Alle waren so beschäftigt, dass ich mir ein bisschen verloren vorkam. Also schlenderte ich durch den Garten und entdeckte in einem der alten Strandkörbe unter den Obstbäumen Anna. Sie saß mit ihrem Laptop auf dem Schoß im flimmernden Halbschatten und schien völlig in ihre Arbeit vertieft. Ich zögerte einen Moment, dann ging ich zu ihr. »Störe ich dich?«
Sie sah auf und blinzelte gegen die Abendsonne. »Lilly! Setz dich ruhig.«
Anna klappte den Laptop zu und rückte ein Stück. Ich atmete tief durch, dann setzte ich mich neben sie. Annas Gegenwart verursachte bei mir immer ein bisschen Herzklopfen. Schließlich flirtete ich seit ein paar Tagen heftigst mit ihrem Freund. Ich versuchte, meine Stimme so unbefangen wie möglich klingen zu lassen. »Was machst du?«
Anna räkelte sich und brummte: »Ich muss nur Korrekturlesen. Ich freu mich ehrlich gesagt über jede Ablenkung.«
»Hmhm.« Ich rutschte in dem knirschenden alten Strandkorb hin und her. Er roch nach altem Plastik, aber irgendwie auf die gute Art. Der Geruch erinnerte mich an Kindheit, Sonnencreme und Eis.
Anna beugte sich vor und zog die Fußstütze aus dem Strandkorb. Mit einem erlösten Schnaufen zerwühlte sie ihre tollen Haare, dann zog sie die Beine an und umarmte ihre Knie. »Was geht dir im Kopf rum?«
»Merkt man das?« Ich grinste schief.
Anna zuckte die Schultern. »Ich gehe einfach mal davon aus, dass du was auf dem Herzen hast.«
Ich musste daran denken, wie Sven mir erzählt hatte, dass manche Leute sich vor Annas Gespür für Stimmungen manchmal gruseln. Weil man sich vor ihr immer irgendwie nackt fühlte. Sie schien Dinge zu wissen, die sie gar nicht wissen konnte. Aber sie führte ein Gespräch wie dieses auch nicht zum ersten Mal. Ich schon.
Ich räusperte mich. »Bist du ganz sicher, dass es für dich okay ist, wenn John und ich, also, wenn wir …«
Anna vollendete den Satz. »Wenn ihr eine Affäre habt?«
Ich schlug mir die Hände vor die Augen und murmelte: »Oh, Gott!«
Anna lachte leise. Ganz sanft sagte sie: »Lilly, es ist okay. John ist ein freier Mensch. Ich hab doch auch andere Beziehungen.«
Ich holte tief Luft und schnaubte erschöpft. »Ja, ich weiß. Ich bin eben einfach unsicher und will auf keinen Fall was falsch machen. Ich hab noch nie ein polyamores Paar wie euch kennengelernt.«
»Mach dir keine Sorgen.« Anna stützte den Kopf in die Hände und summte unbewusst ein bisschen vor sich hin.
Ich beobachtete sie verstohlen aus dem Augenwinkel. Immer, wenn ich Anna sah, fühlte ich mich so schrecklich moppelig und plump, dass ich keine Erklärung dafür fand, dass John mich immer ansah und berührte, als wäre ich wunderschön und sagenhaft heiß. Anna hatte dieses zauberhaft hübsche Gesicht, von dem ich den Blick gar nicht abwenden wollte. Ihre sonnengebräunten Beine in der abgeschnittenen Jeans waren so schlank und trotzdem muskulös wie bei einer Ballerina. Und ihre langen braunen Locken sahen so toll aus, dass ich auf Photoshop getippt hätte, wenn ich ein Bild von ihr im Schaufenster eines Friseursalons gesehen hätte. Keine Frau hatte im wahren Leben so tolle Haare!
Aber Anna schien das alles nicht zu interessieren. Sie hatte immer ganz andere Sachen im Kopf als ihr Aussehen. Ich hustete einen Frosch aus dem Hals, um nicht wie einer zu quaken. »Bist du denn gar nicht eifersüchtig?«
Anna sah mich über die Schulter an und lächelte sanft. »Bist du es?«
»Oh, Mann!« Ich wischte mir nervös über die Augen. »Ich weiß nicht genau. Ich glaube, ich würde vor Eifersucht platzen, wenn John mein Freund wäre und sich für dich interessieren würde. Aber so ist es irgendwie anders. Du warst zuerst da und ich wusste ja von Anfang an, dass ihr eine offene Beziehung habt.«
Anna nickte sachte und musterte mich entspannt. »Wenn John und ich in einer monogamen Beziehung wären, würde ich auch vor Eifersucht platzen.«
»Ernsthaft?« Ich sah Anna gespannt an.
Sie drehte sich zu mir und nickte heftig. »Überleg mal! Wenn du eine dieser Beziehungen hast, wo sofort Schluss ist, wenn einer von beiden sich frisch verliebt! Das muss doch die Hölle sein! Da musst du doch ständig Angst haben, dass du deinen Partner verlierst!« Anna schüttelte sich. »Ich glaube, ich würde jede Frau, die in seine Nähe kommt, weg beißen. Wie so ein Yorkshireterrier, der die Oma am anderen Ende der Leine verteidigen muss!«
Anna knurrte und gab ein hohes Kläffen von sich. Ich musste lachen. »Ich bin ganz froh, dass du mich nicht beißt!«
Anna nickte zufrieden und strich sich die im lauen Wind tanzenden Haare aus der Stirn. »Ganz ehrlich, wenn John versprochen hätte, mir treu zu sein, ich würde mir ständig Sorgen machen.«
Ich neigte den Kopf und sah sie unsicher an. »Was denn für Sorgen?«
Anna zuckte die Schultern und ließ sich gegen die Rückenlehne fallen. »Ich hätte ständig Angst, dass er fremdgeht und mir das verheimlicht. Ich hab keine Ahnung, wie ihr monogamen Menschen das aushaltet.«
»Na ja«, ich knabberte mir nachdenklich am Finger. »Eigentlich verspricht man sich doch Treue, um es auch zu halten!«
Anna nickte grimmig. »Und wie viele Paare kennst du, bei denen das funktioniert? Kennst du irgendjemanden, der noch nie verlassen wurde und dann kam raus, dass der böse Ex schon eine Neue hatte? Oder er ist ein anständiger Kerl und macht schon mal vorsorglich Schluss, weil er weiß, oh, oh, oh, bei der nächsten Tagung lande ich mit der neuen Kollegin im Bett! Bei so einem Mann kannst du dich doch unmöglich sicher fühlen!«
Ich musste über Annas drolligen Gesichtsausdruck lachen, aber mein Lachen ging in ein angespanntes Stirnrunzeln über. »Um ehrlich zu sein, ich hatte bei meinem Ex auch manchmal das Gefühl, dass irgendwas läuft, wovon ich nichts wissen soll.«
»Und hast du ihn mal drauf angesprochen?«
Ich nagte mir betreten auf der Lippe herum. »Ja, schon, irgendwie. Aber er hat immer gesagt, dass ich mir das nur einbilde. Und dann war er gekränkt, weil ich ihm nicht vertraue. Dann haben wir uns gestritten, weil ich uns den Abend versaut hatte und irgendwann hab ich halt nicht mehr gefragt.«
»Ein klassisches Ablenkungsmanöver!« Anna machte Schlitzaugen und flüsterte, als würden wir gerade Räuber und Gendarm spielen und einen Bösewicht dingfest machen. Ich musste wieder lachen. »Ist das für dich wirklich alles so einfach?«
Anna wurde ernst. Sie atmete tief durch und verschränkte wieder die Arme auf den Knien. Für eine kleine Weile beobachteten wir, wie eine dicke Hummel sich auf einer leuchtend gelben Löwenzahnblüte niederließ. Die Hummel war so schwer, dass die Blüte wippte. Anna sah ihr mit geneigtem Kopf zu, dann blickte sie mich wieder an. »Weißt du, so wie ich das sehe, haben Eifersucht und Verlustangst immer ganz viel mit fehlendem Vertrauen zu tun. Und jeder muss wohl selbst rausfinden, was er braucht, um wirklich vertrauen zu können.«
»Wie meinst du das?«
Anna drehte sich eine Locke um den Finger. »Wenn ich wüsste, dass John sich nicht traut, mir von seinen anderen Frauen zu erzählen, weil er mich dann verlieren würde, dann könnte ich ihm nicht vertrauen. Ich hätte ständig Angst, dass er mich anlügt, um mich nicht zu verlieren. Was ja ein ganz furchtbares Gefühlsdilemma ist. Durch Lügen baust du Distanz auf und kannst dich dem Menschen, den du liebst, einfach nicht mehr nah fühlen. Also verlierst du ihn dann sowieso, nur eben innerlich. Unsichtbar. Und der andere spürt, dass du was verheimlichst und du musst ihm ausreden, dass er seinem eigenen Gefühl trauen kann. In eine heimliche Affäre zu geraten, weil die Gefühle verrückt spielen und sich einfach nicht mehr kontrollieren lassen, muss echt die Hölle sein.«
Ich legte den Kopf in den Nacken und sah nachdenklich in die im Wind spielenden Blätter der Bäume. »Du meinst, du fühlst dich sicherer, weil John ehrlich zu dir ist?«
Anna blinzelte mich ganz langsam an. »Ganz genau.«
Ich rutschte hin und her. »Okay, ich verstehe jetzt, wieso du ihm vertraust. Aber das ändert doch nichts an der Eifersucht, oder?«
Anna lachte sanft. »Kennst du dieses Gefühl, wenn du eine Erkältung ausbrütest, aber du wirst einfach nicht richtig krank? Du fühlst dich total mürbe und bist schlapp und der Kopf brummt, aber die Nase will einfach nicht laufen und um im Bett zu bleiben und dich bemitleiden zu lassen, reicht es einfach nicht?«
Ich nickte heftig. »Oh, ja! Das ist furchtbar!«
Anna funkelte mich an und flüsterte gespannt: »So stelle ich mir das vor bei diesen Paaren, die über nichts reden. Du hast die ganze Zeit so eine dunkle Ahnung, aber wenn du deinen Schatz fragst, sagt er, dass du den Abend verdirbst. Und dann grübelst du endlos, ob er spinnt oder du.«
»Ja, aber …«
Anna strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr und setzte sich auf wie ein Schulkind, das unbedingt aufgerufen werden möchte. »Ich weiß immer, ob ich einen Grund zur Eifersucht habe oder nicht. Und wenn ich eifersüchtig bin, dann kann ich zu John rennen und heulen und dann kann er mich in den Arm nehmen und trösten und mir sagen, dass er mich niemals verlassen wird. Und dann heilt es wieder. Wie bei einer richtigen Erkältung, wenn du endlich niesen kannst.«
Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Also bist du doch eifersüchtig!«
Anna rollte mit den Augen. »Natürlich bin ich eifersüchtig! Du bist wunderhübsch und du hast eine unglaublich erotische Stimme und John leuchtet immer richtig vor Freude, wenn du vorbeikommst und …«
Ich musste lachen. »Was?«
Anna flüsterte: »Ich hab immer noch dieselbe Körbchengröße wie mit vierzehn! Und du hast so unglaublich fantastische Brüste! John liebt fantastische Brüste!«
Ich sah Anna verwundert an, dann lachte ich los. »Bist du irre? Ich würde töten für deine Figur!«
Anna seufzte abgrundtief, dann hielt sie mir die Hand hin. »Okay, wir vertrauen uns einfach, dass wir uns John nicht gegenseitig wegschnappen werden. Und wenn wir eifersüchtig werden, lachen wir das zusammen weg! Deal?«
Ich lächelte verschämt, dann gab ich Anna die Hand. »Deal.«
P.S. Falls ihr jetzt neugierig geworden seid auf Lilly und Anna, könnt ihr die beiden in meinen anderen Geschichten hier auf Belletristica wiedertreffen!