Ich trat auf die grauen Steinstufen und mit jedem Schritt wurde mein Herz schwerer. Meine Augen waren auf den Boden gerichtet, denn ich wollte es nicht sehen. Ich wollte nicht sehen wie leer das Haus in welchem ich groß wurde nun war. Bevor ich durch die dunkle Holztüre trat, stützte ich mich am Türpfeiler ab. Meine Finger strichen über das alte Holz, ein Splitter bohrte sich in meine Haut und ich zog die Hand zurück. Dann atmete ich noch einmal tief durch und betrat schweren Herzens das Haus. Mein Blick wanderte durch den Raum. Ich sah mich als Kind durch den Flur ins Wohnzimmer stürmen, auf die Sessel zuspringen und in die Arme meines Vaters springen. Mir entwich ein Seufzer. Ich ging weiter, auf den Flur hinaus, geradeaus durch die nächste Tür. Die Küche. Hier sah ich meine Mutter am Tresen stehen und mich einen halben Meter tiefer, mit Mehl in Gesicht und Haaren. Meine Mutter lachte, als sie mich so sah, holte einen Hocker, damit ich auch auf den Tisch sehen konnte. Die erste Träne kullerte meine Wange hinunter. Als ich zurück in den Flur trat und mit feuchten Augen die hölzerne Treppe hinaufsah, wurde mir bewusst, wie unglaublich mir meine Eltern fehlten und auch wie sehr ich dieses Haus vermissen würde. Traf ich die richtige Entscheidung mit dem Verkauf? Erneut versuchte ich mich zusammenzureißen und trat auf die erste Stufe. In dieses Haus waren meine Eltern kurz nach ihrer Hochzeit eingezogen. Die zweite Stufe. Hier hatten sie zwei Jahre gelebt, bevor sie die glückliche Nachricht der Schwangerschaft bekamen. Die nächste Stufe. Dieses Haus war vom ersten Tag meiner Geburt an mein Zuhause gewesen. Eine weitere Stufe. Ich bin jeden Tag nach der Schule hierher zurück gekommen. Die halbe Treppe geschafft. Ich habe hier gelacht und geweint. Wir haben gestritten und uns versöhnt. Noch eine Stufe. Meine Eltern haben unzählige Hochzeitstage, ich alle meine Geburtstage hier gefeiert. Noch eine Stufe. Bis ich auszog war das hier mein Zuhause. Und ich kehrte immer hierher zurück, sobald es etwas gab, das mich aus der Bahn warf und mein Lebensschiff zum Schwanken brachte. Hier erwartete mich immer eine heiße Tasse Tee und eine liebevolle Umarmung. Alles was ich nötig hatte.
Inzwischen war ich oben angekommen. Ich fühlte mich nicht stark genug die Schlafzimmer anzusehen und auf eventuell zurückgebliebene Eigentümer zu überprüfen. Also stellte ich mich auf meine Zehenspitzen und griff nach oben. Dort klappte ich die Leiter zum Dachboden herunter und stieg nach oben. Ich erwartete hier nicht allzu viel, höchstens ein paar Kisten voller Deko oder Erinnerungen an meine Großeltern, die hier verborgen geblieben waren. Doch stattdessen fand ich etwas ganz anderes. In einer einzigen Kiste unter all den Spinnweben und dem Staub, fand ich weiße Orchideen. Natürlich keine echten, die hätten hier wohl nicht all die Jahre überlebt, aber es waren die Orchideen, die die Hochzeit meiner Eltern und den Brautstrauß geschmückt hatten. Ich sank auf die Knie und die Tränen flossen in Strömen. Mein Körper bebte, meine Hände zitterten. Meine Mutter hatte Orchideen so geliebt. Jedes Fensterbrett schmückten sie. Sie folgten ihr bis ins Grab.
In diesem Moment wurde mir klarer als vorher, dass ich dieses Haus mit all den Erinnerungen niemals hergeben wollte. Ich wollte, dass auch meine Kinder hier aufwuchsen und sich so an ihre Familie erinnern konnten, wie ich es tat.
Noch am selben Abend fuhr ich zum Friedhof und machte meinen Eltern ein ganz besonderes Geschenk. Die Freude über ihre Liebe sollte ihnen bis nach dem Tod folgen und so pflanzte ich die unechten Orchideen auf ihr Grab.
Ich behielt das Haus und noch heute erinnere ich mich voll Liebe an all die Jahre, die ich hier behütet verbringen durfte.