Pawel Ljugaschek, Warschau, 17:21 Uhr Ortszeit
Noch immer befindet er sich im Skype-Gespräch mit Dasha. Und selbstverständlich sind ihm sämtliche technischen Details längst klar, doch lässt er sie sich noch einmal und sehr gerne von der betörenden Polin erläutern. Da sie mitnichten auf den Kopf gefallen ist, glaubt er fest daran, dass sie ihm bereits auf die Schliche gekommen ist und nur aus demselben Grunde geduldig und mit einem bezaubernden Lächeln alle seine Fragen beantwortet.
Fast möchte er meinen, dass sich heute zwischen ihnen ein besonderes, beinahe schon physisches Gefühl aufbaut. Geradezu elektrisierend! Faszinierend beobachtet er, wie sich seine Härchen an den Unterarmen aufstellen. Nur so fühlt sich echte Zuneigung an!
Dashas Stimme verliert sich im Rauschen, ihr Gesicht verpixelt, friert schließlich ein. Nicht doch! Dieses ständig überlastete WLAN nervt ihn gewaltig!
Bevor er seine Gedanken fokussieren kann, fällt die Beleuchtung aus. Zeitgleich gibt das Notebook seinen Geist auf. Ungläubig starrt er auf den dunklen Monitor und fragt sich, was er verbrochen haben könnte, dass ihm das Schicksal auf diese Art und Weise straft.
Dana Whiteham, Boston, 11:21 Uhr Ortszeit
Missmutig stöckelt sie in den Außenlift und wählt das Erdgeschoss. Ihr Chef hat seine Menschlichkeit heute wohl beim Sicherheitspersonal im Foyer abgegeben. Mehrmals brachte er sie innerlich zur Weißglut. Nun benötigt sie, um ihr liebenswürdig-gleichgültiges Business-Lächeln nicht zu verlieren, einige Minuten Auszeit.
Der Lift saust abwärts. Strahlendes Sonnenlicht fällt in die Kabine. Streichelt die geschundenen Nerven. Im verführerischen Säuseln der Klima-Anlage findet Dana allmählich zurück zu ihrer Professionalität. Wenn sie jetzt noch einen dieser unsagbar leckeren Hot Dogs von dem Würstchenstand direkt vor ihrem Büroturm ergattern kann, von dem jeder Bissen etwa so viele Kalorien wie eine vollwertige Mahlzeit besitzt, ist sie wunschlos glücklich!
Ist es die Vorfreude, die ihre Haut plötzlich kribbeln lässt? Dana spürt die Elektrizität in der Luft.
Als die 23. Etage vorbei saust, fällt Licht und Klima-Anlage aus. Der Lift kommt ratternd und zuckend zum Stehen.
War ja klar!
Mit steigendem Puls und pochender Schläfe hämmert sie auf die Sprechtaste des Notfallsystems ein. Keine Reaktion. Ihr Handy; tot. Ihr gelingt es nicht mehr, den aufkommenden Wut-Ausbruch wegzulächeln.
Ikaru Kujabashi, Tokio, 0:21 Uhr Ortszeit
Mit einer Schale dampfender Instant-Nudeln kehrt er aus seiner winzigen Küche zu seinem Schreibtisch im nicht minder weitläufigen Wohnzimmer zurück. Obgleich kein Licht brennt, ist es hervorragend durch die beiden Monitore, den laufenden Fernseher und Tokios bunter Nachtbeleuchtung erhellt. Bevor er sich in seinen sündhaft teuren ergonomischen Stuhl fallen lässt, schweift sein Blick über die Lichter des alten Edo. Er bereut keineswegs, dieses kleine Apartment in der 89. Etage trotz des abschreckenden Preises genommen zu haben. Dieser phantastische Ausblick ist es ihm wert! Routiniert schaufelt er die Nudeln in sich hinein. Als Zwischendurch-Snack taugen sie allemal. Allmählich triften seine Gedanken zurück zu seiner Arbeit. Es gilt, ein verzwicktes Problem zu analysieren und in funktionsfähigen Code zu gießen.
Ikaru macht es sich in seinem Stuhl bequem, seine Hände schweben bereits über der Tastatur, bereit, ihren Teil zur Lösung der Aufgabe beizutragen. Jedoch geschieht nichts dergleichen. Mit Erstaunen beobachtet Kujabashi, wie sich die Härchen auf seinen Armen aufstellen und die Luft vor Elektrizität knistert. Aus den Augenwinkeln heraus meint er, ein Aufleuchten am Horizont zu sehen. Kurz nur, für den Bruchteil eines Augenblickes. Zwischen seinem rechten Zeigfinger und der Tastatur findet eine elektrostatische Entladung statt. Ikaru zuckt überrascht zurück. Gleichzeitig fallen sämtliche elektronischen Geräte aus. Fernseher, Computer, Monitore. Sein Handy in der Ladeschale. Die Zeitanzeige über der Tür zur Küche. Mit offenem Mund beobachtet er, wie sich Tokio bezirksweise abschaltet.
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An jenem Tag trat ein nicht erfasstes Objekt in die Erdatmosphäre ein. Etwa 300 Kilometer nördlich von Longyearbyen/Spitzbergen explodierte es um 17:21 Uhr Ortszeit in den oberen Luftschichten und löste einen elektro-magnetischen Puls ungeahnter Intensität aus, der sämtliche ungeschützte elektronischen Systeme innerhalb von Sekunden unwiederbringlich zerstörte.