Gott hatte es nicht gut mit ihnen gemeint. Mutterseelenallein streiften die drei Brüder durch die bittere Winterkälte und suchten nach einem Unterschlupf, der sie eine weitere Nacht lang nicht erfrieren lassen würde. Seit beide Eltern einer Krankheit zum Opfer gefallen waren, hatten die Kinder nur noch einander. Die Welt war zu groß, um sich um drei Waisen zu kümmern, die weder ein Heim noch Geld hatten, um sich die einfachsten Dinge leisten zu können.
Der Älteste der drei, gerade einmal zwölf Jahre alt, war ständig auf der Suche nach Arbeit. Doch der mickrige Lohn, den er bekam, reichte nicht, um sich und seine Geschwister über eine Woche, geschweige denn den ganzen Winter zu bringen. Zu dieser Zeit lagen auch alle Felder brach und niemand erbarmte sich der drei Jungen, dass sie in der Kälte draußen nicht frieren und hungern mussten. Nur auf die milden Gaben anderer angewiesen zu sein, war kein Leben, das einen satt und glücklich machte. Warum nur hatte Gott die drei Brüder so bestrafen müssen, dass er ihnen die Eltern und die Aussicht auf ein sicheres Leben genommen hatte?
Eisiger Wind schlug den Kindern entgegen, als sie weiterwanderten und nicht wussten wohin mit sich. Vor allem der älteste Bruder träumte von einem eigenen Haus, das sie warmhalten und vor Räubern sowie anderen Finsterlingen beschützen konnte. Jede Nacht hatte er Angst, dass er selbst oder seine jüngeren Geschwister am nächsten Morgen nicht mehr erwachen würden. So geschwächt und hilflos wie sie dem erbarmungslosen Winter ausgesetzt waren.
Erst als eine dunkle Gestalt in diesem ganzen Weiß um sie herum in Sicht kam, schöpften die Jungen wieder Hoffnung. Vielleicht hatte dieser Fremde etwas Geld oder Essen übrig, das er den Kindern überlassen könnte? Oder hatte er eventuell sogar ein Heim, das er mit diesen teilte, wenn sie ihn nur darum bitten würden?
Aber je näher die Kinder dem Fremden kamen, desto weniger konnte vor allem der älteste Bruder noch hoffen. Denn die Kleidung der dunklen Gestalt war ebenso zerrissen wie die der Waisen und auch war der Mann hager und ging gebückt, als hätte er ebenso sehr mit der Armut zu kämpfen wie diese. Trotzdem sprachen die Kinder ihn an, ob er ihnen nicht auf irgendeine Art aushelfen könnte.
»So sehr ich es auch bedauere, ich habe nichts von Wert bei mir«, begann der Bettler mit alter und leiser Stimme.
Sofort erlosch auch der letzte Funken Hoffnung, den die drei Brüder gehabt hatten. Doch der Fremde fuhr fort, ohne groß darauf zu achten. »Jedoch weiß ich, dass in dieser Nacht wieder der Weihnachtsgeist sein Unwesen treiben wird. Ich würde mein letztes Hemd darauf verwetten, dass er euch beschenken wird, wenn ihr nur zur rechten Zeit am rechten Ort seid. Ihr seht aus, als würdet ihr beten, bevor ihr zu Bett geht. Und der Weihnachtsgeist erhört gerne die Gebete reiner, aber gequälter Seelen.«
»Wo müssen wir denn hin, damit der Geist uns helfen kann?«, fragte der jüngste Bruder aufgeregt. Mit seinen sechs Jahren glaubte er noch an die Wunder, die seine Geschwister schon fast wieder vergessen hatten.
Der fremde Bettler lächelte ein zahnloses Lächeln. »Bevor ich euch das sage, müsst ihr mir etwas versprechen.«
Nun wirkte gerade der älteste Bruder recht skeptisch, während der jüngste weiterhin an dieses alberne Märchen glauben wollte. So forderte er sein Gegenüber auf, fortzufahren.
»Die Geschenke, die euch der Geist bringen wird, sind alles andere als gewöhnlich. Das erste wird euren Hunger stillen. Das zweite wird euch vor der Kälte schützen. Und das dritte wird so besonders sein, dass es nur in einer Notlage verwendet werden sollte. Deshalb müssen auch alle drei Geschenke geheim gehalten werden. Sonst werden sie verschwinden und ihr seid wieder dort, wo ihr ohne sie wart. Versteht ihr Kinder das?«
Alle drei nickten zur Bestätigung. Die Jungen waren überzeugt davon, gut im Bewahren von Geheimnissen zu sein. Wen hatten sie auch schon, um ein solches auszuplaudern?
Der Mann nickte ebenfalls. »Dann müsst ihr nur noch die verlassene Hütte finden, die der Geist immer wieder aufsucht. Dort werdet ihr die Geschenke bekommen, wenn ihr schlaft. Lauft in den Wald und lasst euch von diesem führen. Ihr werdet ankommen, wenn Gott es gut mit euch meint.«
Die Brüder, allen voran der jüngste, dankten dem Fremden für diesen seltsamen Rat und befolgten diesen so gut sie nur konnten.
Es kam ihnen wie eine Ewigkeit vor, dass sie durch den Wald irrten, bis die Kinder endlich eine Hütte erreichten. Sie lag verborgen hinter dichten Baumwänden und Hügeln, als wäre sie das eigentliche Geheimnis, nicht die Geschenke oder der Geist, von denen der Bettler gesprochen hatte. Die Jungen konnten ihr Glück kaum fassen. Mit dem letzten Licht des Tages betraten sie die leere Hütte und legten sich in dieser schlafen, wie es ihnen geraten worden war.
Als die Sonne wieder hinter den hohen Bäumen emporstieg, erwachten die Jungen. An jedem anderen Tag hätten sie keinen Gedanken daran verschwendet, dass heute Weihnachten war. Doch jetzt traf es sich gut, dass die drei Brüder direkt nach dem Aufwachen die Geschenke fanden, von denen der fremde Mann gesprochen hatte. Jeder hatte genau eines bekommen.
Der jüngste fand neben sich einen unscheinbaren, grauen Topf voller Brei, über den sich die hungrigen Kinder sofort hermachten. Als dieses wundersame Gefäß jedoch nach einer Weile leer sein sollte, befanden sich darin schon neue Speisen, die keiner der Brüder überhaupt benennen konnte. Sie konnten ihr Glück nicht fassen. Ein Topf, der niemals leer wurde? Mit dem ersten Geschenk hatte der fremde Bettler also recht gehabt – es würde definitiv den Hunger stillen.
Neugierig betrachtete der mittlere Bruder den Gegenstand neben sich. Es brauchte eine Weile, bis er begriff, dass er einen dunklen, viel zu großen Mantel in Händen hielt. Ähnlich dem, den der Mann am gestrigen Tage getragen hatte. Nur nicht so abgenutzt und dreckig, sondern eher, als wäre er gerade erst angefertigt worden. Weil es dem neuen Besitzer des Mantels so fror, zog er ihn sofort über, um zu sehen, was dieser taugte.
Wärme umfing den Jungen und ließ sofort alle Sorgen um die Härte des Winters verblassen. Es fühlte sich an, als würde der Mantel selbst diese angenehme Hitze ausstrahlen, denn der mittlere Bruder selbst war kalt wie ein wandelnder Eiszapfen. Begeistert von der Magie dieses so unscheinbar wirkenden Kleidungsstücks, ließ der Junge auch seine Geschwister an dem Wunder teilhaben. Wieder hatte der Fremde nicht gelogen – dieser Mantel würde die drei Brüder nie wieder frieren lassen.
Nun ließ sich auch der älteste Bruder dazu hinreißen, sein Geschenk an sich zu nehmen. Den Gegenstand in seiner Hand erkannte er nicht. Noch nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Dem Anschein nach war dieses bunte Kästchen in der Hand des Jungen ein Spielzeug. Doch er wusste nichts damit anzufangen. Immer wieder drehte der älteste Bruder sein Geschenk in den Händen und versuchte herauszufinden, was daran so besonders sein sollte. Seine Geschwister drängten ihn währenddessen aufgeregt dazu, keine Zeit zu verschwenden und das Kästchen zu öffnen, um zu sehen, was für ein Geheimnis es in sich barg. Der Junge weigerte sich jedoch. Immer wieder wies er daraufhin, wovor der Fremde sie gewarnt hatte.
»Erst im Notfall werde ich diese Kiste öffnen. Wie es der Mann gesagt hat. Vielleicht ist der Inhalt gefährlich und würde uns umbringen, wenn wir ihn einfach aus der Laune heraus ans Tageslicht zerren.«
Damit gaben sich die Jüngeren zufrieden und der Älteste steckte das bunte Kästchen in die Tasche seiner zerschlissenen Hose. Nachdem diese Unsicherheit weggeschafft worden war, konnten sich die Jungen über den neugewonnenen Reichtum freuen. Endlich schien es bergauf für sie zu gehen. Sie dankten Gott, der sie hierhergeführt, und dem ominösen Geist, der ihnen diese besonderen Geschenke vermacht hatte, ehe sie die Hütte im Wald wieder verließen. Plötzlich wirkte die Welt nicht mehr so groß, der Winter nicht mehr so bitterkalt und das Leben nicht mehr so hoffnungslos. So zogen die drei Brüder aus und vor lauter Glück vergaßen sie fast, was sie dem alten Mann versprochen hatten.
Ein Jahr lang ging es den Jungen gut. Die Geschenke des Weihnachtsgeistes hatten alle Sorgen verfliegen lassen. Ohne Hunger und Kälte lebten die Brüder in den Tag hinein. Sie suchten nur noch gelegentlich nach Arbeit, um sich ab und an neue Kleidung leisten zu können. Das bunte Kästchen hatte der älteste Junge bisher noch nicht angerührt. Wie er es dem Bettler damals versprochen hatte.
Es gab jedoch immer noch nichts, was die drei an nur einem Ort gehalten hätte. So zogen sie weiter umher und sahen die Welt in all den Farben strahlen, wo sie zuvor nur tristes Grau und finsteres Weiß gesehen hatten. Selbst als der Winter wieder hereinbrach, machten sich die Jungen keine Sorgen. Nur reichte es ihnen nun nicht mehr, draußen unter ihrem wärmenden Mantel zu sitzen und zu warten, dass der Frühling wiederkam. Deshalb überredeten sie einen armen Bauern, bei dem die Brüder den Herbst über gearbeitet hatten, sie für eine Weile bei sich aufzunehmen.
In dessen Heim war es nur umso schwieriger, das Geheimnis zu wahren, was die drei Brüder schon so lange mit sich trugen. Die kleine Bauernfamilie, bei der sie nun untergekommen waren, stand kurz vor dem Hungertod und dennoch wollte sie den fremden Kindern etwas von ihren erbärmlichen Vorräten abgeben. Das konnte vor allem der jüngste Bruder nicht mit ansehen und weigerte sich, zusammen mit seinen beiden Geschwistern, das Essen anzunehmen. Auf die Verwunderung der Bauernfamilie hin, wie sie es sich leisten konnten nicht zu essen, offenbarte der jüngste Bruder sein Geheimnis. Er holte den Topf hervor, den er bisher sorgfältig versteckt hatte und teilte das üppige Essen daraus mit den Hungernden.
Auch diese wollten die Gabe zunächst nicht annehmen, doch der Jüngste bestand darauf. »Dieser Topf wird niemals leer«, sagte er und wollte so die Familie überreden, das Essen anzunehmen. »Er ist eine Gabe Gottes, damit wir nicht mehr hungern müssen.«
Diese Worte überzeugten die Bauern und sie nahmen so viele Speisen aus dem Zaubergefäß wie sie nur konnten. Die drei Brüder waren zufrieden mit sich. Es fühlte sich an, als hätten sie gerade etwas Gutes getan und die Welt ein wenig heller für diese armen Menschen gemacht. Nun konnten auch die Jungen essen, ohne sich für ihren Reichtum schämen zu müssen.
Als schließlich alle satt waren und sich der Tag dem Ende neigte, geschah das, wovor der Bettler die Kinder damals gewarnt hatte. Der Bauer und seine Familie waren so begeistert von diesem wunderbaren Topf, dass sie ihn für sich beanspruchten. Zwar versuchten die drei Brüder, ihr Geschenk zurückzuholen, sie flehten, als wären sie kurz davor zu sterben, doch der Bauer jagte sie nur vor die Tür. Nun waren die Jungen ohne den Topf und sofort setzte wieder die Sorge ein, dass sie verhungern könnten. Jedoch trösteten sie sich damit, dass sie immerhin noch etwas gegen die bittere Kälte hatten.
So zogen die Kinder weiter und setzten sich, als sie müde wurden, unter ihren warmen Mantel, um zu schlafen. Jedoch hielt sie ein jämmerliches Wimmern davon ab. Der mittlere Bruder lugte kurz unter dem dunklen Stoff hervor und erblickte nicht weit von ihnen einen ausgehungerten Mann im Schnee. Der Fremde schien kurz davor zu sein zu sterben.
Aus Mitleid nahm der Junge seinen Mantel und ging zu dem sterbenden Bettler, um diesen damit zuzudecken und so vor dem Kältetod zu bewahren.
Es brauchte eine ganze Weile, bis der Mann zu sich kam. In dieser Zeit hatten sich die Jungen bereits wieder mit unter den Mantel gesetzt, um selbst nicht in dieser bitterkalten Winternacht erfrieren zu müssen.
Doch anstatt ihnen für ihre gute Tat zu danken, wollte der Bettler den Mantel stehlen, um selbst nie wieder frieren zu müssen oder um das gute Stück irgendwo zu Geld machen zu können. Es entbrannte ein Streit zwischen den drei Brüdern und dem Fremden. Jeder zerrte und zog an dem Kleidungsstück, bis dieser schließlich zerriss. Sofort ließ der Mann von seiner Beute ab und suchte das Weite, da es dort nun nichts mehr zu holen gab. Die Jungen unterdessen versuchten, den Mantel wieder zusammenzuflicken, doch so sehr sie es auch wollten, das Kleidungsstück strahlte keinerlei Wärme mehr aus. Auch das zweite Geschenk war ihnen ruiniert worden, nur weil die Kinder versucht hatte zu helfen.
Nun waren die drei Brüder wieder an dem Punkt, wo sie ohne die Gaben des Weihnachtsgeistes gewesen waren. Schon bald setzte der Hunger ein und sie froren jämmerlich. Plötzlich war die Welt wieder zu groß und grau um in ihr bestehen zu können.
Immer wieder versuchten die beiden jüngeren Brüder den Ältesten dazu zu überreden, nun sein Geschenk auszuprobieren. Doch dieser weigerte sich weiterhin. Noch sah er keinen Grund dazu. Erst im Notfall sollte er das Kästchen öffnen, hatte der Bettler damals gesagt. Und daran würde sich der Junge halten. Solange, bis er alle Hoffnung daran aufgegeben hatte, dass das Leben als ärmliche Waise besser werden könnten.
Nach einigen Tagen in der Kälte ließ sich der älteste Bruder jedoch dazu überreden, sein Geschenk zu benutzen. Mit zittrigen Händen holte er das diese letzte Gabe des Weihnachtsgeistes hervor und betrachtete es wieder für eine kleine Weile. Etwas im Inneren des Jungen sträubte sich dagegen, diesen Gegenstand auch nur allzu lange anzusehen. Etwas an diesem war unheimlich. Doch all diesen Zweifeln zum Trotz öffnete der älteste Bruder das bunte Kästchen.
Musik erklang aus diesem. Die Melodie war wunderschön und so eine Wohltat, dass sich die drei Brüder dieser vollkommen ergaben und ihre Sorgen darüber vergaßen. Auch die Welt um sie herum veränderte sich. Der Schnee schmolz und plötzlich war wieder alles so warm um die drei Brüder herum als säßen sie noch unter ihrem magischen Mantel. Wieder keimte die Hoffnung in ihrer aller Innern auf. Was auch immer diese Melodie mit ihnen und der Welt machte, nun war alles gut. Das wussten die Jungen, ohne selbst zu wissen warum.
Plötzlich stand wieder der Bettler von damals vor ihnen. Seine abgerissenen, dunklen Lumpen hatte er jedoch gegen ein prächtiges Gewand eingetauscht, das sonst nur ein König oder der Papst tragen würde. Es strahlte in Weiß und Blau und nahm den drei Brüdern für einen Moment den Atem. Das musste der Weihnachtsgeist sein. Wie hatten sie ihn nur damals nicht erkennen können, als er sich als armer Bettler verkleidet hatte und unter den Menschen gewandelt war auf der Suche nach Bedürftigen, denen er helfen konnte?
»Du als Einziger hast meinen Rat befolgt«, lobte der Geist den ältesten Bruder. »Nun sollst du auch dafür belohnt werden. In dieser Welt, die ihr durch die Spieluhr betreten habt, wird euch nie wieder ein Leid geschehen. Ihr habt die Wahl, ob ihr bleiben oder doch zurück in die Kälte wollt, wo ihr euch ein echtes Leben aufbauen könnt, auch ohne meine Gaben.«
Die Entscheidung fiel den Brüdern nicht schwer. Noch immer die sanfte Engelsmelodie in ihren Herzen spürend und wissend, dass es in der echten Welt doch keinen Platz mehr für sie gab, verschwanden die drei Brüder in dieser sonderbaren Geisterwelt und lebten glücklich und frei, bis an ihr Lebensende.