"Wohin gehörst du?"
Seltsame Frage.
Kann mensch an einen Ort gehören?
Oder ist damit nicht eher eine Person oder Gruppe gemeint?
Aber dann müsste es doch "Zu wem gehörst du?" heißen, oder?
Und steckt in der Frage nicht auch ein "Wer bist du?" und ein "Was sind deine Werte?"
Ja, all das geht mir gerade durch den Kopf, während die Fragestellerin immer noch auf meine Antwort wartet.
Mal abgesehen davon, dass ich es mittlerweile gewohnt bin, gesiezt zu werden. Aber gut.
Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt und über ihrer Nase bildet sich dieser kleine Wulst aus, der entsteht, wenn mensch die Stirn runzelt.
Beinahe meine ich sogar die Halsschlagader pulsieren sehen zu können.
"Verzeihung," sage ich. "Habe ich etwas angestellt?"
Die Frau mit der Schürze schnauft heftig, was das Logo der Bäckerei auf ihrer Brust auf und ab wippen lässt.
Sie ignoriert mich und erst jetzt bemerke ich den leichten Silberblick in ihren Augen. Also versuche ich ihrem leicht verschobenen Blick zu folgen.
Knapp einen Meter hinter mir steht ein Kind mit einem Schokoeis am Stiel.
Zumindest war es mal am Stiel.
Jetzt ist es überall auf der Kleidung des Jungen, an seinen Händen und in seinem Gesicht verteilt.
Der Junge mit den blonden Haaren scheint über die Frage genauso verwirrt zu sein wie ich.
Er starrt die Bäckereiverkäuferin nur an, während der klägliche Rest seines Schokoeises auf den Boden tropft.
Ich sehe es kommen, bevor ich es hören kann.
Das Wasser schießt ihm in die weit aufgerissenen Augen, bis sie von einem glasigen Film überzogen sind. Er zieht die Mundwinkel nach hinten, nicht umzu lächeln. Eher wie ein Affe, der Angst hat.
Das Kind kneift die Augen zusammen und los gehts.
Krankenwagen wären stolz auf so eine Sirenenlautstärke.
Na toll. Und das passiert mir, wo ich doch so gut mit Kindern kann.
Nicht.
Aber irgendwo in mir steckt wohl trotz allem so etwas wie Mutterinstinkt.
Jedenfalls lass ich meinen Einkaufswagen stehen, hole ein paar feuchte und trockene Tücher von der Kundentoilette und helfe dem Bengel erstmal aus seiner Schokoeismisere.
Die Zuwendung beruhigt ihn zumindest soweit, dass aus dem Geheule ein Schniefen mit Schluckauf wird.
"Hey, Sie! Ist das Ihr Kind?"
Oh, sieh an. Plötzlich bin ich doch sichtbar.
"Nein. Aber ich werd den Jungen zu seinen Eltern bringen.
Sie können sich mit Ihrem miesepetrigen Gesichtsausdruck und Ihren Fetthänden wieder in aller Ruhe hinter Ihre Theke verziehen, Sie alte Wetterhexe." Hätte ich gerne geantwortet.
Stattdessen ignoriere dieses Mal ich sie.
Ich kniee mich vor dem Kleinen hin und wische ihm den letzten Rest Schokolade von der Backe.
"Wie heißt du denn? Und mit wem bist du hergekommen?"
"Moritz." Schnieft der blonde kleine Mann. "Papa."
Mehr ist nicht aus ihm rauszubekommen. Er wischt sich mit der kleinen Hand über das tränennasse Gesicht.
Ich benutze das letzte Tuch und trockne seine rosa geriebenen Bäckchen.
"Komm Moritz, ich helf dir Papa zu finden, ok?"
Seine Mundwinkel zeigen zwar weiter nach unten, aber seine kleine Hand schiebt sich vertrauensvoll in meine.
Zielsicher gehe ich Hand in Hand mit ihm zum Infopoint.
Schon von weitem sehe ich einen Mann, der wild gestikulierend auf die Frau am Schalter einspricht.
Er fährt sich immer wieder nervös mit der Hand durch sein dichtes blondes Haar und über den Nacken.
Er tritt von einem Fuß auf den anderen und presst die Lippen fest aufeinandner, während die Infodame mit Kollegen telefoniert.
"Papi!" Moritz reißt sich von mir los, als er seinen Vater erkennt und stürmt auf ihn zu.
Dieser zuckt kurz zusammen, fällt dann auf die Knie und nimmt sein Kind in die Arme.
"Oh Gott sei Dank! Da bist du ja."
Die Infodame lächelt, gibt dem Kollegen am Telefon bescheid und legt auf.
Der erleichterte Vater bedankt sich bei ihr, doch sie deutet auf mich.
Und er kommt auf mich zu.
Und alles was ich in diesem Moment denken kann ist:
'Zu dir gehör ich hin.'