Er saß vor seinem Haus und blickte auf den Horizont. Nein, nicht auf den Horizont, vielmehr auf die große Mauer, die sich dort erstreckte. Was sich wohl dahinter verbarg? Er wusste, dass es verboten war sich ihr auch nur zu nähern, doch seit dem Tod seiner Eltern kam er regelmäßig in Schwierigkeiten und die Mauer schien ihn mehr und mehr anzuziehen.
Er blickte auf seine grauen Hände. Die Flüssigkeit in seinem
Glas glitzerte im Mondlicht, doch auch sie war grau. Alles war grau. Es gab
verschiedene Abstufungen von grau, doch es blieb Grau. Es gab wenige Ausnahmen. Sein Bettlaken, das war weiß. Und seine Schuhe, die waren schwarz. Doch alles andere war grau. Jeden Morgen, wenn er sein hellgraues Gesicht im Spiegel betrachtete, fragte er sich, ob da nicht noch mehr war, irgendwo.
Seine Gedanken wanderten langsam zurück ins Hier und Jetzt. Auf die kleine, graue Terrasse auf der er saß und seinen grauen Drink genoss. Dann kam ihm das Gespräch in den Sinn, das er früher an diesem Abend mit einem seltsamen Mann hatte. Der Abend hatte wie immer in seiner Stammkneipe begonnen. Er hatte bereits einige Drinks intus, als er in eine lächerliche Diskussion mit einem anderen Gast geriet. Dann passierte, was passieren musste. Sein Pflaster am Arm löste sich und alle starrten auf das, was zum Vorschein kam. Er wusste nicht, woher es kam und was es bedeutete, doch er wusste, dass er es versteckt halten sollte. Es war ein kleiner Fleck - ein nicht grauer Fleck - auf seiner Haut. Er konnte nicht wirklich sagen, wie er aussah, aber er stach deutlich aus dem Grau seiner Haut hervor. Die anderen starrten noch eine Weile, bis der Barmann sich zu Wort meldete. „Leute wie du sind hier nicht willkommen. Raus mit dir, Mark.“ Er drehte sich überrascht zu dem Barmann um. Meinte er das ernst? Er kam seit Jahren fast jeden Tag hierher. Doch die Faust, die in seine Richtung flog, verdeutlichte ihm die Situation. Er versuchte nicht einmal wirklich sich zu wehren und nach einigen weiteren Hieben landete er im grauen Dreck vor der Bar. Er wischte sich die dunkelgraue Flüssigkeit ab, die aus seiner Nase tropfte und blieb einfach an Ort und Stelle sitzen.
Dann verdeckte ein Schatten das Licht der Laterne vor ihm. Er konnte das Gesicht nicht sehen, doch die tiefe Stimme kam deutlich bei ihm an. „Ich
kenne einen Ort, der dir gefallen könnte.“ Mark lachte spöttisch. „Bestimmt.
Und er ist wunderschön grau, mit verschlossener Tür?“ Der Mann vor ihm deutete ein Kopfschütteln an. „Ich spreche von einem Ort hinter der Mauer.“ Wieder lachte Mark. „Ja bestimmt. Und ich spaziere einfach durch das große Tor, welches jeden durchlässt in das VERBOTENE Land hinter der Mauer.“ Warum ließ er sich überhaupt auf dieses Gespräch ein? Doch der Schatten fuhr unbeirrt fort. „Es gibt ein Loch in der Mauer, groß genug für einen Mann.“ Mark sagte nichts mehr, hörte aber der Beschreibung des Mannes zu. Er wusste, welchen Teil der Mauer er meinte. Dann war er plötzlich fort und die Laterne blendete erneut Marks Augen.
Schwerfällig und noch immer angetrunken, hievte er seinen Körper hoch und machte sich auf den Heimweg. Zuhause angekommen, setzte er sich mit einem weiteren Drink auf seine Terrasse. Er dachte über seine Eltern nach, wie sehr er sie vermisste. Dann kam ihm das Gespräch mit dem Schattenmann wieder in den Sinn.
Er starrte einen Moment lang starr in die Nacht, bis ein Entschluss in ihm reifte. Mit einem Ruck löste er sich aus seiner Starre und kippte den Drink in einem Zug hinunter. Er verzog kurz das Gesicht, dann stand er auf. Was hatte er zu verlieren?
Er musste ein wenig suchen, bis er die beschriebene Stelle fand.
Der Mann hatte Recht gehabt. Dort war das Loch. Doch war es wirklich so
einfach? Mark zuckte mit den Schultern und quetschte sich durch das Loch. Auch auf der anderen Seite der Mauer herrschte tiefste Nacht. Was hatte er erwartet? Er wartete einen kurzen Moment, doch nichts passierte. Er ging vorsichtig in den Wald, der sich vor ihm erstreckte. Niemand schien ihn aufzuhalten. Er war bereits ein ganzes Stück im Wald, als er das Knacken der Äste um ihn herum wahrnahm. Beschwipst oder nicht, er wusste, dass er nicht alleine war. „Ich weiß, dass du da bist. Zeig dich!“, rief er in die Dunkelheit. Zu seiner Überraschung trat tatsächlich eine Gestalt aus den Schatten. „Deine Sinne täuschen dich nicht, Fremder. Warum bist du hier?“ Diese Frage überraschte Mark ein wenig. Warum war er gekommen? Warum hatte er sich dem Gesetz widersetzt und war durch das Loch geschlüpft? Er sah die vermummte Gestalt vor sich an. „Ich weiß es nicht.“ Dieser nahm die Antwort ohne weitere Regung auf. „Wir bringen dich ins Dorf. Sie werden entscheiden, was wir machen.“ Erst jetzt bemerkte Mark, dass er umzingelt war. Schweigend folgte er dem Anführer.
Nach kurzer Zeit kamen sie auf eine kleine Lichtung, auf der einige Häuser um ein riesiges Lagerfeuer standen. Mark sah sich erstaunt um. Er war sich sicher, dass das Dorf deutlich größer war, als das, was man bei dem Schein des Feuers erkennen konnte. Irgendetwas machte Mark stutzig. Etwas stimmte hier nicht. Um das Feuer saß eine große Gruppe Menschen und unterhielt sich. Als sie näher kamen, verstummten die ersten. Sein Führer bedeutete ihm stehen zu bleiben und ging dann au die Gruppe zu. „Herr Bürgermeister. Wir haben einen Neuzugang von der anderen Seite der Mauer.“ Mark hörte, wie einige anfingen zu tuscheln, sogar die Luft scharf einatmeten. „Er soll vortreten“, sagte der Bürgermeister und Mark ging entschlossen nach vorne. Die Leute betrachteten ihn neugierig und auch er sah sich um. Das Gefühl, dass etwas nicht richtig war, verstärkte sich. Als niemand etwas sagte, brach er das Schweigen. „Ich weiß nicht was es ist, aber hier ist alles so anders. So seltsam.“ Der Bürgermeister sah ihn lächelnd an und nickte. „Farben mein Junge. Auf dieser Seite der Mauer ist alles farbenfroh und nicht nur grau.“ Mit großen Augen blickte Mark sich erneut um. Es war wunderschön. Dann riss ihn eine Stimme aus seinem Staunen. „Mark? Bist du das?“ Überrascht drehte er sich zu der Stimme. Sie gehörte einer jungen Frau. Er kannte sie nicht. Das hielt sie nicht davon ab auf ihn zuzustürmen. Sie riss seinen Ärmel hoch und legte den seltsamen Fleck frei. „Er ist es! Mark ist zurück!“ Ein aufgeregtes Tuscheln ging durch die Gruppe. Jetzt betrachtete ihn auch der Bürgermeister aufmerksam.
„Tatsächlich. Du bist so erwachsen geworden.“ Alle sahen ihn lächelnd an. er
fühlte sich ein wenig unwohl bei dieser ganzen Aufmerksamkeit. Er wollte etwas sagen. Er wollte so viele Fragen stellen, als der Bürgermeister das Wort ergriff und es ihm erklärte. „Du bist vor Jahren schon einmal durch das Loch in der Mauer zu uns gekommen. Doch wer bei uns bleiben möchte, muss alles und jeden jenseits der Mauer für immer hinter sich lassen. Du bliebst eine Weile, doch konntest es nicht ertragen, deine Eltern zurückzulassen.“ Mark blickte auf den Fleck auf seinem Arm. Der Bürgermeister folgte seinem Blick. „Ja, dieser Fleck stammt von deiner Zeit hier. Als du in deine Welt zurück gingst, mussten wir jegliche Erinnerung über uns und dieses Land löschen.“ Mark sah ihn an und verarbeitete diese Informationen. „Und doch bist du wiedergekommen. Sag mir mein Junge, was ist passiert?“ Mark brauchte einen Moment. Es überrannten ihn so viele Gedanken und Emotionen. „Meine Eltern sind tot“, brachte er leise hervor. „Das tut mir unendlich leid mein Junge“, erwiderte der Bürgermeister. Dann hellte sich seine Miene etwas auf und er legte die Hand auf Marks Schulter. „Du hattest schon immer eine Familie hier. Wenn du möchtest kannst du bleiben.“ Mark dachte an seine Eltern. Jetzt wo sie fort waren, hielt in nichts mehr in diesem endlosen Grau. Er nickte. Er würde hier bleiben, in diesem freundlichen, farbenfrohen Land.
Er fühlte sich endlich zuhause.