Wie süß, meine Mama macht sich immer noch so viel Mühe mit einem besonderen Adventskalender für mich, obwohl ich schon 16 bin. Soweit ich weiß, bekommt niemand sonst in meiner Klasse jeden Tag vor Weihnachten eine Überraschung. Höchstens so ein fertiges Teil, wo täglich ein winziges Stück Schokolade drin steckt, dass man das Ganze in der Verpackungs-Inhalts-Relation nur als Zumutung bezeichnen kann.
Am 1. war dieses Jahr eine Packung Leckerlis für Pferde in meinem Reitstiefel. Am liebsten hätte ich sie gleich zum Reitstall gebracht. Chiron vermisste mich bestimmt schon. Ich hatte mein Pflegepferd ewig nicht gesehen. Mindestens zwei Tage. Seufzend realisierte ich, dass ich vermutlich die ganze Woche nicht zu meinem Pflegepferd fahren kann. Die Lehrer wollten wohl alle was zum Korrigieren für die Ferien haben - was weiß ich - jedenfalls mussten wir drei Arbeiten in einer Woche schreiben - Mathe, Deutsch, Französich. Ich war nur am Büffeln und Bulimieren, also nicht wirklich, nur den Lernstoff halt für lange genug reinkriegen, dass ich irgendwas halbwegs Gescheites zu Papier brachte. Obwohl ich nicht wirklich schlecht in der Schule bin, konnte ich die Woche abschreiben, was Pferde und Vergnügen angeht.
Am 2. folgte ein Hufkratzer, am 3. ein Mähnenkamm mit Pferdemotiv. Wunderbar für den Schweif von Chiron. Ich stellte mir vor, wie ich ihn damit so lange kämmen würde, bis er richtig schön im Schein der Festbeleuchtung beim Weihnachtsreiten glänzen würde. Unser erstes gemeinsames Weihnachtsreiten. Er war nun knapp zwei Jahre lang mein Pflegepferd. Letztes Jahr hatten mich meine Eltern in den Weihnachtsferien auf Skiurlaub verschleppt, so dass ich nicht daran teilnehmen konnte.
Am 4. steckte eine Kardätsche in meinem Stiefel. Prima, meine alte verlor auch langsam ihre Borsten. Mich trennte nur noch eine Französisch-Klausur von dem höchsten Glück der Erde. Dachte ich.
Aber Eltern! Mama hatte sich extra den Freitag-Nachmittag frei genommen, um mit mir einkaufen zu gehen. "Du hast es versprochen, Liebes, erinnerst du dich nicht?"
Doch, leider. Aber damals hatte ich nicht gewusst, dass ich diese Woche schon übervoll mit Schulzeug sein würde. "Können wir das nicht verschieben?"
Nein, konnten wir nicht. Mama hatte erst vor kurzem eine Beförderung verbunden mit einer neuen Position in der Personalabteilung bekommen und war zum Jahresende mit Arbeit überhäuft. Was bedeutete, dass sie eigentlich selbst diesen halben Tag eher schlechten Gewissens frei genommen hatte. Und keinerlei Ersatz bekommen würde. Seufzend folgte ich ihr durch Boutiqen und Supermarktregale. Überall das Weihnachtsgedudel. Nicht meine Welt.
Jedenfalls freute ich mich aufs Wochenende.
Am Samstag-Morgen fand ich ein Buch über Reitsport in meinem Stiefel. Reitabzeichen? Hui ... dafür habe ich bei weitem nicht genug Praxis! Aber informieren schadet ja nicht.
Aus der Küche zog mir verlockender Kaffeeduft in die Nase. Papa betrat keuchend den Flur: Er war mal eben zum Bäcker gejoggt und hatte uns Brötchen mitgebracht. "Deckst du den Tisch, bitte? Mama freut sich bestimmt ..."
Klar doch. Nach allem, was die beiden immer für ihre Familie tun ... Dann gibt's heute wohl ein ausgedehntes Frühstück, bevor ich in den Stall radeln kann. Dachte ich.
"Schatz, wir sind heute bei Onkel Kurt und Tante Margit eingeladen", eröffnete Mama über ihrem zweiten Croissant.
Weiß sie, wieviel Fett sowas hat? Erstaunlich, dass sie mit Ende 40 trotzdem noch so eine tolle Figur hatte. Das ließ mich hoffen für meine eigene später ... Aber Onkel Kurt und Tante Margit! Ich stöhnte innerlich. Byebye, Chiron. Bis morgen ...
Es wurde ein erwartungsgemäß typischer Verwandten-Nachmittag. Ich lächelte höflich. Sagte x-mal "danke, nein" - nach dem zweiten Stück Erdbeerschokoladencremetorte, das mir Tantchen aufgenötigt hatte. Und bewunderte den Kerzenschein. Die beiden sind ja schrecklich nett, aber wirklich gemeinsame Gesprächsthemen mit Papas Bruder und seiner Frau hatten sich bisher noch nicht aufgetan. Nachdem ich mich ein bisschen über die Schule beklagt hatten, war mein Part denn auch durch und sie wandten sich Business-Kram und Handwerksproblemen zu.
Am Abend las ich noch ein bisschen in meinem neuen Buch. Dabei stellte ich mir vor, wie ich mit Chiron einzelne Lektionen absolvierte. Vor allem die Übung, ohne Steigbügel und Zügel einen Parcous zu absolvieren, regte meine Phantasie an. Obwohl ich noch nicht einmal mit Springen angefangen hatte.
Am Nikolaus-Sonntag fand ich eine neue Reitkappe vor. Ja, super. Was wohl noch alles folgen würde? Vielleicht eine Trense? Oder eine neue Zehnerkarte für Reitstunden? Das wäre bestimmt zu viel erhofft. Gut gelaunt duschte ich und schlich in die Küche, um meine Eltern nicht zu wecken. Pustekuchen.
Mama stand schon fröhlich summend da und befüllte die Kaffeemaschine. "Oh, Liebes, Oma hat uns eingeladen ..."
Oma? Und das sagen sie mir jetzt?! Ich explodierte, großzügige Geschenke hin oder her. Ich war keine Dreijährige mehr, der sie ihr Programm diktieren konnte. "Waas!?" Mein Tonfall war wohl etwas laut, ja, ich war total wütend. Eine Woche lang mein Pflegepferd vernachlässigen, mal von meinen persönlichen Wünschen ganz zu schweigen - das war mir zu viel.
Papa streckte seinen Kopf um die Ecke. "Stella, was ist? Schlechte Nachrichten?" Er schaute ziemlich verschlafen und verwuschelt aus.
Sein leicht treudoofer Blick besänftigte mich ein bisschen, wie so oft. Ich kann nicht wütend sein, wenn er wie ein tapsiger Bär ausschaut, ein bisschen hilflos, ein bisschen deplatziert, aber irgendwie nett. "Ich freu mich schon die ganze Woche auf den Stall."
"Ach, ja, ähm, das ist natürlich - schwierig." Er kratzte sich am Hinterkopf. Die Kaffeemaschine begann zu rattern. "Weißt du, Stella, Oma war früher immer für dich da ..."
"... und jetzt ist sie allein und braucht uns, ja, ich weiß. Ich hab sie ja auch lieb. Aber warum HEUTE?"
"Ach, Liebes, lass uns noch mal beim Frühstück reden ..." Mama brachte Teller und Tassen ins Esszimmer.
Reden. Das hieß soviel wie "wir haben entschieden, wir wollen es dir so schmackhaft wie möglich verkaufen". Ich seufzte und resignierte. Mutwillig langsam zog ich mich um. Die Aufbackbrötchen waren längst abgekühlt, als ich am Frühstückstisch erschien.
Auf der Fahrt zu Oma - pro Strecke fast 200 Kilometer - las ich weiter in meinem Buch zum Reitabzeichen. Merkwürdig, dass die Infos sofort hängen bleiben, wenn einen das Thema wirklich interessiert. Schade, dass Futter und Haltung von Pferden kein Prüfungsfach fürs Abi sind.
Der Montag begann mit einem Blick in meinen Reitstiefel. Oder besser: Auf das Päckchen, das darauf lag. Ich nahm es mit in mein Zimmer und wickelte es aus. "Eh, wow!" Überrascht sprang ich auf und lief damit zum Badezimmerspiegel: Eine neue Weste! Perfekt. Sie erinnerte mit den eingewebten Motiven von Adler, Mondlandschaft und Wolf ein wenig an Western-Style. Dass sie damit nicht ganz zum klassichen Reitsport passte, und deswegen im Stall auffallen würde, machte mir nichts aus. Dass ich nicht längst umgesattelt hatte, lag nur daran, dass es weit und breit keinen guten Lehrer für Westernreiten gab.
Gut gelaunt machte ich mich auf den Weg in die Schule. Dabei hatte ich schon ein paar der Leckerli eingesteckt. Dieses Mal würde ich direkt nach der letzten Stunde in den Stall radeln, bevor meinen Eltern wieder etwas einfiel, was ich dringend sofort machen müsste.
Als ich mein Fahrrad anschloss, kam Henrik um die Ecke. Er ist einen Jahrgang über mir. Wir haben eigentlich nichts miteinander zu tun, im Stall gehört er zu den Privatpferde-Paten. Keine Ahnung, warum die sich besser fühlen, als wir Schulpferd-Paten. Aber egal. Ich nickte ihm kurz zu und wollte mich abwenden.
"Stella! So fröhlich?"
Überrascht blickte ich ihn an. "Wieso nicht?"
"Na, Chiron ..."
War das ein falsches Grinsen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, oder war es der Versuch, freundlich zu sein? Was sollte mit meinem Pferd schon sein? Oder hatten sie mir die Pflege entzogen, weil ich mich eine Woche nicht blicken ließ? Schuldbewusste Hitze stieg in mir auf. "Also was ist mit ihm?" Kann er nicht einfach mit der Sprache herausrücken?
"Äh, er wurde gestern abgeholt ..."
Mir fiel das Kinn herunter. Nach einer Schrecksekunde, in der ich vermutlich ein selten dämliches Bild abgab, stotterte ich: "Abgeholt? Was soll das heißen? Wer 'sie'?"
Statt einer Antwort schnappte sich Henrik seine Tasche und winkte mir bye.
Kopfschüttelnd und mit pochendem Herzen sah ich ihm nach. Den ganzen Vormittag hatte ich Angst, konnte mich auf nichts konzentrieren. Ob das stimmte? Chiron verkauft ... oder schlimmer? Oder ein ganz, ganz übler Scherz? Mit dem Läuten zum Ende der sechsten Stunde rannte ich los. Aufs Rad und zum Stall.
Dann stand ich atemlos vor der Box, die ich seit zwei Jahren so oft wie möglich aufgesucht habe. Aber statt des vertrauten Dunkelbraunen mit dem winzig kleinen weißen Fleck auf den Nüstern blickte mich ein schlanker Schimmel an. Ich war gelähmt und starrte fassungslos. Mein Gehirn verstand nicht, was ich sah. Niemand da, den ich fragen konnte. Ich suchte alle Gänge ab. Schaute in der Reithalle vorbei. Da war auch niemand. Im Restaurant hockten nur ein paar Privat-Reiter zusammen, die ich nicht kannte. Niemand, der mir Auskunft geben konnte. Geschockt machte ich mich auf den Heimweg. Den Rest des Tages hatte ich keine Lust, jemanden zu sprechen.
Selbstredend, dass ich mich die nächsten Tage nur eingeschränkt über Huf-Fett, Reitstiefel, ein neues Halfter, Führleine und Pferdedecke freuen konnte, die mir der Nikolaus bescherte.
Mama und Papa warfen sich immer wieder besorgte Blicke zu. "Aber Liebes, es ist nicht der letzte Tag in deinem Leben ..."
Mit zornigen Blicken entzog ich mich dem Mitleid. Als ob irgendwas oder irgendwer jemals Chiron ersetzen könnte! Ich beherrschte mich gerade noch, die Tür nicht hinter mir zuzuknallen.
"Sollen wir nicht doch ...", hörte ich noch Papa sagen.
Aber Mama "schschte" ihn ruhig.
Wussten die etwas, das mich betraf? Viel zu verloren in meiner Trauer kam mir nicht in den Sinn, 1 und 1 zusammen zu zählen.
Am 13. fand ich ein Buch über Westernreiten vor. Unter allen anderen Umständen hätte ich es sofort verschlungen, aber jetzt ...
Ich warf mich aufs Bett und heulte. Die Tür ging leise auf. "Liebes, willst du nicht mal wieder in den Stall ...?" Mama nervte. Entsprechend unwirsch fiel meine Antwort aus. Sie zog sich zurück.
"Ich habe dir einen Salat gemacht", meldete sich kurz darauf Papa. Er brachte eine riesige Schüssel mit Obstsalat garniert mit ein paar Schokokrümeln an mein Bett. "Hier, falls du dich doch entscheidest, nicht verhungern zu wollen."
Ich musste lächeln. "Danke."
Er verließ taktvoll das Zimmer.
Beim Essen merkte ich, dass ich tatsächlich Hunger hatte. Ich beschloss, im Reitstall nachzusehen, ob mir jemand sagen könnte, wo Chiron ist. Vielleicht war er nicht so weit entfernt und ich könnte mich als Reitbeteiligung anbieten, wenn ich bei seiner Pflege half oder so.
Ich traf Rita, unsere Reitlehrerin. Sie trainierte gerade ihre neue Hoffnung. Hopy hatte sie den Fuchswallach getauft. Ein wirklich schöner Trakehner. Sie bemerkte mich und winkte mir zu. "Schön dich zu sehen."
"Weißt du, was mit Chiron ist?"
Ihr Lächeln erstarb. Sie schaute wieder konzentriert vor sich hin, als wäre ich Luft.
Für mich war der Fall sonnenklar. Sie wusste etwas und wollte es mir nicht verraten. Sonst hätte sie unbefangen ja oder nein sagen können. In meinem Kopf begannen sich lauter Schreckensbilder abzuzeichnen. Hatte er einen Ufall gehabt? Lebte er überhaupt noch? Ich versuchte, mich selbst zur Ordnung zu rufen - mit mäßigem Erfolg. Die Zeit, die an der Bande wartete und zuschaute, dehnte sich in endlose Minuten. Irgendwann müsste sie ja aufhören. Etwas mehr als eine halbe Stunde später kam sie endlich zum Ausgang des Platzes. "Also wo ist er?"
"Er?" Sie schaute irritiert und wandte das Gesicht ab.
"Chiron. Wo ist er hin?"
"Oh, tut mir leid, dazu kann ich dir nichts sagen." Sie nahm Hopys Zügel und machte sich davon.
Ich lief hinter den beiden her. "Rita, das ist nicht fair. Ihr hättet mir ruhig sagen können, dass ihr ihn verkaufen wollt. Immerhin bin ich seit zwei Jahren seine Pflegerin und ..."
Ein Blick über die Schulter. "Stella, tut mir leid. Ich kann nicht mit dir darüber reden. Du wirst es schon noch erfahren ..."
Kopfkino. Was sollte das Rätsel. Irgendetwas Schlimmes, dass sie mir nicht zumuten wollte. Er war vollkommen gesund. Oder? Was verheimlichte sie? Aber ich sah ein, dass sie mir nichts mitteilen würde. Enttäuscht fuhr ich nach Hause und verkroch mich im Bett. Meine Freundin Janice schickte mir mindestens ein Dutzend Nachrichten. Aber ich hatte keine Lust, darauf einzugehen.
Die nächste Woche folgten alle möglichen Geschenke rund ums Reiten. Am 4. Advent sogar eine Zehnerkarte. Schade. Ich würde nie wieder einen Fuß in den Stall setzen.
"Stella, wir müssen reden."
Die Begrüßung am Frühstückstisch klang nicht sehr verheißungsvoll. "Was denn?"
"Mama und ich wollen über Silvester auf Kreuzfahrt. Wir dachten, du würdest sowieso lieber bei den Pferden sein, außerdem haben wir, trotz Mamas Beförderung nicht genug Geld, um für alle drei die vier Wochen zu bezahlen. Da ist schon zu viel von verplant."
"Lange Rede, kurzer Sinn", mischte sich Mama ein, "wir fahren alleine. Du passt bitte hier auf das Haus auf. Mach keinen Unfug, ja?"
Vier Wochen sturmfrei? Wie cool ist das denn. Unter anderen Umständen hätte ich sofort Leute eingeladen und Pläne geschmiedet. Aber so. Ohne Chiron ist alles doof. Ich zog eine Flunsch.
"Ach, Kind", seufzte Papa.
Es tat mir leid, dass er unter meiner Stimmung so leiden musste, aber ich konnte es nicht ändern.
Hätte mich irgendwas vorbereiten können? Am 21. fand ich einen Sattel im Advents-Versteck. Am 22. Westernstiefel. Die, die ich mir total gewünscht hatte. Am 23. ein Westernsattel. Freuen und Schmerz können ja so nah beieinander sein. Zu allem Überfluss eröffneten mir Papa und Mama, dass sie für den Weihnachtsabend einen Tisch in der Reiterklause bestellt hatten. Ich stöhnte. Alle würden da sein. Alle diese Privat-Reiter. Vereinsfunktionäre. Die Paten der Schulpferde vielleicht auch - an den Weihnachtstagen durften sie ihre Tiere nach Herzenslust bewegen, weil es keinen Unterricht gab. Auf das Ereignis hatte ich mich seit Monaten gefreut - meine Eltern hatten sich von mir breit schlagen lassen, nachdem ich die letzten Weihnachtsferien so ein Theater gemacht hatte. Aber als ich den Wunsch geäußert hatte, war Chiron noch da. Ohne ihn? Bloß nicht. Den anderen zusehen und Trübsal blasen, dabei lächeln. Auf keinen Fall. "Kann man das nicht abbestellen?" Wieder so ein Blickwechsel zwischen Mama und Papa. Mama schüttelte den Kopf. "Liebes, wir dachten, dich würde es freuen, an der Feier teilzuhaben. Du hast doch letztes Jahr so ein Theater gemacht ..."
Ja, letztes Jahr.
"Stella, wir haben den Tisch reserviert, auf deinen Wunsch hin. Nun versuch' wenigstens, dich zu freuen."
Ungewohnt bestimmter Tonfall. So kenne ich meinen Vater gar nicht.
Ich gab mich geschlagen. Aber Lust hatte ich keine.
Die Reiterklause quoll über vor Menschen, die sich an den Tischen drängten und gegenseitig zuprosteten. Alle waren mit sich beschäftigt, von uns nahm erstmal niemand Notiz. Sekt, Wein und Bier flossen in Strömen und in der Mitte des Saales bogen sich die Tische unter einem Buffet, das hauptsächlich dem "gut bürgerlichen Geschmack" gewidmet war. Mit anderen Wort: Kaum etwas für mich.
Papa orderte wunderschöne Cocktails und stieß damit feierlich an. "Auf ein neues schönes Jahr mit meinen Lieben."
Wir prosteten ihm zu.
"Willst du nicht in den Stall gehen?" Mama schaute mich mit einem Blick an, den ich nicht deuten konnte.
Mir fiel auf, wie lustlos ich im Essen herumstocherte. Eigentlich zog mich nichts, aber auch gar nichts zu den Boxen.
Papa schob mir einen Schlüssel zu.
"Nr. 37" stand auf einem daran befestigten Schildchen. Hatten sie mir einen der zu knapp bemessenen Spinde ergattert? Die waren eigentlich den Besitzern der Privatpferde vorbehalten. Ich nahm den Schlüssel an mich und machte mich auf den Weg.
Der Geruch von Pferden und Heu schlug mir warm entgegen. Ich sog ihn tief ein und merkte, wie sehr ich ihn in den letzten Wochen vermisst hatte. Noch waren alle beim Essen. Trotzdem war die besondere Atmosphäre von Weihnachten auch hier zu spüren. Die Tiere merkten, dass heute etwas anders war als gewohnt und waren entsprechend unruhig. Obwohl ich mich noch nie im Raum mit den Schränken umgesehen hatte, fand ich mühelos das graue Ungetüm mit der leuchtend grün aufgeklebten 37. Das gedimmte Licht machte es mir nicht leicht, das Schloss aufzunesteln.
"Uuuuiiiiieeehuuuiiieeeh!"
Das Geräusch kannte ich! Mein Kopf schoss in die Höhe, die Ohren gespitzt. Ein Wiehern unter Tausenden, egal wann oder wo. Ich würde es immer erkennen. Eilig rannte ich zu den Schulpferden. Aber da war immer noch der Schimmel in seiner Box.
"Uuuuiiiiieeehuuuiiieeeh!"
Aus Richtung der Privatboxen? Wahnsinn, was für ein Zufall, dass der unbekannte Käufer ihn hier einquartiert hatte. Das war er doch, oder?
"Uuuuiiiiieeehuuuiiieeeh!"
So schnell es im Stall schicklich war, um die Pferde nicht zu erschrecken, bewegte ich mich in die Richtung, aus der das Wiehern tönte. Nichts zu sehen. Ich lehnte mich über die Boxentür. Ein Pferdekopf hob sich und prallte mit meiner Nase zusammen. "Aua!" Diese Nüstern hatte ich so oft gestreichelt. Unser Zusammenprall war der schönste Schmerz, den ich bisher erlebt hatte. Ich trat einen Schritt zurück. Der winzig kleine weiße Fleck auf seinen Nüstern. "Chiron! Ich hab dich so vermisst!" Ich fiel ihm um den Hals. "Ich muss unbedingt mit deinem neuen Besitzer sprechen. Vielleicht darf ich dich manchmal reiten, wenn er im Urlaub ist."
"Na, das nenn ich mal Liebe." Hinter mir stand Henrik. Er grinste mich an. "Glückwunsch!"
Wäre ich nicht so glücklich gewesen, ich hätte ihm etwas Unfreundliches geantwortet. Wenn er was über Chirons Verbleib gewusst hatte, warum hat er nichts gesagt?
"Du musst mich für bescheuert gehalten haben, als ich dir das über Chiron erzählt habe. Ich wusste ja nicht, dass du ihn selbst erworben hast."
"Dass ich was?" Offenbar ist es mein Schicksal, ihm gegenüber auszusehen wie eine Idiotin. Mein Mund stand wieder einmal offen.
"Nicht? Ist das nicht dein Name?" Er zeigte zur Plakette an der Wand, die Name des Pferdes und Besitzers aufwies. "S. Kaltenweil", las er mir vor.
Kaltenweil? Was?
In diesem Moment kamen meine Eltern um die Ecke. Papa schleppte meinen neuen Sattel, Mama trug eine Kiste mit Putzsachen und hatte meine Trense über die Schulter gehängt. "Wir dachten, wir sehen mal nach, wie es dir so ergeht ..." In Papas Augen lag ein spitzbübisches Grinsen.
"Vielleicht willst du dich doch am Weihnachtsreiten beteiligen?" Mama drückte mir die Kiste in die Hand.
Ich stellte sie ab und umarmte erst Papa, dann Mama. "Heißt das, Chiron ist ... Chiron gehört jetzt ...?" Ich wagte es nicht auszusprechen. "S." könnte genauso gut für Sabine, also meine Mutter stehen.
Sie nickte. "Wir wollten ihn eine Weile vom Schulunterricht befreien, bevor du ihn bekommst."
"Außerdem willst du doch Westernreiten lernen. Da dachten wir, wir bringen ihn zu einem Trainer, der ihm schon ein paar Grundlagen beibringt. Dann könnt ihr zusammen leichter lernen ..."
"... leider ist der nächste gute Trainer einige hundert Kilometer entfernt von hier ..."
"... verzeihst du uns, dass wir dir nichts verraten haben?"
"Ich mach dann mal Schneeflocke fertig", sagte Henrik. "Bis nachher in der Halle. Du kommst doch auch?"
Ich hatte ihn praktisch vergessen. "Ja, tschüß, bis nachher", rief ich ihm nach.
Meine Eltern zogen sich ins Restaurant zurück. "Wir schauen euch dann zu, Liebes!"
Ich striegelte Chiron und sattelte ihn. "Komm, wir schauen uns die Sternenwelt an", flüsterte ich, während er mir durch den Gang folgte. Mittlerweile kamen immer mehr Reiter in den Stall. Bald würden sie sich mit ihren Pferden in der Halle drängen. Mir war nach etwas anderem und Chiron teilte offenbar meine Vorliebe. Er sog die kalte Nachtluft in seine Nüstern und wieherte. Dann ritten wir zum Wald hinuter, direkt zum See und an dessen Ufer entlang. Hier war der Weg gut im Mondlicht zu erkennen. Bereitwillig fiel das schönste Pferd der Welt in Gallopp. Später ging es langsamer durch den Wald zurück. Nur erstaunlich, dass er kein bisschen verschwitzt war, als wir wieder im Lichtschein der Gebäude auftauchten. Kurzerhand steuerte ich ihn zur Halle.
"Tür frei."
"Ist frei."
Und mein Traum vom Weihnachtsreiten wurde wahr. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin. Irgendwann musste ich Chiron natürlich in seine Box bringen. Am liebsten wäre ich gleich bei ihm geblieben. Doch ein Pferd braucht auch Ruhe. Also räumte ich meine Sachen in den Schrank und ging zurück ins Restaurant. Ich muss sagen, es gab doch viel zu viele Leckereien beim Buffet. Die Cocktails waren klasse.
"Das ist doch in Ordnung für dich, wenn wir alleine verreisen", erkundigte sich Papa. Er wirkte wirklich etwas besorgt über meine Reaktion. "Wir wollen dich nicht abschieben oder so ..."
Ich lachte. "Keine Angst, ich habe sowieso keine Zeit für Kreuzfahrten."
Der Abend wurde noch sehr gemütlich. Später schrieb ich mit meinen Freundinnen. Janice freute sich mit mir und war erleichtert, dass ich sie Silvester einlud. Sie hatte noch nichts vor. Erstaunlicherweise auch einige andere. Die sturmfreie Zeit konnte kommen! Auch wenn ich die meiste Zeit davon im Stall sein würde ...