David balancierte freihändig auf der schmalen Mauer entlang.
Der 12-Jährige pfiff eine kecke Melodie und hüpfte übermütig über kleinere Kieselsteine, die ihm im Weg lagen.
Susanne konnte nicht hinsehen, wie ihr Klassenkamerad sich da so unbedacht in Gefahr brachte.
Jeden Tag zog er diese Show ab, wenn sie von der Schule nach Hause gingen.
Sie waren Nachbarn.
Da war es nur natürlich, den gleichen Weg nach Hause zu nehmen.
Susanne war genervt.
Warum war er nur so ein leichtsinniger Luftikus?
Sie fühlte sich, als wäre sie seine große Schwester, die immer auf ihn aufpassen muss.
Dabei war sie die Jüngere.
Sie richtete den Blick starr zu Boden und lief links von der Mauer auf dem Gehsteig nebenher.
Das Rauschen des breiten Flusses drang von der anderen Seite herüber. Durch den starken Regen der letzten Tage war aus dem sonst harmlos dahinfließenden Gewässer ein reissender Strom geworden.
David war ganz in seinem Element. Grinsend bewegte er sich vorwärts.
So sicher, wie ein Seiltänzer im Zirkus.
Nur hatte er kein Netz, das ihn auffangen würde.
Aber genau darin bestand schließlich der Reiz.
Er war mutig und furchtlos. Susanne sollte das sehen.
Aber die sah immer nur nach unten und bemerkte ihn gar nicht.
Doofe Ziege.
Plötzlich schrie David und wachelte wild mit den Armen.
Susanne blieb fast das Herz stehen.
Der blonde Junge tat so als bekäme er das Übergewicht und wäre drauf und dran ins Wasser zu stürzen.
In letzter Sekunde dachte das Mädchen an seinen langen Stockschirm und hielt ihn David hin.
Der griff im Reflex danach und wurde mit einem Ruck von Susanne auf den Gehsteig befördert.
Heftig und schnell atmend saßen sie beide am Boden.
Der Junge war schwer auf Susanne gelandet, die den Tränen nahe war. David hatte sich die Kniee aufgeschlagen.
Er biss die Zähne zusammen, damit Susi nichts von seinen Schwerzen mit bekam. Nervös fing er an zu lachen.
Er war noch nie einem Mädchen so nahe gekommen und irgendwie fühlte sich das komisch an.
Susanne dagegen war einfach nur sauer.
"Geh endlich von mir runter, du Idiot! Du bist schwer!"
Sie schob ihn beiseite, stand auf und ging weiter.
David erhob sich ebenfalls.
Er begutachtete seine blutigen Kniee und rieb Spuke auf die aufgeschrammten Stellen. Ieehh! Das brannte vielleicht.
Nachdem er seine überall verstreuten Sachen wieder in den Schulranzen gepackt hatte, lief er seiner Klassenkameradin schnell hinterher.
"Hey, warte auf mich, Susi!"
Die Schwarzhaarige dachte nicht daran.
Also musste David rennen um sie einzuholen.
Bei ihr angekommen, musste er erst mal tief durchatmen.
Die Kniee stachen und brannten wie verrückt, aber das merkte er fast gar nicht.
Denn als er so tief durch schnaufte, nahm er zum ersten Mal den Geruch von Susannes Haaren wahr.
Da war es wieder. Dieses komische Gefühl.
David wurde ganz flau im Magen und er spürte, wie sein Gesicht ganz heiss wurde. Was war das nur?
"Wenn du sowas nochmal machst, kannst du künftig alleine nach Hause gehen."
Susanne war immer noch sauer. Jungs.
Immer mussten die so angeben und zeigen, wie toll und stark sie sind.
Dass sie sich jedes Mal riesige Sorgen um ihn machte, interessierte ihn ja nicht. Sie hatte die Schnauze voll.
Egal wie süß sie ihn eigentlich fand.
Dieser Luftikus hatte seinen Kopf ohnehin nur in den Wolken und würde wohl nie bemerken, was sie für ihn empfand.
_____________________________
Ohje. Ob die beiden es wohl schaffen, sich irgendwann gegenseitig ihre Gefühle zu gestehen? ;)