sie dort geblieben, hatte sich seinen Regeln unterworfen und sich nie beschwert. Vielleicht hatte er, in der verdrehten Welt in der sie jahrelang gelebt hatten, das Recht, seiner Frau wehzutun, aber die Zukunft und Psyche ihres kleinen Mädchens würde sie niemals aufs Spiel setzen! Noch an dem Tag, an welchem es passiert war, hatte sie ihre wichtigsten Sachen in einen Koffer gepackt und das Mädchen zu den Großeltern verfrachtet. Weil ihr Mann bis Nachmittags in der Arbeit war, hatte sie ihre beste Freundin und deren Freund angerufen, welche keine zehn Minuten später drauf und dran waren, ihre Sachen nach unten zu tragen. Dort wurden sie in dem kleinen Laster verstaut, den besagter Freund für seine Firma nutzte, aber gerne zur Verfügung stellen wollte. Das Kinderzimmer fand darin gut Platz, neben einigen essentiellen Dingen, die ihr gehört hatten. Die Sachen wurden bei ihren Eltern zwischengelagert, wo sie auch die letzten Wochen geschlafen hatte, weil sie nach einer Wohnung suchen musste. Mit ihrem Mann, den sie wegen Körperverletzung, Vergewaltigung und Freiheitsberaubung angezeigt hatte, gab es seitdem kaum noch Kontakt. Ihr Anwalt kümmerte sich darum. Und sie war froh, dass sie diesem Monster nicht mehr unter die Augen treten musste. Die letzten Jahre hatte sie in einer Art Albtraum gelebt, aus welchem sie nicht aufwachen konnte. Sein Einfluss auf sie war noch immer sehr stark und vielleicht würde sie wieder in alte Muster zurückverfallen, wenn sie nicht genug aufpasste. Das wollte sie nicht. Sie hatte ihrem kleinen Mädchen versprochen, dass das ein Neuanfang sei. Ohne ihren Vater und wahrscheinlich für beide nicht einfach, aber es war notwendig. Obwohl sie noch so klein war, hatte sie das verstanden. Mama hatte es in der Beziehung nicht gut gegangen und sie wollte das nun ändern, ihr Leben selber in die Hand nehmen und vielleicht endlich glücklich werden. Noch war ihr Kopf in dieser schrecklichen Zeit gefangen, aber mit der Zeit würde sich das legen. Sie hatte Bücher gelesen und sich schlau gemacht, eine Selbsthilfegruppe gesucht und mit anderen Betroffenen gesprochen. Eines Tages würde es besser werden, dann konnte man Männern wieder vertrauen und vielleicht einen finden, der einen mehr wertschätzte als der letzte. Noch war sie jung und auch wenn sie schon eine Tochter hatte, sie wollte das nicht aufgeben. Jetzt bekam sie die Chance, sich ein neues Leben auszubauen und glücklich zu werden. Nach all den schweren Jahren war es eine Erleichterung, hier zu sein. Die Hoffnung, ein gutes Leben zu haben und irgendwann einen Menschen zu finden, der sie liebte, die brannte in ihrem Herzen stärker den je. Auch wenn es seine Zeit dauern würde, bis es sich zeigte, dieser Neuanfang, dieser Reset, war die richtige Entscheidung gewesen.