Die Tage wurden länger und endlich sprossen die ersten Blüten an den vereinzelten Bäumen, die auf Langøya dem kalten Winter trotzten und nun freudig ihre Äste gen Sonne reckten. Das kleine Haus nahe der Steilküste leuchtete so rot wie eh und je und der Nordatlantik kräuselte sich leicht unter der Briese, die über seine Oberfläche strich.
Aus dem kleinen Holzhaus mit den weissen Fensterläden trat eine junge Frau, die Haare zu einem lässigen Dutt gebunden, und blinzelte in das helle Tageslicht. Der Himmel leuchtete in einem strahlenden Blau und es fühlte sich an, als ob der Frühling endlich ins Land gezogen wäre.
«Isa, wo bleibst du denn?», verdrehte sie die Augen und klatschte in die Hände. «Wenn wir uns nicht beeilen, kommen wir noch zu spät und dann sehe ich sie ein ganzes Jahr nicht mehr...»
«Neun Monate, Lilla. Nicht übertreiben.» Isa trat aus der Hütte und zog die Türe hinter sich ins Schloss. Dann eilte sie ihrer Freundin nach, die bereits die Autotür geöffnet hatte und sich anschnallte. Mit einem Seufzen liess sich Isa auf dem Beifahrersitz nieder und stellte ihren Rucksack in den Fussraums des Wagens.
«Wird aber auch Zeit. Ich will sie nicht verpassen», murrte Astrid.
Wie so oft musste Isa über den Eifer ihrer Freundin schmunzeln. Besonders wenn es um ihre heissgeliebten Wale ging, war sie oft nicht mehr zu bremsen.
Zehn Minuten später erreichten die beiden den kleinen Hafen bei Stø und stiegen aus dem Wagen aus. Es hing ein salziger Geruch in der Luft und über dem Meer zogen Möwen ihre Kreise. Versonnen legte Isa den Kopf in den Nacken und sog die frische Brise ein, bevor sie mit ihrer Freundin zusammen zum Kai ging, wo ein alter Mann mit Vollbart auf einer Bank in der Sonne sass und eine Pfeife rauchte.
«Ah, Astrid og Isa! Går dere ut for å se hvalene?», grüsste er.
«Ja, de skal gå i det neste dager og jeg vil se den en siste gang.» Ein Lächeln huschte über Astrids Gesicht, als sie an die schwarz-weissen Tiere dachte. Bald würde sie sich auf den Weg in Richtung Süden machen und die junge Frau wollte das schöne Wetter heute nutzen, um ihre Schützlinge noch ein letztes Mal zu sehen.
Gemeinsam mit Isa ging sie den Steg entlang bis zu einem kleinen Boot, das ganz am Ende vertäut war. Der Rumpf war himmelblau gestrichen und die Farbe wurde gegen den Kiel hin immer dunkler, sodass das Boot in den Wellen kaum auffiel.
Astrid sprang als erste an Bord. «Komm, gib mir deinen Rucksack. Ich gehe dann gleich und starte den Motor. Kannst du uns losmachen?»
Isa nickte. «Klar, wir wollen ja keine Zeit verlieren. Wir können gleich los.»
Kurz darauf legte die «Liv» ab und nahm Kurs in Richtung der Wale.
Der Wind peitschte Astrid ins Gesicht, die Gischt spritzte auf alle Seiten und ihre Finger spürte sie vor Kälte kaum noch, als sie plötzlich über den Lärm des Motors hinwegrief: «Jeg ser de. Jeg ser de!» Sie stand am Bug der «Liv» und deutete aufs Wasser hinaus.
Sofort drosselte Isa den Motor. «Ah, da sind sie ja.» Sie erhob sich nun ebenfalls und beobachtete die majestätischen Tiere voller Faszination.
Mit langsamen Bewegungen glitten die Wale durch das dunkle Wasser des Fjordes. Manchmal sah man bloss eine Fluke und manchmal gar nichts der Orca-Schule, doch wenn man Glück hatte, so tauchten gleich mehrere Tiere zugleich auf, um Luft zu holen.
Isa schlang sich die Jacke enger um ihren fröstelnden Körper, als sie sich zu Astrid an den Bug gesellte. Das Boot schaukelte jetzt leicht in den Wellen hin und her, das Geräusch des Motors war verstummt.
Astrid trat an die Rehling und der Wind zerrte an ihrem blonden Haar. «Panda!», rief sie mit lauter Stimme übers Wasser.
Erst passierte nichts, doch nach einer Weile löste sich einer der Delfine aus der Gruppe und schwamm ein paar Meter auf die «Liv» zu. Einer nach dem anderen folgen ihm die anderen Orcas, bis die Tiere schliesslich in einem Bogen um das Boot herumschwammen.
Das Wasser glitzerte wie tausend Edelsteine in der Sonne und die Wellen schlugen hart gegen den Bug des Schiffes. Weisse Atemwolken bildeten sich vor den Gesichtern der beiden Frauen, die das Schauspiel der Tiere fasziniert beobachteten.
Astrid lehnte sich weit über die Rehling und streckte eine Hand aus. Sie hatte Panda schon von weitem erkannt. Es war die auffällige Narbe an seiner Rückenfinne, die ihn von den anderen unterschied.
Der Orca kam nun ganz dicht an die «Liv» herangeschwommen und streckte seine Nase aus dem klaren Wasser heraus. Für einen Moment verharrten die beiden so. Nur eine Armlänge trennte das gewaltigen Tier von der jungen Frau. Ihr weisser Atem wurde vom Wind übers Wasser davongetragen und in der Ferne kreischten die Möwen.
Dann tauchte der Orca wieder unter und Astrid blieb alleine zurück. Es war still. Still, abgesehen von den Möwen und der aufgewühlten See.
Isa trat von hinten an ihre Freundin heran und schlang die Arme um sie. Die blonde Frau lehnte sich gegen sie und schloss die Augen.
«Ich vermisse sie jetzt schon…» Sie brach ab.
«Ich weiss doch, Lilla», antwortete Isa. «Aber sie werden nächstes Jahr wiederkommen.» Sie drückte ihrer Freundin einen Kuss auf den Scheitel.
Lange standen sie so da. Ganz alleine auf dem Wasser, umgeben von den schneebedeckten Bergen Nordnorwegens.
Und gerade, als sie sich auf den Rückweg machen wollten, sahen sie eine Gruppe schwarz-weisser Wale, die draussen auf dem Fjord ihre Kreise zogen. Über ihnen der strahlend blaue Nordhimmel und ein sanfter Frühlingswind, der übers Wasser strich.