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Die beiden Pferde liefen im gelösten Schritt nebeneinander über den menschenleeren Strand von Weybourne.
Dem englischen Wetter zum Trotz hatte es an diesem Morgen angefangen zu schneien. Zwar waren es nur wenige Flocken, die immer wieder aus der dichten grauen Wolkendecke fielen, aber es reichte aus, um den Boden mit einer pudrigen Schicht zu bedecken. Und der Wetterbericht hatte mehr versprochen.
»Sag mal, wieso sind wir eigentlich dieses Jahr hierhergefahren?«
Der dunkelhaarige Junge auf dem wuchtigen Friesen sah seinen Vater von der Seite an. Der schien seit ein paar Tagen nicht mehr wirklich anwesend zu sein mit seinen Gedanken.
»Hm? Was meinst du?«
»Na ja, sonst sind wir im Winter doch meistens in Rumänien. Warum also nicht dieses Jahr? Ist es, weil Daddy nicht da ist?«
Diese Frage und der Blick aus den blauen Augen des zwölfjährigen Aaron trafen Graf Viktor wie ein Messer in seine Eingeweide. Er musste schlucken und einen Moment lang überlegen, was er darauf antworten sollte.
Er wollte seinen Sohn nicht anlügen, aber seine Gedanken auszusprechen, machte ihm Angst und die Sache nicht besser. Luca war fort und Viktor hatte keine Ahnung, wann und ob er wiederkommen würde. Seit er vor ein paar Jahren eine schlimme Phase durchgemacht hatte, war er nie wieder ganz der Alte geworden. Nun hatte Luca entschieden, einige Dinge aus dieser Zeit für sich aufzuarbeiten. Allein! Und Viktor hatte ihn schweren Herzens gehen lassen müssen. Aber das konnte er Aaron nicht sagen, denn das hätte zu weit geführt.
»Ja, vermutlich ist das der Grund. Es gibt da ein paar Angelegenheiten, die dein Dad für sich erledigen muss und wenn er das hat, ist er schneller wieder bei uns, wenn wir hier sind, anstatt auf dem Schloss. Darum dachte ich, es sei besser, dieses Jahr Weihnachten in Norfolk zu verbringen.«
Der kleine Junge nickte. »Ich hoffe, er ist bald wieder zurück. Ich vermisse ihn.«
Viktor wurde es schwer ums Herz und er seufzte leise. »Ja, ich vermisse ihn auch.«
Es waren noch fünf Tage bis Weihnachten und der Adlige glaubte nicht wirklich daran, dass Luca bis dahin zurück sein würde. Aber die Hoffnung starb ja bekanntlich zuletzt.
Eine Weile ritten die beiden schweigend nebeneinanderher, dann riss Aaron seinen Vater aus den trüben Gedanken. »Los, komm, lass uns ein Wettrennen machen.«
Bevor der Unsterbliche etwas erwidern konnte, war der Junge schon losgeprescht. Viktors Pferd folgte dem anderen mit einem Bocksprung, der seinen Reiter fast aus dem Sattel katapultiert hätte.
Am Ende der Strecke, die Aaron sich für das Rennen ausgeguckt hatte, parierten sie ihre Tiere durch und drehten um, um sich im Schritt auf den Heimweg zu machen.
»Das war cool. Müssen wir öfter machen«, sagte der Junge, mit vor Kälte geröteten Wangen, und seine Augen strahlten vor Begeisterung.
Viktor nickte schmunzelnd. Er liebte dieses Kind, das er und Luca vor acht Jahren aus einem Waisenhaus adoptiert hatten. Nie hatten sie ihre Entscheidung bereut, egal, wie anstrengend Aaron manchmal auch gewesen war. Und gerade jetzt war Viktor dankbarer denn je für die Gesellschaft des Jungen. Ohne ihn hätte er wohl öfter grübelnd aus dem Fenster gestarrt oder seinen Butler Sebastian mit melancholischem Geigenspiel zu Tode genervt.
Zurück auf dem Anwesen, brachten die beiden die Pferde in den Stall, wo sie von einem Stallburschen übernommen und versorgt wurden. Aaron ließ es sich nicht nehmen, den Tieren noch je eine Möhre zuzustecken, bevor er seinem Vater zu dem großen Herrenhaus folgte.
Plätzchenduft empfing die beiden, als sie die Eingangshalle betraten. Schnell trat Aaron sich die Schuhe von den Füßen, warf seine Jacke achtlos auf den Hocker an der Garderobe und verschwand in der Küche. Viktor folgte ihm.
Sebastian stand an der Kochinsel in der Mitte des Raumes und war damit beschäftigt, die fertigen Kekse zu verzieren. Der Ofen lief auf Hochtouren.
»Kann ich helfen?« Aaron blieb neben dem Butler stehen und beobachtete, was dieser dort machte.
Sebastian schmunzelte und mit einem kurzen Blick zu Viktor erwiderte er: »Natürlich kannst du das. Sofern dein Vater keine anderen Pläne mit dir hat.«
Nun sah auch Aaron zu Viktor, der den Kopf schüttelte. »Nein, für heute habe ich keine Pläne mehr. Lass ihn dir ruhig helfen, wenn es ihm Freude macht, Sebastian. Ich werde mich für eine Weile zurückziehen. Ich bin etwas müde.«
»Wie Ihr wünscht, mein Herr. Kann ich Euch irgendetwas bringen? Vielleicht einen Tee?«
»Nein, ich brauche nichts ...« Viktor überlegte einen Augenblick, bevor er doch zustimmte. »Obwohl, ein Tee wäre bestimmt recht angenehm, bei der Kälte draußen. Ja, bring mir bitte eine Tasse Earl Grey, Sebastian.«
Eine halbe Stunde später saß der Adlige mit einem Buch vor dem Kamin in seinem Arbeitszimmer. Eigentlich hatte er sich hinlegen wollen, nachdem Sebastian ihm den Tee gebracht hatte, aber er fand keine Ruhe. So starrte er aus dem Fenster, das Buch auf seinem Schoß, und seine Gedanken wanderten wieder zu Luca.
»Wo bist du nur?«, murmelte der Adlige. »Komm verdammt noch mal endlich nach Hause.«
Es verstrichen weitere Tage ohne ein Lebenszeichen von Luca und Viktors Hoffnung schwand mit jeder Minute ein Stückchen mehr. Würde der junge Mann überhaupt wieder zu ihm zurückkehren? Zu Aaron und ihm? Und wenn nicht, wie sollte er das ihrem Sohn begreiflich machen?
Viktor schlug mit der Faust auf die Platte seines Schreibtisches, an dem er saß, und knurrte dunkel. Nein! Er würde sich nicht von derart toxischen Gedanken überwältigen lassen. Luca würde wieder zu seiner Familie zurückfinden. Er musste einfach. Entschlossen stand der Unsterbliche auf und machte sich auf die Suche nach Aaron.
Dieser war wie so oft im angrenzenden Stall und kümmerte sich zusammen mit Chris, dem Stallmeister, um die Pflege der Pferde. Viktor hatte längst aufgegeben, seinem Sohn zu erklären, dass das die Arbeit des Personals war, das dafür bezahlt wurde. Der Junge liebte die Tiere und alles, was damit zusammenhing, machte ihm Spaß. Also ließ der Adlige ihn gewähren. Als Viktor nun den Stall betrat, stürmte Aaron auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.
»Gehen wir jetzt den Weihnachtsbaum holen?«, fragte der Junge, aufgeregt von einem Fuß auf den anderen tretend, und sah seinen Vater mit strahlenden Augen an.
»Ja, darum bin ich hier. Ich wollte jetzt los«, antwortete Viktor und wandte sich dann an Chris: »Würden Sie uns bitte zu dem Wäldchen rüberfahren? Das, welches zum Anwesen gehört!«
»Natürlich, Graf. Ich hole den Pick-up«, erwiderte dieser, stellte die Mistgabel zur Seite und verschwand durch das schwere Holztor nach draußen.
»Aber wieso fahren wir denn mit dem Auto? Wir können doch dahinreiten«, warf Aaron ein, während sie darauf warteten, dass der Stallmeister das Auto vorfuhr.
Viktor schüttelte lachend den Kopf. »Und wie transportieren wir den Baum? Nein, wir fahren.«
»Na guuuut.« Der Junge zog einen Schmollmund, was den Adligen seufzen ließ. Aaron hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie ähnlich er Luca sah, wenn er das tat.
»Aber wir können dort noch ein wenig spazieren gehen, wenn du magst«, lenkte Viktor ein.
»Na, mal sehen«, brummte sein Sohn und warf noch eine Handvoll Heu in die Box des Friesen, bevor sie den Stall verließen, um zu Chris ins Auto zu steigen.
Nachdem der Baum ausgesucht und auf der Ladefläche des Wagens verstaut war, machte der Stallmeister sich wieder auf den Heimweg. Viktor blieb mit seinem Sohn in dem Wäldchen zurück, das durch die starken Schneefälle der letzten Tage zu einem richtigen Schneeparadies geworden war, in dem es sich wunderbar herumlaufen ließ. Als nach einer Weile allerdings ein eisiger Wind aufkam, brachen die beiden ihren Ausflug in den Winterwald ab und machten sich auf den Heimweg. Viktor wollte auf keinen Fall riskieren, dass Aaron womöglich krank werden würde. Auch, wenn der eigentlich sehr robust war.
Zu Hause angekommen, steckte der Adlige den Jungen erst einmal in ein heißes Bad und nach einem daran anschließenden leichten Abendessen sofort ins Bett. Es war sowieso schon fast Schlafenszeit und obwohl Aaron lautstark protestierte, fügte er sich doch letztendlich dem Willen seines Vaters. Nach ein paar Minuten, in denen Viktor seinem Sohn aus einem Buch vorgelesen hatte, gähnte dieser herzhaft, rollte sich zusammen und war kurz darauf eingeschlafen. Der Adlige strich Aaron liebevoll durch die Haare, küsste ihn auf die Stirn, bevor er sich erhob und das Zimmer verließ. Morgen war Heiligabend und es sah so aus, als ob die kleine Familie das erste Mal Weihnachten voneinander getrennt feiern würde.
Unflätig fluchend betrat Viktor die Wohnstube des Hauses. Sebastian und seine Freundin Willow waren damit beschäftigt, den Baum zu schmücken und zuckten zusammen.
»Ist alles in Ordnung, mein Herr?«, fragte der Butler vorsichtig. Er konnte sich denken, was seinen Herrn so verzweifeln ließ, was ihn allerdings nicht davon abhielt nachzuhaken.
Viktor trat an eines der hohen Fenster und blickte hinaus in das Schneegestöber. »Wie soll bitte alles in Ordnung sein, wenn er nicht hier ist? Das wird das schlimmste Weihnachtsfest seit langem werden. Vor allem für Aaron.«
Sebastian und Willow sahen sich einen Moment lang an. Die junge Hexe konnte sehr gut nachfühlen, wie es dem Adligen ging. Sie vermisste ihren besten Freund mindestens genauso und sie machte sich ebensolche Sorgen.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte der Butler weiter.
Langsam drehte der Unsterbliche sich um, bedachte die beiden mit einem traurigen Blick und schüttelte den Kopf. »Nein, kannst du nicht. Niemand kann das. Wir müssen wohl das Beste daraus machen ... irgendwie. Ich werde mich dann mal wieder zurückziehen.«
Es war bereits mitten in der Nacht, als Viktor aus dem Schlaf hochfuhr. Was zum Teufel hatte ihn geweckt? Er schloss die Augen und konzentrierte sich nur auf die Geräusche im Haus, aber es war still wie in einer Gruft. Trotzdem … irgendetwas hatte seinen Schlaf gestört. Viktor erhob sich und verließ das Zimmer. Alle seine Vampirsinne in höchster Alarmbereitschaft, huschte er durch das Gebäude. Totenstille umfing ihn.
Als Viktor die Wohnstube betrat, drang mit einem Mal dieser unvergleichliche Geruch von Sandelholz in seine empfindliche Nase. Er hatte in seinem langen Leben nur zwei Menschen getroffen, die diesen Duft verströmten. Lysander und ...
»Hallo, Darling.«
Wie sehr der Adlige diese Stimme liebte und vermisst hatte, wurde ihm in diesem Moment bewusst. Ihr Klang bescherte ihm eine wohlige Gänsehaut und einen Wimpernschlag später hielt er Luca in seinen Armen.
»Du bist zurückgekommen.«
»Aber ja. Ich kann doch die beiden Menschen, die ich über alles liebe nicht verlassen. Es tut mir leid, dass ich es erst jetzt geschafft habe.«
»Hauptsache, du bist wieder da«, erwiderte Viktor leise. »Das ist mein schönstes Weihnachtsgeschenk und bestimmt auch das unseres Sohnes.«
»Und meins. Ich hab euch zwei wahnsinnig vermisst. Und ich bin total erledigt. Das Ganze war ziemlich anstrengend.« Luca ließ seine Lippen sanft über die seines Partners streicheln, bevor er sich aus der Umarmung löste. »Lass uns erst mal schlafen gehen. Ich erzähle dir alles später.«
Viktor nickte lächelnd und gemeinsam verließen sie das Wohnzimmer.
Ende!