Die Ziffern auf dem Digitalwecker zeigten eine rote 5 gefolgt von zwei Nullen. Eine kurze, wenig erholsame Nacht lag hinter Jenna.
Diese kribbelige Vorfreude hatte von ihr Besitz ergriffen. Bald würde sie einen weiteren Haken hinter einem Punkt auf ihrer Bucket List setzen können. Aber zu der Aufregung und Vorfreude, mischte sich auch Nervosität. Würde alles gut gehen? Hatte sie an alles gedacht? Die ganze Nacht über hatten sich ihre Gedanken um diese Fragen gedreht.
Sie hatte Wochen gebraucht, um Till von ihrem Vorhaben zu überzeugen. Ganz gelungen war es ihr bis heute nicht, er hatte sich mehr oder minder ihrem Enthusiasmus gefügt. Vermutlich hatte er ihre Vorfreude ein wenig getrübt und sie mit seinen pessimistischen Ansichten angesteckt.
"Fünf Stunden Autofahrt, nur um sich dann ein paar Steine anzugucken."
"Es sind nicht nur Steine! Es ist ein Kulturgut! Ein Stück deutsche Geschichte!"
Ihr Argument hatte er nicht verstanden.
"Wieviel Sprit wir dafür verpfurzen und dem Auto tut die lange Fahrt auch nicht gut. Und was, wenn unterwegs etwas ist?"
Seine Sorgen galten wie stets den materiellen Dingen und möglichen Unwägsamkeiten. Der geborene Schwarzseher.
"Es wird schon alles gut gehen. Und wenn, finden wir auch eine Lösung."
Auf ihre wie immer gutgläubige Äußerung war er nicht mehr eingegangen, sondern hatte sich grummelnd gefügt.
Sehr oft unternahmen sie solche Ausflüge nicht - im Gegensatz zu anderen befreundeten Paaren und der Blick auf die farbenfrohen Statusfotos schmerzten Jenna oft genug. Aber sie hatte sich ja in Till vergucken müssen, den hübschen aber ruhigen Informatikstudenten, ausgerechnet sie mit ihrer energiegeladenen und lebensfrohen Art. Gegensätze zogen sich an, zu Beginn zogen sie sich eher aus, aber diese Zeiten lagen Jahre zurück. Ganz allmählich war aus Leidenschaft Langeweile geworden.
Und dieser Ausflug war Jennas verzweifelter Versuch etwas daran zu ändern.
"Dieses Scheißnavi!", fluchte Till, sein missmutiger Blick auf das Display des Geräts gerichtet, das fröhlich blinkte und seit Minuten verkündete, dass die Route berechnet wird. "Ich wusste ja, dass dies eine ganze Idee blöd ist."
Jenna atmete einmal tief durch und schluckte ihre bissige Bemerkung des lieben Friedens Willen hinunter.
"Ist doch kein Problem. Ich hab die Route gestern im Internet angeguckt. Zuerst Richtung Würzburg, dann die A3 und dann die A7." Jennas Aufregung war einem gelassenen Kribbeln gewichen. Heute würde sie sich die Laune nicht von Tills Pessimismus verderben lassen. "Und bis dahin hat unser Navi die Route sicher schon berechnet."
Till lenkte fluchend das Auto aus der Garageneinfahrt. "Ich warne dich. Wenn wir uns verfahren, drehe ich sofort um."
Die erste Etappe verlief schweigsam. Kurz hinter Würzburg erwachte das Navi zum Leben und schreckte die beiden mit einem munteren "Halten sie sich rechts" aus ihrer Starre. Auch die nächsten Stunden verliefen ohne Zwischenfälle. Viel hatten sie sich nicht zu sagen, außer ein gelegentliches "Da vorne musst du dich rechts einfädeln" oder "In zwei Kilometern müssen wir die Ausfahrt nehmen." Wenigstens das Wetter ließ sich von ihrem angespannte Verhältnis nicht die Laune verderben und die Sonne schickte munter ihre Strahlen zur Erde, sodass sich Jennas Laune wenigstens beim Blick aus dem Beifahrerfenster ein wenig hob.
"Jetzt ist die Wartburg bestimmt schon bald ausgeschildert und wir haben echt Glück mit dem Wetter. Im September könnte es auch schon ganz anders sein", verkündete sie in einem Versuch doch noch etwas Kommunikation zu betreiben, wurde aber nur mit dem altbekannten Schweigen belohnt.
"Ach komm schon Till. Sag doch auch mal was."
Immerhin erntete sie daraufhin einen grunzenden Laut ihres Partners.
Und dann wie aus heiterem Himmel ließ sie das Navi erneut im Stich, ausgerechnet kurz vor einer vielbefahrenen Weggabelung erstarb die bunte Anzeige.
"Wo jetzt? Links oder rechts?" Tills eilige Frage brachte Jenna ins Schwitzen.
Ihr Blick huschte hilfesuchend über die Schilder am Straßenrand. Dann wieder zurück zur schwarzen Anzeige des kleinen Geräts an der Windschutzscheibe. Nichts. Jetzt galt es eine Entscheidung innerhalb von Sekunden zu treffen. Die richtige am besten. Sie merkte, wie Tills Laune schlagartig weitere 20 Level ins Negative fiel und die Nervosität von ihm Besitz ergriff. Er hasste es, sich zu verfahren und verlor dabei regelmäßig die Nerven. Das durfte heute auf keinen Fall passieren.
"Links", entschied sie spontan. Auf der Map im Internet hatte ihr Ziel eher westlich der Straße gelegen und Richtung linkerhand klangen die Ortsnamen zielführender. Eine reine Bauchentscheidung.
Folgsam lenkte Till das Auto in die angewiesene Richtung. Ein paar Kilometer folgten sie der Straße ohne weitere Zwischenfälle, aber auch ohne Navi oder einer zielführenden Beschilderung. Mit jedem weiteren Kilometer wuchs Jennas Sorge, aber sie presste die Lippen aufeinander und schwieg.
"Im nächsten Ort halten wir an und fragen jemanden", platzte es schließlich aus ihr heraus. Wo Probleme auftauchten, fand sie für gewöhnlich eine Lösung, während Till nur nörgelte und fluchte.
Es dauerte eine geschlagene Weile, bis sie durch eine kleine Ortschaft kamen. Jenna lenkte ihren Blick in jeden Hof und jede Gasse.
"Halt an! Da hinten arbeitet jemand im Garten. Da könnte ich fragen."
Aber Till ignorierte ihre Anweisung und fuhr weiter.
"Hier kann ich nirgends anhalten", brummte er.
"Dort an der Bushaltestelle?", schlug Jenna vor.
Ein wenig widerwillig lenkte Till das Auto an den Straßenrand. "Beeil dich, bevor ein Bus kommt!", wies er seine Lebensgefährtin an und zog eine sauertöpfische Miene, die Jenna verriet, wie es aktuell um seine Laune stand.
Sie nickte. "Würde mich wundern, wenn hier mehr als zwei Mal am Tag ein Bus hält", entgegnete sie mit Blick auf die vereinzelt stehenden, alten Bauernhäuschen und mehr oder weniger gepflegten Vorgärtchen links und rechts des Straßenrands. Kein Bus war in Sicht, aber auch kein Passant. Sie eilte ein paar Meter zurück in Richtung Ortsmitte, aber auch hier war niemand zu sehen. In keinem der Vorgärten oder Höfchen. Es war zum Verrücktwerden. Seufzend machte sie sich schließlich wieder auf zum Auto und ließ sich geschlagen auf den Beifahrersitz sinken.
"Vielleicht haben wir im nächsten Ort mehr Glück. Sobald wir jemanden sehen, halten wir an."
Eine halbe Stunde später war weder ein Schild, ein Passant oder das Ziel aufgetaucht, dafür aber Tills Laune und Nerven verbraucht.
Wütend klopfte er gegen das Lenkrad. "Ich habe es doch gleich gesagt. Was für eine bescheuerte Idee!"
Auch Jennas Nerven lagen inzwischen blank. Frustriert tippte sie auf dem Handy herum, in der Hoffnung einen entscheidenden Hinweis auf ihre Lage zu bekommen.
Endlich kam eine Haltebucht in Sicht. "Halt dort mal an", bat sie. Sie musste aus diesem Auto aussteigen, Tills erdrückender Ausstrahlung entkommen, wenn auch nur für einen Augenblick. Durchatmen. Nachdenken. Irgendwie musste sich die Situation doch noch retten lassen.
Zu ihrer großen Erleichterung folgte Till ihrer Bitte und steuerte den Wagen an den Straßenrand. Ohne einen Blick zurück zu werfen, stieg Jenna aus und folgte einem ausgetretenen Trampelpfad einige Meter von der Straße fort.
Wenn sie blieb, würde ein Streit losbrechen, wie sie ihn in letzter Zeit häufiger führten. Sie wusste das und Till wusste das auch. Sie hoffte nur, dass er warten und nicht ohne sie losfahren würde. Zutrauen würde sie es ihm allemal.
Auch nach einigen Metern blieb sie nicht stehen. Der Pfad wand sich durch niedrige Büsche und vereinzelt stehende Bäume. Eigentlich war es hier schön. Vielleicht sollte sie umkehren, das Auto stehenlassen und Till dazu überreden, einen Spaziergang zu machen. Herausfinden, wohin dieser Weg führte. Was es dort zu entdecken gab. Sie liebte solche spontanen Aktionen.
Kurz dachte sie darüber nach, war schon im Begriff umzudrehen und zurück zu laufen. Aber andererseits wollte sie sich zuerst vergewissern, dass der Weg auch hinter der nächsten Biegung weiterführte und nicht plötzlich auf einer Müllhalde oder einem Schrottplatz endete. Und sie wollte sich das Erlebnis nicht von ihrem Partner kaputtreden lassen. Sollte er doch warten oder ohne sie weiterfahren. Dann hätte sie wenigstens einen Grund, endgülig einen Schlussstrich zu ziehen. Vielleicht war das genau das, was sie brauchte. Einen Vorfall, der das randvolle Fass zum Überlaufen brachte.
Sie seufzte laut. Die körperliche Aktivität tat ihr nach dem langen Sitzen gut und sie genoss die frische Luft und die Natur. Vögel zwitscherten in den Bäumen. Die Herbstsonne brannte noch immer hochsommerlich auf ihrer Haut. Sie schloss für einen Moment genießerisch die Augen. Bestimmt würde etwas Sehenswertes hinter der nächsten Kurve liegen. Sie wusste es einfach.
Und tatsächlich. Der Anblick war atemberaubend. Der Weg gab den Blick auf einen bewaldeten Hügel frei. Dort oben thronte eine langgezogene Burganlage mit einem Bergfried in der Mitte. Sie hatte das Ziel gefunden. Es konnte nicht mehr weiter als ein paar Kilometer sein. Vielleicht führte der Weg sogar direkt dorthin und sie konnten ihn zu Fuß zurücklegen. Das würde ihr gefallen. Jenna griff in ihre Tasche, erinnerte sich aber daran, dass ihr Handy in der Seitenablage steckte, als ihre Hände ins Leere griffen. Dann eben nicht, schoss es ihr durch den Kopf. Umdrehen und zurücklaufen wollte sie nicht mehr. Riskieren, dass Till ihr dieses Erlebnis zunichte machte. Sie atmete tief durch und ließ die Vergangenheit hinter sich liegen. Es war an der Zeit für einen Neuanfang. Sie erkannte es mit einem Mal glasklar.
Sie kam der erhabenen Burg aus braunem Sandstein immer näher. Und mit jedem Schritt wuchs ihre Entschlossenheit. Ja, sie würde ihr Ziel erreichen und tief im Inneren ahnte sie, dass sie dort hin musste. Alles würde sich ändern, wenn sie nur die Burg erreichte.
Doch dann wurde sie mit einem Mal unvermittelt aus ihren euphorischen Gedanken gerissen.
"Wohin des Wegs, holde Maid?" Der Kerl hatte am Waldrand gelegen und musste sie schon von Weitem gesehen haben. Sie zuckte erschrocken zusammen, während sich der Mann aufrichtete. Er war kaum größer als sie, trug aber seltsam altertümliche Kleidung, die aus einem groben Stoff gefertigt und auf Leibeshöhe mit einer Kordel gebunden waren. Er lupfte seinen Hut und ein Büschel langer, ungepflegt wirkender Haare kam zum Vorschein.
"Nicht erschrecken", beschwichtigte er. "Braucht Ihr Hilfe?"
Er musterte sie aus zusammen gekniffenen Augen, so wie sie ihn einen Augenblick zuvor noch gemustert hatte.
Sie schüttelte den Kopf. "Nein danke", und eilte schnell weiter.
Aber der Kerl ließ sich nicht abwimmeln. "So warte doch!" Und schon lief er an ihrer Seite. "Ihr wollt doch sicher auch zur Burg? Wir könnten gemeinsam gehen. Sicher wollt Ihr auch am Sängerwettstreit teilnehmen?"
Irritiert drehte sich Jenna zu ihm um. "Sängerwettstreit?", fragte sie.
Der Kerl nickte. Erst jetzt bemerkte sie die Laute, die er an seinem behelfsmäßigen Gürtel befestigt hatte und das Bündel aus Stoff, das er über der Schulter trug.
"Unser Landsgraf und seine Gemahlin laden zum Wettstreit. Ich will mein Glück versuchen. Man sagt, meine Oden seien nicht schlecht."
Ganz schlau wurde Jenna aus seinen Worten nicht, aber er wirkte nicht gefährlich, höchstens ein wenig verwirrt. Los werden würde sie den Kerl ohnehin nicht mehr, also beschloss sie kurzerhand, sich ihm anzuschließen und ihm zu folgen. Auf der Burg würde sie sicher einen Weg finden, ihn abzuwimmeln und zu verschwinden, sollte er ihr lästig werden. Aber solange würde sie seinem Geplapper lauschen und in seinen Erzählungen schwelgen, die er unentwegt zum Besten gab. Es gestaltete ihre Wanderung kurzweilig und er freute sich ehrlich darüber, Gelegenheit zum Üben und Warmsprechen zu haben. Wie sich bald herausstellte, war er wirklich ein begnadeter Dichter - nicht einmal die eigentümliche Wortwahl störte Jenna. Im Gegenteil, sie fühlte sich wie verzaubert und ins 13. Jahrhundert zurückversetzt.
Kurz vor dem Ziel hielt er an und musterte sie unverhohlen. "So kannst du nicht am Hof erscheinen. Hast du noch etwas anderes zum Anziehen?"
"Nein." Jenna zupfte an ihrem dünnen Strickpullover. "Was ist daran verkehrt?"
Jetzt wurde ihr Begleiter rot im Gesicht. "Ich meine-", setzte er an. "Ich meine, dein Gewand gefällt mir. Aber mit Verlaub, es ist etwas Ungewöhnlich und könnte Anstoß nehmen."
Jenna pragmatisch und entschlossen wie sie war, fand eine einfache Lösung für dieses Problem. Doch bevor sie handeln konnte, schreckte sie ein penetrantes Piepsen aus ihren Träumen.
Auf dem Digitalwecker blinkten zwei Nullen hinter einer roten Fünf. Es war soweit! Eine kurze, wenig erholsame Nacht lag hinter ihr. Eine kribbelige Vorfreude hatte von ihr Besitz ergriffen. Heute war der Tag. Heute würde sie etwas erleben. Eilig stand sie auf und sprintete ins Bad. Nichts wie los. Die Wartburg wartete darauf, von ihr erkundet zu werden.