Als Oma Evelyn noch ein kleines Mädchen war, lief sie oft durch die Wälder ihrer Nachbarschaft, vorbei an Ruinen mit unbekannter Geschichte, stehenden Tümpeln, an dem die Libellen wie Fabelwesen tanzten, und einem tiefen, dunklen See, in dem sich Nachts die Sterne spiegelten. Man kann sich fragen, warum ein kleines Mädchen wusste, das sich in irgendeinem See die Sterne im klaren Wasser zeigten, anstatt das es sicher zuhause behütet nachts im Bett lag. Und das ist eine ganz interessante Geschichte, die man mir erzählte:
Evelyn war 6 Jahre alt, zu dieser Zeit, vielleicht 7. Der erste Weltkrieg war gerade ausgebrochen, aber davon wusste Evelyn noch recht wenig. Sie lebten nicht in Berlin, nicht in den großen Städten, nicht an den Küsten, sondern in einer dunklen, schönen Gegend nahe des Schwarzwaldes. Ihre Familie war, wie das ganze Land, von Armut geplagt und hatte sich hier, einer schwachen Hoffnung gefolgt, bei ihrem Großeltern auf einem alten Gutshof Schutz gesucht, wo sie jeden Tag frische Eier und Löwenzahn aßen. Dies war lange bevor mächtige Jericho-Trompeten die Luft zum heulen brachten, bevor ihre Ladungen den Boden erzittern ließen.
Evelyn würde davon bis Jahrzehnte später nichts wissen, und sie wusste auch als Kind nichts davon. Politik kümmert ein kleines Mädchen nicht, das viel mehr daran interessiert ist, sich die Kleider im Spiel dreckig zu machen.
Und so geschah es, das eines Nachts Evelyn nicht schlafen konnte. Sie tappste zu ihrem Eltern, die im gleichen Zimmer schliefen wie sie, doch die beiden waren so müde. Also ließ Evelyn sie schlafen. Sie hatten den ganzen Tag gearbeitet, dass konnte sie verstehen. Da hörte sie plötzlich eine Stimme am Fenster, heimlichtuerisch geflüsterte Worte. "Evelyn, Evelyn, komm zu mir! Ich möchte dir etwas zeigen!" Mutig traute sich Evelyn, ans Fenster zu tretten, und draußen flirrte ein kleines Irrlicht. Sie begrüßte es freundlich, aber es hörte sie gar nicht, so aufgeregt war es. "Evelyn, Evelyn, siehst du den See dort, an der Bergeskuppe? Dort wird heute Nacht ein Stern vom Himmel fallen! Du musst ihn unbedingt fangen! Schnell, schnell, hol deine Schuhe!" Doch Evelyn hatte Angst, sich nachts in den Wald zu begeben, ganz ohne ihre Eltern, und da hatte sie auch Recht mit. Doch das Irrlicht drängte sie erneut. "Evelyn, Evelyn, komm doch, schnell! Das Sternenstück wirst du brauchen, sonst wirst du deinen Lebtag nicht mehr froh!"
Da bekam Evelyn es mit der Angst zu tun, den froh wollte sie doch den ein oder anderen Tag mal sein. Somit zog das kleine Mädchen ihre Schuhe an und folgte dem Irrlicht in den Wald.
Sie lief schnell, und die Äste schlugen ihr ins Gesicht und gegen die erhobenen Hände, und ratschten ihr die weiche Haut auf. Auch konnte sie kaum was sehen, denn das Irrlicht war so viel schneller als sie, und dann kam es so, dass sie über eine erhobene Wurzel stolperte, und in der Dunkelheit einen Schuh verlor. "Irrlicht, warte!" Rief sie dann "Ich kann nicht mehr weitergehen! Mir bluten die Arme, und ich verlor meinen Schuh! "
Da huschte das Irrlicht zurück und sprach ihr Mut zu. "Evelyn, Evelyn, sorge dich nicht! Deine Wunden werden verheilen, und dein Fuß ist auch noch dran, aber ein Sternenstück fängt man nur einmal im Leben!"
Da stimmte Evelyn dem Irrlicht zu, sie hatte ja noch nicht einmal ein Sternenstück gesehen im Leben, geschweige denn gefangen. Und somit fasste sie neue Hoffnung und lief weiter.
Doch der Wald war immer noch dunkel und kalt, und aus jeder Richtung ertönten die merkwürdigsten Geräusche. Schwarze Schatten huschten durch die Bäume, von grässlichen Kreaturen, die sie mit Haupt und Haar fressen wollten, da bekam Evelyn es mit der Angst zu tun.
So rief sie wieder "Irrlicht, warte doch!" und das Irrlicht wartete, auch wenn es dabei sehr ungeduldig war. "Ich glaube wir sind hier nicht sicher! Schau nur! All diese Schatten! Irrlicht, lass uns zurück gehen!" Das Irrlicht verschwand einmal kurz zwischen den Bäumen, und ließ die arme Evelyn ganz allein zurück, als sich die Schatten nach ihr streckten und Anstalten machten, sie an ihren Rocksaum und ihren Beinen zu packen. Da kam das Irrlicht auch schon wieder, und verbannte die Schatten mit seinem sanften Licht. "Evelyn, Evelyn, in den Gebüsch und in den Bäumen sind nichts als Zweige, die mit meinem Licht Schattenspiele spielen. Jedes Tier ist längst geflohen, den heute Nacht fällt ein Stern vom Himmel."
Da fing Evelyn wieder an zu laufen, ja richtig, das Sternenstück! Hoffentlich waren sie nicht zu spät!
Als Evelyn am See ankam, sah sie die tausenden Sterne des Himmels über ihr, gespiegelt im Wasser wie eine zweite Weltentracht. Das Irrlicht flirrte geschwind über das Wasser und hüpfte dort auf und ab wie eine Jungschwalbe im ersten Flug. "Evelyn, Evelyn, komm folge mir auf den See!" rief es "Vom Ufer wirst du das Sternenstück niemals fangen können!" Da bekam es Evelyn wieder mit der Angst zu tun, denn sie war niemals eine gute Schwimmerin gewesen. Doch diesmal rief sie nicht nach dem Irrlicht, den sie sah schon die Sternschnuppe am Himmel, die sich ins Tausende zersplitterte und den Äther mit ihren Licht und Menschenwünschen füllte. Sie fasste sich ans Herz, und mit einem mutigem Sprung lief sie auf den See, dessen Oberfläche wie ein mit Samt bezogenes Wasserbett unter ihr schwappte.
So lief sie auf dem Himmelsgewölbe selbst, und entfang mit offenen Armen das Sternenstück, hielt es sich an die Brust, heiß und funkelnd, und dann war es auch schon fort, und hinterlies einen kleinen Kometen in Evelyn's Händen.
"Das ist dein Hoffnungsschimmer" : sagte das Irrlicht damals "Du darfst ihn niemals verlieren." Sagte meine Oma zu meiner Mutter, und meine Mutter zu mir, als sie mir das kleine Kettchen mit dem Kometenstein überreichte.
Und jetzt habe ich euch die Geschichte des Kindes erzählt, das über den Himmel lief, um ein Stück Hoffnung zu fangen.
Werdet ihr wohl eines Nachts euren eigenen Hoffnungsschimmer fangen?