Mit einem Seufzen stellt Paul zwei weitere Kartons vor mir ab.
Die Letzten, so meint er mit einem Zwinkern.
Wir haben das Wochenende damit verbracht, den Dachboden zu entrümpeln. Immerhin steht derzeit sowie so ein Container auf dem Grundstück, weil das alte Stallgebäude entkernt und saniert wird.
Zusammen mit unserem Ältesten hat sich mein Mann daher den Dachboden vorgenommen. Seit Jahren verschwinden dort oben Kisten mit Klamotten, Deko, Bettwäsche, Geschirr und Kleinmöbel.
Meine Aufgabe ist es, die Kisten durchzusehen und zu entscheiden, was wir wirklich aufheben wollen. In der Tat habe ich das Meiste für den Container freigegeben.
Nun öffne ich den Karton und entdecke darin zwei alte Schuhkartons. Ich weiß sofort, was sich darin befinden wird. Auf dem Deckel stehen zwei Jahreszahlen - von und bis. Sowie die Namen derer, die die Karten verschickt haben.
Im Ersten entdecke ich Karten aus meiner Kinder- und Jugendzeit. Postkarten, die mein Vater uns von Geschäftstreisen schrieb, später von Freundinnen aus den Sommerferien. In meinem Jugendzimmer hatte ich eine Wand damit tapeziert.
Es treibt mir ein paar Tränen in die Augen, als ich die Handschrift meines Vaters wirken lassen.
Leopold.
So lange ist er schon nicht mehr bei uns.
Er starb schon Monate vor Martins Geburt und der ist jetzt Mitte 30.
In der zweiten Kiste finde ich zunächst vor allem Karten meiner Schwester. Aus Berlin, London, Paris, Mailand, Wien, Los Angeles.
Man kann erkennen, dass sie immer in Eile war beim Schreiben.
Später kommen die Karten fast nur noch aus New York.
Fast immer grüßt sie dann schon auch unsere Söhne.
Irgendwann sind es Karten aus Urlauben. Man merkt, dass wir dann viel Kontakt per Email hatten und kaum noch Post verschickt wurde.
Mir fällt aber eine Postkarte auf, die auf der Vorderseite den Broadway bei Nacht zeigt.
Liebe Schwester, lieber Paul!
Es geht uns gut hier in New York und der Zauber des Broadway scheint zu wirken ;-) Macht euch keine Sorgen.
Ursel & Jan
Wann ist eigentlich die letzte Karte von Ursel gekommen?
Oder die letzte Email?
An das letzte Telefonat kann ich mich leider gut erinnern.
Es endete in Vorwürfen und Streit.
Ich wische mir ein paar Tränen aus den Augen und schließe die Schuhschachtel wieder. Auf keinen Fall kommt diese in den Container.
Mein Vorsatz ist, dass ich mich am Abend in Ruhe nochmal damit beschäftige und überlege, was mit uns und Ursel nach all den Jahren so verdammt schief gelaufen ist.
Die Postkarten meines Mannes und meiner Söhne aus der zweiten Schachtel vertreiben ein bisschen den Kummer.
Paul schrieb ebenfalls von seinen Reisen, die er für die Firma unternahm.
Wie habe ich mich als junge Frau über diese Zeilen gefreut!
Oft habe ich sie vor dem Einschlafen immer und immer wieder gelesen.
Als die Jungs schon etwa älter waren, hat Paul immer zwei Karten geschickt. Eine für die Familie und eine nur für mich.
Immer eine kurze Liebeserklärung, die ungefähre Rückkehr und immer mit Bleistift gezeichnete Herzen.
Schmunzeln muss ich bei den krakeligen Karten beider Jungs aus diversen Schulfreizeiten. Martins Interrailreise nach dem Abitur. Wir haben einen ganzen Berg an Post bekommen und die Karten sind eng beschrieben. Die Karten aus London, während seines Auslandsjahr im Studium. Und noch heute schickt er begeisterte Karten aus den Bergen, seinen Motorradtrips oder Städtereisen. Und noch immer reicht der Platz kaum aus, weil er so viel zu erzählen hat.
Ganz anders sein Bruder.
Ganze zwei Karten aus der Zeit in New York (die von Ursel schon mitgezählt) und eine aus Los Angeles. Zwei Jahre verpackt in eine handvoll Worte. Viel mehr, so fällt mir gerade auf, haben wir eigentlich sowieso nie erfahren über jene Zeit.
Dann immerhin hier und da von Konzertreisen ein schneller Gruß. Ähnlich wie bei Ursel wirken sie hektisch geschrieben, eher wie eine Pflichtaufgabe. Aber er sucht wunderbare Motive aus. Auch deswegen haben sie einen besonderen Platz in meinem Herz. Der Text ist fast immer gleich: Hallo Mama, Hallo Papa - liebe Grüße aus Irgendwo - es geht mir gut. Bis bald, Jan.
Gut, man muss nehmen, was man kriegen kann.
Außer den Schuhschachten sind nur noch Andenken in der Kiste.
Nein, man kann unmögliches alles aufheben. Nur ein paar Kleinigkeiten suche ich heraus.
Dann stelle ich den Karton zu den anderen und trage die Postkartensammlung in die Bibliothek. Vielleicht mache ich daraus eine Art Fotobuch?. Vielleicht hilft es, die Erinnerungen an Margarete und Leopold lebendig zuhalten. Pauls Eltern sind hier auf dem Grundstück sowieso allgegenwärtig. Vielleicht finde ich einen Fingerzeig, ob der Streit mit Ursel beendet werden kann.
Paul kommt gerade die Treppe vom Dach herunter und streift seine Arbeitshandschuhe von den Händen. Er berichtet, dass jetzt nur doch die Kleinmöbel oben sind, wie sich Jan ansehen soll. Und ein paar Kisten mit Dekorationsmaterial sowie unsere Wintersachen. Er sagt irgendwas von Struktur und Ordnung und dass ich doch bitte zukünftig nicht einfach Dinge achtlos in die Ecken schieben soll.
Verlegen beiße ich mir auf die Lippen.
Immerhin verstecke ich dort auch gerne Geschenke vor Weihnachten oder Geburtstagen.
Ich halte ihm eine Postkarte entgegen, die ich vorhin aus dem Sammelsurium gezogen habe.
Paul lächelt.
Leise frage ich ihn, wann wir dort nochmal hinfahren.
In die toskanischen Hügel bei San Gimignano.
Nur wir zwei.
Wir werden schließlich nicht jünger.
Er fährt mir mit einem Finger über die Wange und blickt hinaus in den Hof.
Wenn der Umbau durch ist, verspricht er mir dann leise.