Das Meeresrauschen war nicht laut genug, um die wimmernden Schreie der Frau zu übertönen. Genervt versuchte er, sie zu ignorieren, während er auf den nie enden wollenden Ozean blickte. Die Möwen kreisten über dem Kreuzfahrtschiff, dessen Maschinen schon vor Wochen ausgefallen waren. Ob man sie suchte? Er wusste es nicht. Er hatte sich abgefunden damit, dass dieser Kahn sein Grab werden würde, wie das der vielen anderen Menschen.
Zuerst hatten alle noch versucht, zivilisiert miteinander umzugehen, man hatte sich beschwichtigt, versucht zu beruhigen. Gehofft, gebetet, nein, man war überzeugt gewesen, dass der Veranstalter das Schiff würde suchen lassen und sie bald alle gerettet sein würden. Doch inzwischen waren die Tage wie zu einem einzigen verschmolzen und keine Rettung war in Sicht. Sie waren verloren auf See und würde man sie finden, wäre es für die Passagiere und die Besatzung längst zu spät.
Das Schreien der Möwen hatte sich an das Gejammer der Frau angepasst und angewidert rümpfte er die Nase. Alles hier stank nach Tod und Pisse. Die Leichen derjenigen, die sich vor Verzweiflung umgebracht oder sich in sinnlosen Kämpfen um einen lächerlichen Cracker gegenseitig erschlagen hatten, waren von den Anderen einfach über Bord geworfen worden. Das schiffseigene Krankenhaus und die dazu gehörende Leichenkühlkammer waren unbrauchbar geworden, als die Elektrizität den Geist aufgab. Und im selben Tempo, wie die Lebensmittel und das Wasser verdarben, starben auch die Passagiere. Mord wegen Kleinigkeiten wie einer Limo waren an der Tagesordnung, manche verschanzten sich mit in harten Kämpfen erbeuteten Vorräten und die Ordnung, die Gesetze der menschlichen Zivilisation waren außer Kraft gesetzt. Der Kapitän war tot. Es gab niemanden, mit Ausnahme der Kinder womöglich, der kein Blut an den Händen hatte.
Er seufzte erneut und sah in den azurblauen Himmel. Diese Kreuzfahrt hatte der Höhepunkt seines Lebens sein sollen. Er war noch jung, doch er war überzeugt davon gewesen, dass er, wenn er nur einmal eine solche Reise gemacht hatte, niemals wieder etwas Besseres erleben würde. Welche Ironie doch darin steckte. Denn er würde hier sterben. Sein Wunsch, seine Prophezeiung hatte sich erfüllt!
Die Frau wimmerte noch immer, gequält und elend klangen ihre abgehakten Schreie, wie ein Vogelbaby, das aus dem Nest gefallen war und sich die Flügel gebrochen hatte. Es zerrte an den Nerven des Mannes, der nur in Ruhe auf den Ozean blicken wollte! Er wollte noch ein letztes Mal mitansehen, wie das helle Blau des Himmels dunkler wurde, bevor der unsichtbare Maler einen Hauch von Violett darüber legte und der Abend kam. Mit verkniffenem Gesicht wandte er sich von der Reling ab und schritt durch den Unrat und die demolierten Liegen zu der am Boden liegenden Frau hinüber. Abschätzend musterte er sie. Ihre Leibesfülle musste beträchtlich gewesen sein, als sie auf das Schiff gekommen war, denn ihre Haut wirkte wie ein ledernes Laken, faltig und viel zu groß.
Er hasste sie. Sie und alle anderen hier. Er wünschte, er hätte sich für eine Wandertour durch die Berge entschieden. Oder einen Flug auf die Bahamas. Wenn da etwas passiert wäre, wäre er wenigstens gleich tot gewesen, anstatt einer ehemals fetten Wachtel beim Sterben zuzusehen. Entschlossen stemmte er seinen Schuh gegen ihre Schulter und schubste sie in den verdreckten Pool, der stank wie ein Tümpel und dessen grüne Algenablagerungen so dick waren, dass die Frau beim Hineinfallen ein regelrechtes Loch hineinriss.
Trotz ihrer Schwäche schien sie kämpfen zu wollen und so legte er ihr die Hand auf den Kopf und drückte sie unter Wasser. Ihr Widerstand brach schließlich und mit dem Gesicht nach unten trieb sie in der Brühe, die bei Beginn der Reise so wunderschön, klar und türkisblau gewesen war.
Er seufzte, erhob sich wieder und trat zurück an die Reling. Ruhe erfüllte ihn, nur unterbrochen vom Rauschen des Meeres, dem Schreien der Möwen und dem feinen Säuseln des warmen Sommerwindes.