Franz Liszts "Les préludes" ist verklungen. Schwerfällig erhebt sich die Mutter, geht zur Goebbelsschnauze hinüber und schaltet das Gerät ab. Mit ihrer Schürze wischt sie ein wenig Staub vom Gehäuse. Es ist wie immer. Irgendwann, so scheint es, wird sich die Wehrmacht noch zu Tode siegen!
In Gedanken versunken schaut sie den Kindern beim Spielen zu. Ihre Jüngste sitzt mit ihrer Puppe Heidi auf dem Kanapee und kämmt hingebungsvoll deren langes blondes Haar. Der Mittlere, kein Jahr älter als seine Schwester, spielt auf dem Teppich mit seinen Spielzeug-Soldaten. Max, der Älteste, indes sitzt am Stubentisch. In seiner HJ-Uniform und dem Fahrtenmesser sieht er für sein Alter ziemlich verwegen aus. Mit einiger Konzentration sortiert er seine Sammlung Bombensplitter.
Irgendwo im Haus fällt lautstark eine Tür ins Schloss und bringt die Mutter zurück in die Wirklichkeit.
"Kinder, ich gehe kurz hinunter zum Wieland. Ihr bleibt hier und stellt nichts an, ja?"
"Ja, Mutti!" Der Große nickt ernsthaft seiner Mutter zu, während er das große gezackte Eisenstück in seiner Hand dreht und wendet. Letzte Nacht warfen die Briten Bomben in das Gerberviertel. Max und sein Fähnlein waren als Kuriere eingesetzt. Eine hervorragende Gelegenheit, um seine Sammlung zu vergrößern.
"Bringst du uns etwas mit? Etwas Spannendes!" Obwohl er ziemlich erwachsen wirkt, bricht hin und wieder der kleine, neugierige Max hervor.
"Etwas zum Spielen!" Der Kleine stellt seine Soldaten zu einer Parade auf. Seit langem fehlt ihm der Offizier, an dem sie vorbei marschieren können.
"Schooh! Kooh! Laade!", kräht derweil die Jüngste vom Kanapee herüber. Ihre Augen leuchten erwartungsfroh.
"Drei Dinge auf einmal! Das geht nun wirklich nicht!"
Mit einem tiefen Seufzer verlässt die Mutter die gute Stube. Es ist nicht so, als seien die Zeiten rosig. Doch wie andere Mütter auch liebt sie ihre Kinder. Ohne Frage wird sie alles tun, um ihre Wünsche zu erfüllen.
In der Küche nimmt sie die Schürze ab, sucht die Lebensmittelmarken und das Einkaufsnetz. Einer Eingebung folgend entnimmt sie ihrem Geheimvorrat ganz hinten oben im Küchenschrank zwei Schachteln 'Juno'. Ihr Mann, Nichtraucher, schickt ab und an einiges an Tabakwaren nach Hause. Seitdem es 'Juno' nicht mehr zu kaufen gibt, hat sich ihr Schwarzmarktpreis erhöht. Erfreulich für jeden, der noch Bestände besitzt!
Eine Schachtel 'Juno' möchte sie auf dem illegalen Tauschmarkt hinter der alten Schneiderei gegen eine Tafel 'Sarotti' eintauschen. Frau Grießner aus dem Spielwarenladen nimmt ganz bestimmt die andere Schachtel und wird sich entsprechend erkenntlich zeigen. Und für Max hat sie etwas ganz Besonderes! Eine große Patronenhülse, die sie nach dem Tieffliegerangriff auf den Bahnhof vor drei Wochen neben ihrem Fahrrad fand und seitdem in einem alten Zeitungsblatt eingeschlagen mit sich herum trägt.
Spannung. Spiel. Und Schokolade! Eines Tages, so hofft sie, werden alle drei Wünsche weitaus einfacher zu erfüllen sein.