Harbeks Informant, wie er sich selbst bezeichnete, entpuppte sich als alter und verwitterter Mann, dem die Jahre des Krieges und des Kummers in das zerknitterte Gesicht geschrieben standen. Er wartete auf sie in seiner engen, staubigen und von einer einzelnen Kerze beschienene Wachkammer in einem abgelegenen Teil des Palastes.
Keeda konnte ihm seine Lebensgeschichte beinah von den Augen ablesen. Er war sicher jung in die Armee eingetreten, noch vor dem Kriegsbeginn, seither hatte er mit vielen Verlusten umgehen müssen, die alle tiefe Kerben in seiner fahlen Haut hinterlassen hatten. Jahrelange Unzufriedenheit und Missfallen hatten sich wie eine zweite Haut über ihn gelegt.
Er knurrte sie wortkarg zur Begrüßung an und streckte Harbek fordernd die ausgestreckte Hand entgegen, der ihm daraufhin ebenso wortkarg einen Beutel hineinlegte, bei dessen Anblick erstmals eine Gefühlsregung im starren Gesicht des Mannes zu entdecken war. Seine Augen leuchteten gierig auf und sein Mund verzog sich zu einem süffisanten Grinsen verzog, während er den Beutel schnell in seinen Taschen verschwinden ließ.
„Harbek, alter Freund. Es ist mir immer eine Freude dich zu sehen“, raunte er mit rauchiger Stimme und zeigte grinsend seine gelben Zähne. Harbek schlug kräftig in den Handgruß ein, wogegen Alice angewidert den Mund verzog und sich unauffällig hinter Keeda zurück zog, die mit verschränkten Armen drohend über den Mann aufragte.
Er sah die Drow kurz an und an die Stelle der freudigen Gier trat blanker Hass. „Was will denn eine von denen hier?“ zischte er Harbek wütend an und zeigte drohend auf Keeda.
„Beachte sie nicht“, knurrte Harbek und warf der Drow aus dem Augenwinkel einen entschuldigenden Blick zu, „Sie ist ein Niemand.“
„Das will ich aber auch meinen“, brummte die Wache und spuckte angewidert aus. Alice Mund verzog sich bei diesem Anblick zu einer Grimasse und wand sich schüttelnd ab.
„Und deine kleine Freundin?“, fragte er und grinste Alice anzüglich an, „Was ist mit dir Kleine? Ich hoffe mein alter Freund schenkt dir genug Beachtung, wenn nicht … meine Tür steht dir immer offen“, sein Grinsen wurde breiter. Keeda griff schnell nach hinten und umschloss Alice Hand, die ihre Geste dankbar erwiderte.
Tief durchatmend räusperte sich Alice und sah ihren Informant prüfend an, „Was hast du für uns?“
Die Wache lehnte sich zurück und faltete die Hände über dem prallem Bauch, „Kommt darauf an, was ihr wissen möchtet“, antwortete er kryptisch und sah sie und Harbek fragend an.
„Alles was du über Valindra und den Krieg weißt, was, wie soll ich es sagen, nicht für unsere Ohren bestimmt sein sollte“, antwortete Harbek sachlich und sah seinen alten Freund auffordernd an.
„Bedrückende Themen habt ihr euch da ausgesucht, über diese Dinge wird in der Enclave ungern gesprochen, wisst ihr?“, entgegnete die Wache und zuckte teilnahmslos mit den Schultern, „Aber zu eurem Glück hab ich mich noch nie um den Mist der anderen gekümmert.
Über Validra weiß ich nicht viel, nur dass sie eine ganz schön durchgeknallte Hexe ist, die die Herrschaft an sich reißen, alles Lebendige ausrotten und die Welt in Schatten und Feuer hüllen möchte. Nichts, was nicht jeder weiß. Was jedoch den Krieg betrifft …“, er beugte sich näher zu Harbek und senkte verschwörerisch die Stimme, „Über den weiß ich einiges. Ich bin hier auf meine alten Tage für den Nachrichtenverkehr zuständig und manchmal löst sich das Band der Schriftrolle, oder das Siegel wurde während der Überstellung gebrochen, wenn ich versteht was ich meine, und dann kann es passieren, dass ein kleiner Wachmann wie ich von den großen Entscheidungen erfährt.“
Er zwinkerte Alice herausfordernd zu und ein diebisches Grinsen breitete sich über seine Züge aus, „Ein Glück bin ich keiner der verweichlichten Sorte wie der ganze Jungspund, den sie mir frisch aus dem Armeelager schicken, denn das was ich manchmal zu lesen oder hören bekomme, kann einem die Seele auffressen. Man bekommt eine Scheißangst, wenn selbst die Mächtigsten unter uns vor Furcht zittern und das tun sie.
Ich bete täglich, dass ich diese Welt verlasse, bevor Valindra uns alle bei lebendigen Leib verbrennt und das wird sie am Ende, denn um unser kleines Königreich steht es weit aus beschissener als unser verehrter Lord zugeben will.
Ich hab von ganzen Armeen an Untoten gelesen, die über die Neverdeath Friedhöfe wandeln und alles und jeden angreifen und nicht nur sie. Es treiben sich auch Weidmänner mit ihren Wölfen in unseren Ländereien herum und plündern ohne Skrupel, sie sollen sich, genau wie die verfluchten Dunkelelfen mit der Nekromantenkönigin verbündet haben.
Doch das ist bei weitem nicht das Schlimmste was Valindra im Schilde führt. In Helms Hold, hat sie die Tore zur Hölle geöffnet, sodass Dämonen und Teufel die Dörfer befallen, rote Magier sind immer an ihrer Seite und lassen das Land zu ihren Füßen brennen, während die unschuldigen Bürger nichts anderes tun können, als in Scharen zu sterben.
Überall werden sie von Valindras Schergen getötet, und wenn sie nicht krepieren, trifft sie ihr abscheulicher Hexenfluch. Die Zauberpest nennt man ihn mittlerweile, sie verwandelt die Menschen in abscheuliche Monster, willenlos und bärenstark, die Valindra wie weiches Wachs nach belieben Formen kann. Es wird gemunkelt, dass es ein Heilmittel gäbe, doch egal wie viele die Heiler versuchen zu retten, es erkranken immer mehr.
Und als ob Valindra und ihre Anhänger nicht genug wären, haben die Orks des Vielpfeil-Stammes einen Krieg begonnen, um ihr Land nach über zehn Jahren wieder zurück zu erobern. Sie haben Teile des Viertels mit Barrikaden verbarrikadiert und sich riesige Belagerungstürme und Festungen aus zusammengeklaubten Holzteilen gebaut. Unglaublich!“
Der Wachmann schwieg und fuhr sich aufgebracht durch das lichter werdende Haar und das unrasierte Gesicht. In seinen Augen lag ein mutloser und erschöpfter Ausdruck. „Doch nichts von alldem wird je an die Öffentlichkeit gelangen, im Gegenteil. Unser verehrter Lord hält sogar große Reden über das baldige Ende des Krieges, über die Zurückeroberung des Blacklake Viertels, der Vernichtung der Nasher und schwärmt vom Rückgang der Flüchtlingsströme. Natürlich geht die Anzahl der Flüchtlinge zurück, wenn außerhalb der Enclave fast niemand mehr am Leben ist!
Aber Nein, Neverember spricht davon, dass man bereits neue Dörfer errichtet hätte, in die die Menschen ziehen würden und das schon in absehbarer Zeit Frieden herrscht und was hat er dafür getan? Nichts! Nichts hat der Dreckskerl getan. Die Verstärkungen, die er in die bedrohten Gebiete schickt grenzen ans Lächerliche und die wenigen Schlachten, die wir geschlagen und gewonnen haben, haben uns schwere Verluste gekostet.
Wenn ihr mich fragt, zögert er das Unvermeidliche nur heraus. Wir werden verlieren, Valindra wird siegen und am Ende die ganze Welt unterjochen.“
Der Wachmann atmete tief durch und sah betrübt zu Boden. Während seinen Schilderungen hatte sein Gemüt ständig zwischen zügelloser Wut und verzweifelter Angst gewechselt, um am Ende tiefer Traurigkeit zu weichen. Er zuckte mit den Schultern und sah wieder zu Harbek auf, in dessen Gesicht sich die gleiche Traurigkeit spiegelte.
Alice hatte bestürzt die Hände vor den Mund geschlagen und hörte sprachlos den Worten des Informanten zu, bis dieser verstummte. Erst da ließ sie sie wieder sinken und legte Keeda beruhigend eine Hand auf die bebende Schulter.
„Was wisst ihr über Neverember?“, stieß diese zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und sah die Wache mit feurigem Blick zornig an. Der Mann erwiderte den Blick müde und schüttelte langsam, immer wieder den Kopf.
„Er ist ein Dreckskerl. Ein dreckiger Bastard und verdammter Glückspils. Er kam erst lange nach mir in diesen Palast und fing hier als junger Mann an. Meist hielt er Wache an den Türen, nichts ernstes, reine Machtdemonstration, bis er durch reines Glück zur richtigen Zeit, am richtigen Ort war. Er rettete unserem Prinzen und künftigen König, mögen die Götter über ihn wachen, das Leben. Prompt wurde er zu dessen persönlichen Berater ernannt und wie ein Held verehrt.
Ich weiß noch wie hochnäsig er danach durch die Gänge und Tore stolzierte, die er noch Wochen zuvor, täglich selbst bewachen musste.
Ich weiß wie das klingt. Es klingt nach einem alten, eifersüchtigen Mann, der einem jungen Emporkömmling den Aufstieg vergönnt, und vielleicht stimmt es sogar, aber ich sage euch, Neverember ist nur durch Zufall dort, wo er heute ist. Er hat weder in einem Krieg gekämpft, noch das Armeelager je von innen gesehen.
Wie gesagt, er ist ein Dreckskerl, doch leider auch der einzige Anführer, den diese Stadt hat.“
Keeda nickte bedächtig und wand sich von dem alten Mann ab, um Alice fragend in die Augen zu schauen. Sie nickte ihr zu und räusperte sich vernehmlich.
„Danke. Das war alles was wir wissen wollten.“
„Immer gerne Süße, ich hoffe ihr habt genug Albträume für euer Geld bekommen und wenn es dich zu sehr gruseln sollte, mein Angebot von Vorhin steht noch.“
Angewidert wandte sich Alice ab und verließ wortlos den Raum, dicht gefolgt von Keeda und Harbek, der sich mit einem Nicken und der Warnung, er solle niemandem von ihrem Auftauchen erzählen wenn ihm sein Leben lieb sei, von seinem alten Bekannten verabschiedete.
Draußen angelangt schlichen sie auf leisen Sohlen erneut durch die schattigen Gänge und hinaus ins Freie. Der Mond stand mittlerweile hoch am Himmel und tauchte die Stadt in bläulich-kaltes Licht. Der Wind heulte durch die engen Gassen, fuhr ihnen kalt unter die Kleidung und hüllte sie in den modrigen Geruch von Morast und feuchten Wänden.
Noch immer lautlos folgten sie dem Gewirr aus Gassen bis sie erneut bei ihrer Unterkunft ankamen und sich argwöhnisch umsahen. Niemand schien ihnen gefolgt zu sein und bis auf das fauchende Kreischen einiger, sich streitender Katzen in den Seitengassen, lag eine Grabesstille über der Stadt.
Frierend rieb sich Alice die Arme und blieb auf dem Treppenabsatz des Einganges stehen, um sich zu ihren Gefährten umzuschauen.
„Heute haben wir viele Antworten gefunden“, flüsterte Keeda zufrieden und trat neben Harbek, der sie mit einem wissenden Blick musterte und schließlich ergänzte: „Doch wir haben ebenso viele neue Fragen erhalten und die wichtigste von ihnen lautet: Was nun?“
Er sah fragend von Keeda zu Alice, deren Hand bereits auf der Klinke ruhte. „Wir müssen den Krieg beenden und diesen armen Menschen ihren wohlverdienten Frieden bringen, doch zuvor möchte ich morgen eine alte Freundin besuchen. Unser Besuch bei Harbeks Freund hat mich auf den Gedanken gebracht. Gut möglich, dass sie uns noch weitere Auskünfte geben kann.“
Harbek und Keeda sahen sie überrascht an, Alice hatte nie von Bekannten in der Enclave gesprochen, doch sie willigten bereitwillig ein.
Ein Besuch bei einer alten Freundin, die noch dazu kostenlose Auskünfte geben konnte, für die man nicht stundenlang zwischen staubigen Bücherregalen umherirren musste, war nach der Hektik der letzten Tage eine willkommene Abwechselung.