Jason packte die Frau bei den Armen und zog sie über die Reling ins Boot.
"Sind Sie verrückt geworden? Sie hätten tot sein können!"
Sie war schwerer, als sie aussah. Er half ihr auf die Beine. Die runde Brille auf der Nase verrutscht und das Haar klatschnass an ihrer Haut klebend gab sie ein erbärmliches Bild ab.
"Kommen Sie erstmal unter Deck, bevor Sie sich noch eine Erkältung einfangen."
Nachdem er sie in eine warme Decke eingewickelt und ihr eine Tasse dampfend heissen Tee in die Hände gedrückt hatte, fragte Jason die Unbekannte nach ihrem Namen.
"Mel. Melinda Carper. Aber meine Freunde nennen mich Mel."
"Hallo Mel. Ich heiße Jason."
Er krempelte die Ärmel seines Arbeitshemdes hoch und entblößte zwei muskulöse, stark behaarte Arme.
Mel stellte sich vor, wie weich sich dieses "Fell" anfühlen musste. Sie wich dem Blick ihres Retters aus und fühlte Hitze in sich aufsteigen.
Das Schwanken des Bootes gab ihr ein flaues Gefühl im Magen. Oder war es das Adrenalin, das immer noch in ihren Adern floss?
Räuspernd versuchte sie den Kloss in ihrem Hals loszuwerden.
Warum ausgerechnet jetzt?
Warum musste sie immer in den unmöglichsten Situationen an Sex denken?
Gerade noch wäre sie beinahe ertrunken oder was war gleich passiert?
Sie kannte diesen Mann nicht einmal und mit Sicherheit war sie nicht das, was gemeinhin als attraktiv galt.
Oh Gott, wo gingen ihre Gedanken nur hin?
Jason, der von alledem nichts ahnte, bemerkte lediglich die Röte in Mels Gesicht.
"Ich bring Sie besser an Land, bevor der Sturm uns überrascht. Sie sehen mir nicht gut aus. Dr. Fergus ist eine gute Freundin von mir. Sie sollten sich von ihr untersuchen lassen.
Was hat sie denn überhaupt geritten mitten auf dem Meer von ihrem Schiff zu springen?"
In Sekundenschnelle wich die Röte aus Mels Gesicht. Ihr wurde übel, die Eingeweide krampften sich zusammen und ihr entfuhr ein erstickter Schrei.
Die verdrängte Erinnerung drang mit Macht auf sie ein.
Pistolenschüsse, Schreie, Gesichter von ermorderten Passagieren; kleine, kläffende Handtaschenhündchen; Sektgläser, die auf dem Boden zerspringen; chaotische Elektromusik kracht aus Lautsprechern; der widerwärtige Geruch von verbrannten Haaren;
"Mel! Mel! Können Sie mich hören? Mel!"
Zitternd wiegte Mel sich vor und zurück. Sie hörte die Rufe nicht.
Doch ein neues Gefühl zog sie aus ihrem Alptraum. Wärme und Geborgenheit.
Das Zittern ließ langsam nach, ihr Atem beruhigte sich.
Sie spürte, wie sie gehalten wurde.
"Ich muss uns jetzt an Land bringen. Die Wellen werden schon stärker und bald ist hier die Hölle los."
Jason wollte die Frau ungern alleine lassen. Sie stand offensichtlich unter Schock. Aber er musste sie erstmal in Sicherheit bringen, dann würden sie weiter sehen.
Mel war es einerlei. Für sie war der wahre Sturm längst vorübergezogen.
Er war ohne Vorwarnung gekommen. Ohne Mitleid.
Am nächsten Morgen las Jason es in der Zeitung:
Terroranschlag auf die MS Smaragd
Die Terrorgruppe "Schwarzer Mai" hat sich zu dem Überfall auf das Kreuzfahrtschiff MS Smaragd bekannt, der sich gestern Nachmittag in der Nähe der Fidschi Inseln ereignet hat.
Mindestens 20 Menschen sind dabei getötet worden. 57 Verletzte und noch mindestens 2 vermisste Personen wurden gemeldet.
Darunter die Starreporterin der Morning Post von Seattle: Melinda Carper.
Für sachdienliche Hinweise wenden Sie sich bitte an ihre örtliche Polizeidienststelle.
Jason rief bei Dr. Fergus an, doch Melinda war bereits verschwunden.