Es war später Morgen, als er die Tür zum Café öffnete. Dieser altbekannte Geruch stieg ihm in die Nase. Diesen Geruch, den er seit bald 30 Jahren kannte. Er tat, was er jeden Tag tat. Sich um zu korrigierende Klausuren kümmern, sich an richtigen Antworten erfreuen und manchmal auch an "interessanten Interpretationen", wie er die Fehler und Stilblüten seiner Schüler nannte. Er bestellte den gleichen, schwarzen Kaffee wie jede Woche und setzte sich an den gleichen Tisch. Mit dem gleichen Stift wie schon letzte Woche fing er an, zu korrigieren. Ein paar Tische weiter saß die alte Frau Meierling, wie jeden Tag. Seit ihr Mann verstorben war, saß sie praktisch nur noch hier. Im Radio liefen die gleichen, knisternden Lieder, die schon die letzten 30 Jahre aus dem mindestens ebenso alten Gerät kamen. An der Tapete klebten die gleichen Flecken wie immer, in der Luft hing der gleiche, leichte Zigarettenqualm. Alles war, wie sonst auch. So sehr er seinen Job auch mochte, es wurde ihm mit der Zeit zu viel. Tag ein, Tag aus, die gleichen Aufgaben, dasselbe graue Einerlei, seit 30 Jahren. Manchmal dachte er daran, zu kündigen und einfach in Frührente zu gehen. Das Leben genießen. Tun, wozu er Lust hatte, wann immer er wollte.
Die Klingel läutete, als die Tür zum Café geöffnet wurde. Ein Mädchen trat ein, kaum älter als 16. Er erkannte sie, wusste aber nichts Genaueres mit ihr anzufangen. War sie eine seiner Schülerinnen? Woher sonst kennt er Mädchen dieses Alters? Das Mädchen bestellte sich einen Kaffee und setzte sich an den Tisch neben seinem. Obwohl er sich ursprünglich nur auf die Klausuren konzentrieren wollte, ließ ihm die Ungewissheit keine Ruhe.
"Entschuldigen Sie, ich habe das Gefühl, dass ich Sie kenne, aber ich komm´ nicht drauf, woher", fing er das Gespräch an. Sie lächelte.
"Herr Mohn, ich bin in ihrem Deutschkurs, wir sollten uns kennen", erwiderte sie kichernd.
"Allerdings im Zusatzkurs, den Sie so selten haben"
"Ah, stimmt genau. Du bist dann..."
"Monika. Monika Winter."
"Habe ich Sie hier schon einmal gesehen, Monika?"
"Ich denke nicht, nein. Ich bin heute zum ersten Mal hier"
Er schaute auf die Klausuren. "Nun, was hat Sie bewegt, hierher zu kommen? Grundsätzlich trifft man hier vor allem Leute, die ein oder zwei Generationen älter sind..."
Sie lächelte und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Er fragte sich, woran sie gerade dachte. Sie las keine Zeitung, machte keine Schulaufgaben, fummelte nicht an ihrem Handy herum, nichts. Sie saß einfach nur da und genoss ihren Kaffee. Also machte er sich wieder an seine Klausuren. Es ging um die Persönlichkeit und die Psyche des Künstlers Pablo Picasso. Seine Kunstklausuren waren oftmals noch amüsanter als seine Deutschklausuren, aber bei diesem Thema mitsamt all seiner Tragik war ihm nicht nach Lachen zumute.
"Ah, verdammt!", fluchte er, als er merkte, dass er in der Zusammenrechnung der Punkte einen Fehler gemacht hatte. Monika guckte auf.
"Ist was, Herr Mohn?", fragte sie.
"Nein nein, nur ein kleiner Fehler. Mist!"
"Sie wirken angespannt" Er war überrascht. Wirkte er tatsächlich so angespannt? Wieso ist es ausgerechnet ihr aufgefallen?
"Ja, es macht mich gerade alles fertig. Ich weiß nicht, eigentlich mag ich meine Arbeit aber...", antwortete er mit einem Seufzen.
"Aber?", hakte sie nach.
"Es wird mir zu viel. Ich verbrachte so viel Zeit damit, Lehrer zu sein, und mir machte es nie etwas aus. Jetzt, wo auch der Körper nicht mehr so ganz mitspielt frage ich mich, wann ich ich sein kann. Mit 70, in Rente?"
"Wie wäre es mit bald?", fragte das Mädchen.
"Jetzt? Jetzt bin ich Lehrer, das ist mein Job!"
"Wenn es Sie nicht ausfüllt..."
"Aber ich bin auch finanziell davon abhängig! Was soll ich ohne das Geld tun? Ich muss Kredite zahlen, Essen kaufen, Sprit ist nicht billig. So viele Kosten, die ich decken muss!"
"Was sollen Sie mit Geld tun? Ohne Zeit, um es zu nutzen?" Er wusste nicht, was er antworten sollte.
"Ich..."
"Gar nichts. Wollen Sie, wenn ihre Zeit gekommen ist, der reichste Mann auf dem Friedhof sein? Oder der, der aus seinem Leben am meisten gemacht hat? Was bringt Ihnen Geld, wenn es keinen Spaß macht. Darum geht es doch, oder?"
Er musste sich eingestehen, dass er sich im Moment blöd vorkam. Unterrichtet werden von einem pubertierenden Mädchen? Auf der anderen Seite hatte sie recht. Wann hatte er das letzte Mal etwas für sich getan? Wie viele Jahre, Jahrzehnte, liegt der letzte Urlaub mit seiner Frau zurück? Wie viele Jahre das letzte gemeinsame Picknick, das letzte romantische Abendessen? Sein Job hatte sein Leben bestimmt. Doch das sollte sich nun ändern.
"Danke dir, Liebes.", sagte er und erhob sich.
"Kein Problem, Herr..."
"Friedrich. Nenn´ mich Friedrich."
"Na dann, viel Freude, Friedrich!" Sie lächelte und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. Er winkte ihr noch hinterher, als er sein Auto betrat. Ein halbes Jahr Freizeit mit seiner Frau, das war, was er jetzt brauchte. Danach könnte er weitersehen...
6 Monate später...
Er betrat das Klassenzimmer mit einem breiten Lächeln im Gesicht. So hatten ihn seine Schüler noch nie gesehen. Trotz der sechsmonatigen Pause konnte er sich jetzt auch die Namen seiner Schülerinnen und Schüler merken, seine Kurse und Termine. Er fühlte sich befreit, seitdem er sich die Auszeit genommen hatte.
"Zusatzkurs Deutsch, ich verstehe. Wo sind Sie im Moment? Haben sie Goethes Faust schon besprochen?" Viele Schüler schüttelten den Kopf.
"Gut, dann wird das jetzt unser neues Thema. Sind überhaupt alle anwesend?"
Er ging die Klassenliste durch.
"Sabrina Thomas?"
"Hier!"
"Manuel Vogelsang?"
"Hier!"
Er hielt einen Moment inne.
"Monika Winter?" Eine Schülerin stand auf und ging zu ihm ans Pult. Sie bedeutete ihm, ihr zu folgen. Sie standen nun gemeinsam vor dem Klassenraum, das Gesicht der Schülerin bleich wie Schnee.
"Sie haben es noch nicht mitbekommen?", fragte sie mit leiser, zitteriger Stimme.
"Was mitbekommen? Was ist los?" Er war sichtlich besorgt.
"Moni hat sich... vor 5 Monaten schon... Mo... man... man hat sie in ihrem Zimmer gefunden... mit... Moni hat sich das Leben genommen."