Er war immer ehrlich zu mir gewesen. Auch wenn es manchmal weh tat. Ihm oder mir. Nie hat er etwas verschwiegen oder versucht es sich leichter zu machen, indem er mich anschwindelte. Er forderte dabei die gleiche radikale Ehrlichkeit von mir. Das war nicht leicht. Aber es hat funktioniert. Weil wir uns vertraut haben.
Ohne ihn hätte ich nie erfahren, wie schön es ist, offen und ehrlich miteinander umzugehen. Wie leicht es sein kann, Liebe zu geben und zu empfangen, wenn mensch nur den Mut hat es zu versuchen.
Radikale Ehrlichkeit. Das bedeutet nicht nur sagen, was einem gut gefällt und was mensch schön findet, sondern auch aussprechen, was einen stört, weh tut oder Angst macht. Am meisten Angst hatte ich ihn zu verlieren, wenn ich etwas ansprach, von dem ich wusste, das es ihn verletzen würde. Angst davor, dass er mich verlassen würde, weil es ihm zu viel wird. Er hat mich nie verlassen. Bis jetzt.
Und das war nicht seine Entscheidung gewesen. Als ich von dem Unfall erfuhr, war er schon nicht mehr am Leben.
Jetzt steh ich hier an seinem Grab, pflanze Vergissmeinnicht und kann immer noch nicht glauben, dass ich sein Lachen nicht mehr hören, seine Hände nicht mehr spüren und seine liebevollen Augen nicht mehr sehen werde. Ich fühle nichts. Und trotzdem laufen mir Tränen übers Gesicht. Tropfen auf den Steinrand der Beeteinfassung.
Plötzlich wallt Wut in mir auf. Ich fange an zu schimpfen, zu zetern, zu schreien und zu heulen. Die wenigen anderen Friedhofsbesucher sehen erschrocken zu mir rüber. Ist mir egal. Wie konntest du nur! Wie konntest du mich nur einfach so verlassen?
Ich weiß, es ist kindisch. Ich weiß, du kannst nichts dafür. Trotzdem bin ich wütend. Ich brülle und kreische meine Wut deinem Grab entgegen, schleudere einen wüsten Fluch nach dem anderen gegen das taube Gestein. Bis ich mich beruhigt habe.
Dann muss ich lächeln. Bei keinem anderen Menschen hätte ich das so gemacht. Aber dir konnte ich immer zeigen, wer ich bin. Was in mir vorgeht. Du hast mich immer so genommen, wie ich bin. Mit all meiner Wut, all meiner Trauer, all diesen unschönen Gefühlen.
Bei dir durfte ich ich sein. Du hast mir die schönste Zeit meines Lebens geschenkt.
Und an die Stelle der Wut tritt Dankbarkeit. Eine unendliche, tiefe Dankbarkeit. Danke, dass du ehrlich warst. Danke, dass du mich geliebt hast. Danke, dass du alles an mir akzeptiert hast.
Du warst nicht perfekt. Manchmal hast du mich richtig aufgeregt. Genervt. Zur Weissglut getrieben. Aber ich durfte dir das sagen. Ich durfte dir an den Kopf werfen, was immer gerade in mir vorging. Und du hast es angenommen. Dadurch konnte auch ich dich annehmen. Deine Liebe, deine Fürsorge. Deine Wut, deine Trauer, deine Gefühle. Ich durfte dich lieben.
Aber jetzt bist du fort.
Und mir bleibt nichts anderes übrig, als auch das zu akzeptieren.
Die blauen Vergissmeinnicht wiegen sich langsam im kühlen Frühlingswind.
Ich werd dich nicht vergessen. Nie.
Und ich werde nicht wieder zurück gehen in ein Leben voller Lügen und Heuchelei. Auch ohne dich werde ich weiter ehrlich zu mir und meinen Gefühlen stehen. Selbst wenn es weh tut. Denn jedes mal, wenn ich zeige, was wirklich in mir vorgeht, werde ich an dich denken.
Und ich werde lächeln.