Zuhause angekommen öffnete Tatjana die Türe und gefror mitten in der Bewegung.
Vor ihr stand Franziska, ihre Mitbewohnerin. Nackt.
Geistesgegenwärtig zog Tatjana schnell die Haustüre hinter sich zu.
"Was machst du denn? Wieso bis du nackt?"
Franziska sah an sich herunter, zählte im Geiste die Speckringe am Bauch, nahm Notiz vom Muttermal in Form einer Mandel, das an ihrem rechten Oberschenkel prankte und gelangte endlich zu den großen Füßen mit den langen Zehen.
"Ich weiß auch nicht. Mir war danach, mir selbst mal wieder meine schonungslose Wahrheit zu zeigen." Sie deutete auf den großen Spiegel an der Garderobe.
"Und was ist diese schonungslose Wahrheit?"
Tatjana dachte mit Unbehagen an ihre eigene Figur:
klein, flachbrüstig, breite Oberschenkel und dazu dieser hässliche Fleck, der ihr am Bauch nach einer überstandenen Hautkrankheit geblieben war.
Sie beneidete Franziska um ihre weiblichen Kurven und ertrappte sich dabei, diese unverhohlen zu mustern.
Franzi lächelte.
"Das ich nicht perfekt bin. Und es niemals sein werde.
Aber alles in allem bin ich doch ein echter Blickfang, findest du nicht?"
Sie posierte in verschiedenen Stellungen, die ihre Brüste und den wohlgeformten Po zur Geltung brachten.
Tatjana lachte.
"Na auf jeden Fall. Wenn ich lesbisch wäre, würde ich dich glatt anflirten."
"Danke. Erfolglos, wie ich fürchte. Ich steh definitiv auf Männer."
Franziskas Mundwinkel zogen sich auf einmal nach hinten und ihre weißen Zähne blitzten auf.
"Nein. Oh nein! Ich kenne dieses Grinsen sehr genau. Das kannst du vergessen!"
Schnell schlüpfte Tatjana an ihrer Mitbewohnerin vorbei.
Sie lief in die Küche und holte den großen Kochlöffel aus dem Schub, um sich Franziska vom Hals zu halten, die ihr lachend und immer noch nackt hinterher lief.
"Ach komm schon! Das ist unfair.
Du hast mich jetzt ohne Kleidung gesehen. Gleiches Recht für alle!"
"Niemals! Ich hab nicht darum gebeten, dich nackt zu sehen. Warum sollte ich es also tun?" Ihre Stimme überschlug sich und war ganz schrill geworden.
Franziska trat sofort einige Schritte zurück.
"Entschuldige. Ich wusste nicht, dass das ein so sensibles Thema für dich ist. Wenn du nicht willst, dann musst du selbstverständlich nicht.
Ich dachte, es würde dir gut tun. Mir hat es immer geholfen, mich selbst so zu akzeptieren wie ich bin.
Ich geh mich anziehen. Tut mir leid, dass ich dir damit zu Nahe getreten bin."
Im Hinausgehen drehte sich Franziska nochmal um.
"Hey."
Tatjana hatte den Kochlöffel auf der Herdplatte abgelegt und sah auf. Sie zitterte.
"Wenn du mal drüber reden willst, sag bescheid."
Tatjana nickte nur.
Als Franziska aus der Küche draußen war, sank Tatjana auf den Boden, umklammerte ihre Kniee und begann lautlos zu Schluchzen.
"Ieh! Was hast du denn da? Ist da ein Bräunungsexperiment schief gelaufen?"
"Siehst du wie klein ihre Brüste sind?"
"Gott, ist die hässlich..."
"Kuck dir mal den Birnenarsch an. Hahaha!"
Die Stimmen in ihrem Kopf wollten nicht aufhören.
Sie lachten sie aus. Beschimpften sie, lästerten.
Aber dann drängte sich eine neue Stimme nach vorn.
Sie schubste die anderen weg und pflanzte sich groß vor ihr auf.
"Ich bin nicht perfekt." Sagte diese Stimme.
"Und ich werde es niemals sein.
Aber alles in allem bin ich doch ein echter Blickfang, findest du nicht?"
"Schöne Haare!"
"Wow, hast du tolle Arme, ich bin echt neidisch."
"Hey, coole Haarfarbe! Passt super zu deinen Augen."
"Dir steht dieses Kleid echt super,
du hast die perfekte Figur für sowas."
Immer mehr Komplimente kamen aus Tatjanas Erinnerung zu ihr.
Und mit jedem neuen Gedanken streifte sie eines ihrer Kleidungsstücke ab.
Schließlich ging sie nackt in den Flur und stellte sich vor den Spiegel.
Sie lächelte sich an.
Die Tränenspuren auf ihrem Gesicht fühlten sich kalt an, also wischte sie sie weg.
"Ich bin nicht perfekt. Und ich werde es niemals sein." Flüsterte sie.
"Aber ein echter Blickfang bist du allemal." Franziska schaute Tatjana an und lächelte ebenfalls.