Der Stern von Bethlehem war ein müder Scherz gewesen, gegen das Ding, das in wahnwitziger Geschwindigkeit von der Spitze des Christbaumes quer durchs Wohnzimmer schoss, bevor es mit voller Wucht die Fensterscheibe durchschlug.
Wenig liebevoll, aber bestimmt in bester Absicht, war Annemarie von ihrem Mann gerade noch rechtzeitig zu Boden gerissen worden. Nur um Haaresbreite von dem goldenen Etwas verfehlt.
Panisch versuchte Reinhard hinter die Couch zu robben, ein ambitionierter Plan, mit seinen positiv geschätzten zwanzig Kilo Übergewicht, als ein dumpfer Knall dem Dauerfeuer aus antiken Glaskugeln, Lametta und Tannennadeln ein jähes Ende setzte.
Kurzschlüsse können Leben retten. Es war ein Wunder. Ein Weihnachtswunder!
Massiv angepisst, wie vermutlich nur Teenager das schaffen, schaute Manuel auf seine Eltern hinab. Wie gewöhnlich hatte er dabei sein Handy am Ohr. Annemarie konnte sich noch dunkel daran erinnern, wie der Junge ohne das Gerät, im oder vor seinem Gesicht, ausgesehen hatte. Damals. Als sie mit heißem Kakao und selbst gebackenen Keksen seine Augen und die seiner besten Freunde, Benni, Kai und Korbi, zum Glänzen gebracht hatte.
So was ginge ja heute gar nicht mehr. Die waren inzwischen Veganer oder wenigstens laktoseintolerant und nannten sich gegenseitig nur noch "Bro".
Wann war aus Ihrem fröhlichen, kleinen Jungen dieser dauergenervte, desinteressierte Sechzehnjährige geworden?
Annemarie war nicht sicher, was sie mehr schockierte. Der erbärmliche Zustand des Wohnzimmers, oder die schlagartige Erkenntnis, dass irgendwann eine Frau aus ihr geworden war, die so etwas aus der Bahn warf.
"Schatz!", japste Reinhard atemlos. "Ich habe den rotierenden Christbaumständer repariert!"
Vielleicht zur Feier des Tages, es war schließlich Heiligabend, oder einfach, weil das Ausmaß der Verwüstung es definitiv herausforderte, erweiterte Manuel das überschaubare Spektrum seiner sichtbaren Gefühlsregungen um gleich zwei weitere: Zuerst Missbilligung, dann tiefe Scham. Fremdschämen.
"Jaaaa... Broooo... Bin noch dran ..."
Was zuvor geschah.
Oder: Süßer Schnee schneit auch nicht weißer.
Annemarie hätte auch Puderzucker nehmen können, um ihr Lebkuchenhaus zu vollenden. Aber dann wäre es nicht perfekt gewesen. Daher hatte sie kurz vor Geschäftsschluss einen Supermarkt gestürmt, um süßen Schnee zu besorgen, weil der nicht schmolz. Frierend hatte sie die schwere Eingangstür des Mehrparteienhauses aufgestemmt und sich echten Schnee vom Mantel geschüttelt, der sehr wohl schmolz. So gar nicht weihnachtlicher Stimmung war sie ins Warme geschlüpft, wo ein zarter Duft nach Keksen, Zimt und Früchtetee, sie umfangen und wieder mit der Welt versöhnt hatte. Wenigstens ansatzweise.
An der Treppe war ihr Kevin-Dennis aus dem vierten Stock entgegen geschlendert und hatte tiefenentspannt ein frohes Fest gewünscht. Wohl durch eine Verkettung unglücklicher Umstände und falscher Entscheidungen, war der Student mitten am Nachmittag wach gewesen und in Bewegung. Beides mehr oder weniger.
Kurz darauf war das charakteristische Klacken viel zu hoher Absätze durch das Treppenhaus gehallt und Uwe aus dem zweiten Stock erschienen. Ausgerechnet. Fast wäre es wieder vorbei gewesen, mit Annemaries, ohnehin nur in Ansätzen vorhandenem, inneren Frieden.
Uwe schimpfte vor sich hin, auf den jungen Mann, der eben aus seinem Blickfeld verschwunden war.
Der Beamte war ein echter Sonnenschein. Besonders auf Judith und Sarah aus dem Erdgeschoß, die zusammenlebten und zwei gemeinsame Kinder hatten, hatte er es abgesehen. Da konnten der kleine Finn und sein Schwesterchen Zoe noch so herzig und gut erzogen sein, das war ja wohl der Gipfel! Ihre Mütter waren verantwortlich für den Untergang des Abendlandes, die Corona-Krise und die Klimaerwärmung.
Die anderen Nachbarn kamen kaum besser weg. Kevin-Dennis zum Beispiel, war Uwes Ansicht nach ein Gesellschaftsversager, der auf Kosten der Allgemeinheit schmarotzte und es nie zu etwas bringen würde. Niemals.
Uwe selbst hatte es, eigenen Maßstäben zufolge, zu etwas gebracht: Nämlich zu Svetlana. Seiner Frau. Was das klackende Geräusch neben ihm erklärt hatte.
Svetlana hatte begeistert einen lautstarken Weihnachtsgruß in ihrer Muttersprache durch das Treppenhaus geträllert. Annemarie hatte frohe Weihnachten auf Russich zurückgewünscht und war dafür überschwänglich an den üppigen Silikonbusen ihrer Nachbarin gedrückt worden.
Das wäre nicht nötig gewesen. Wirklich nicht.
Im obersten Stock war hektisch eine Tür zugeschlagen worden.
Unbestätigten Gerüchten zufolge, hatte Uwe seine Frau aus einem Katalog ausgesucht. Svetlana sei ganz besonders anständig und würde ohne ihn nicht mal das Haus verlassen, schwor Uwe. Und dass sie, nicht erst seit sie neue Brüste hatte, die man im ersten Jahr leider nicht anfassen durfte, ganz besonders schamhaft sei. Was sicher an ihrem Glauben läge. Der so tief wäre, dass die Svetlana zum Beten sogar auf den Dachboden ginge. Näher zum Herrn. Tatsächlich hatte schon so mancher Nachbar sie von oben, "Oh Gott! Oooh Gooooott!", rufen hören.
So eine Frau, war der Uwe sich sicher, würde man in Österreich gar nicht finden.
Annemarie war der Meinung, der Uwe würde in Österreich überhaupt keine finden.
Lokalpolitiker Klaus Weber hatte sich ebenfalls kurz blicken lassen. Er hatte seit neuestem einen Hund. Zum Glück. Hätte der Mischling aus dem ungarischen Tierheim ihn nicht unerbittlich in Richtung Wohnung gezogen, hätte Klaus es diesmal vielleicht nicht mehr geschafft, seine Stielaugen vom einladend ausladenden Dekolleté der sittsamen Katalog-Svetlana zu lösen.
"Das ist scheeene Haaandtaaasche", hatte eben diese gegurrt und zuerst einen begehrlichen Blick auf Annemaries Umhängsel und dann einen herausfordernden auf Uwe geworfen.
Dem war umgehend kalter Schweiß ausgebrochen. So eine Frau musste Mann sich erst mal leisten können. Alleine die beiden Weihnachtsfeste! Das heutige, wegen der Integration, die der Svetlana sehr wichtig war. Und das am 7. Jänner, nach dem julianischen Kalender, wegen der Tradition.
Das bedeutete Überstunden für Uwe. Und nicht zu knapp.
Der süße Schnee hatte in Annemaries Tasche gelegen, wie ein Stein. Dieses verdammte Lebkuchenhaus! Erschaffen, nur aus einem einzigen Grund: Um die Gesichtszüge ihrer Schwiegermutter, die in weniger als einer Stunde hier aufschlagen würde, zum Entgleisen zu bringen. Nur um das zu sehen, lohnte sich die wochenlange Arbeit.
Und das Leben allgemein.
Wäre es damals nach Bertha gegangen, hätte ihr einziger Sohn Mathilde Schiller-Bohrn geheiratet. Die Hoffnung, Reinhard würde doch noch zur Vernunft kommen, hatte Bertha nie aufgegeben.
Annemarie neigte immer öfter dazu, sich anzuschließen. Insbesondere, weil Reinhard die Spitzen seiner Mutter nicht mal zu bemerken schien. Würde er auch diesmal nicht. Er würde wieder an fremden Keksen knabbern, als würde Annemarie das nicht auffallen, und über die gesamten Feiertage wie ein debiler Trottel vor sich hin grinsen.
Das mit dem Lebkuchenhaus hatte eher harmlos seinen Anfang genommen. Mathilde Schiller-Bohrn, Reinhards Ex, hatte vor mehr als zwanzig Jahren eines gebaut und damit den Backwettbewerb ihrer Kirchengemeinde gewonnen. Die fragwürdigen Hobbys frustrierter Hausfrauen hätten Annemarie egal sein können. Wenn nicht ihre Schwiegermutter an Heiligabend eben dieses Haus ihrem Jungen mitgebracht hätte.
Das war daneben gewesen. So was von. Fand wenigstens Annemarie. Schon am nächsten Weihnachtsfest hatte sie ein eigenes gehabt, das jenes von Mathilde Schiller-Bohrn definitiv in den Schatten gestellt hatte, was selbst Bertha pikiert hatte zur Kenntnis nehmen müssen.
Zugegeben, danach war die Sache irgendwie aus den Fugen geraten. Deswegen stand jetzt im Wohnzimmer eine Nachbildung der Ischler Kaiservilla, inklusive Brunnen und einem Teil des Parks.
War das bescheuert? Na klar. Wusste Annemarie das? Selbstverständlich! Aber an diesem Punkt, gab es verdammt nochmal kein Zurück mehr!
Sie hatte ihre Wohnungstür aufgeschlossen, Mantel und Stiefel ausgezogen, war dem Ruf ihres Mannes ins Wohnzimmer gefolgt ... und dann ... nichts.
Am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages.
Oder: Ein Lebkuchenhaus schlug zurück.
"Mama?"
Ihr Kopf dröhnte besorgniserregend, der eine Arm lag in Gips - und sie selbst rappelte sich in einem Krankenbett hoch! Konnte ja wohl nicht wahr sein!
"Mama!" Manuel warf sich zu ihr in die Kissen und wischte sich mit dem Ärmel seines Sweatshirts über das verweinte Gesicht. "Gott sei Dank!"
Es war wundervoll. Es musste Jahre her sein, seit ihr Sohn sich zuletzt freiwillig an sie gekuschelt hatte. Oder überhaupt eine Form der Zuneigung offen gezeigt hatte. War sicher uncool in seinem Alter.
"Was ist denn passiert? Und ... was ist da draußen los?"
"Der Baum ist komplett umgefallen, hat den Kronleuchter mitgerissen, danach ... Es war eine Kettenreaktion. Ist auch egal, jedenfalls bist du am Ende von deinem Lebkuchenhaus und seiner Bodenplatte getroffen und darunter begraben worden", erklärte Manuel ernst. "Das auf dem Gang sind nur die Nachbarn. Alle machen sich Sorgen."
"Unsere Nahbarn? Alle?"
"Fast. Der Uwe weiß noch nichts. Der fährt Langstrecke im Nachtzug nach Venedig. Mama, das glaubst du nicht", redete Manuel ohne Punkt und Komma weiter, "unser Haus ist von einer Spezialeinheit umstellt!" In seinem Gesicht war reine Begeisterung!
"Was?"
"Ja! Der alte Kalinke hat sich schwer bewaffnet mit Oma in seiner Wohnung verbarrikadiert! Es war vorhin sogar im Frühstücksfernsehen. Er ist wie Rambo. Nur in ... uralt." Manuel nickte feierlich. "So krass cool."
Der Weltkriegsveteran und ehemalige Fremdenlegionär, von dem Annemarie befürchtet hatte, er hätte sich aufgegeben, hatte offenbar neuen Lebenssinn gefunden. Schön. Irgendwie, wenigstens.
"Warum macht er denn so was?"
"Er sagt, er wurde beschossen, als er den Müll rausgetragen hat. Und dass es Russen waren."
Seltsam. Wie kam er denn darauf?
"Er hat dann sofort die Stromversorgung im Haus gekappt und einen Guerillakrieg begonnen."
Doch kein Weihnachtswunder, dieser Kurzschluss. "Und Oma hat er als Geisel?"
"Nö. Die ist freiwillig dort. Oh. Und es gibt eine Petition zu unterschreiben."
"Versucht Uwe wieder Judith und Sarah aus dem Haus zu kriegen?"
"Nein. Obwohl ... ja, das auch. Aber das unterschreibt keiner. Nein, der Kevin-Dennis hat eine gestartet, die online ist. #freeruditherednosedrentner. Hat schon viertausend Zustimmungen! Rudi ist im Netz ein Held. Darum hat der Weber sich jetzt der Sache angenommen, weil das kommt bei den Wählern noch besser an, als sein Hund mit Migrationshintergrund. Ich schicke dir den Link."
"Zum Hund?"
"Nein. Zum Rudi."
Tief gezeichnet von Sorge, Schlafentzug und schlechtem Gewissen, betrat Reinhard das Zimmer. Er sah am Boden zerstört aus.
"Schatz?" Nervös trat er von einem Bein auf das andere. "Es ist alles meine Schuld."
Annemarie zweifelte inzwischen stark daran. Vielmehr festigte sich der Verdacht, dass sie diese Aneinanderreihung von Ereignissen selbst ausgelöst hatte. Abgesehen von dem Polizeieinsatz. Damit hatte sie nichts zu tun.
"Ist es nicht", seufzte sie. "Die Fehlfunktion ... Mir ist sicher ein Missgeschick passiert, als ich das Teil in der Früh auseinander und wieder zusammen gebaut habe. Wollte sehen, wie es funktioniert. Ich hatte die Idee, im nächsten Jahr eine runde Bodenplatte ... "
Das fragwürdige Hobby einer frustrierten Hausfrau.
"Manuel sagte, deine Mutter ...?", fragte Annemarie aus reiner Höflichkeit. Und um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen.
"Oh ja. Ich weiß, wie großen Wert du auf ein Weihnachtsfest mit der Familie legst, deshalb habe ich nie was gesagt. Aber ohne Mama ist es mir lieber. Zum ersten Mal seit Jahren habe ich die Kekse vom Kevin-Dennis nicht gebraucht."
"Kekse vom Kevin-Dennis?", wiederholte Annemarie wenig intelligent. "Der kann backen?"
"Nein. Das ist mehr so eine Import-Export-Sache."
"Verstehe ich nicht."
"Kann ich auch so einen Keks haben?", fragte Manuel hoffnungsvoll.
"Nein. Du bist erst sechzehn."
Jetzt verstand sie es.
"Sei nicht traurig wegen deinem Lebkuchenhaus, Mama", meinte da Manuel tröstend. "Ein paar Teile der Fassade sind noch zu gebrauchen gewesen. Weil dir das super wichtig ist, haben wir daraus ein neues gebaut. Für dich."
Leicht windschief stand es da. Und ... bunt. Quietschbunt. Smarties, Zuckerperlen, Kekse ... "Oh", stellte Annemarie fest, "sind das Playmobil-Figuren?"
"Ja. Aber nur geliehen. Von Finn und Zoe."
"Ihr zwei habt das gemacht?"
"Nicht alleine. Judith und Sarah haben uns geholfen. Wir haben es gerade noch geschafft, bevor alle evakuiert worden sind. Judith kann sehr gut backen."
"Seit wann kennst du die beiden denn so gut?"
"Na ja", druckste Manuel herum. "Als sie eingezogen sind, habe ich geholfen ein paar Kartons zu tragen."
Das war vor zwei Jahren gewesen!
"Und seitdem", fuhr er leise fort, "bin ich halt ... öfter unten. Passe ab und zu auf die Kleinen auf, oder einfach nur so. Zum Reden, halt."
"Du kannst doch auch mit mir reden! Ich bin deine Mutter!"
"Schon, aber ..." Hilfesuchend schaute der Junge zu seinem Vater.
"Verstehe", meinte Annemarie. Es war im ersten Augenblick schmerzhaft. Aber es war normal und in Ordnung. Ab einem bestimmten Alter erzählte man seinen Eltern nicht mehr alles.
Hatte sie auch nicht. Zum Beispiel davon, dass sie immer noch ein paar Brocken Russisch konnte, weil sie einen Sommer lang etwas mit dem Drummer einer Heavy Metal Band aus Krasnojarsk am Laufen gehabt hatte.
Mann. Die waren echt grottenschlecht gewesen.
Moment. Das Treppenhaus, Svetlana, die russischen Weihnachtswünsche ... Wenn Rudi Kalinke das gehört hatte ... Super. Annemarie musste unbedigt diese Petition unterschreiben.
Erwartungsvoll kuschelte Manuel sich wieder an seine Mutter. Sein Vater nahm auf der anderen Seite des Bettes Platz und sah nicht weniger gespannt aus. "Gefällt es dir?"
Das grelle Ding war wie ein Autounfall. Es war furchtbar, aber Annemarie konnte einfach nicht wegsehen. Die Worte, "Mit Liebe gemacht", bekamen durch dieses Geschenk eine ganz neue Bedeutung. Es sah nach Begeisterung aus, nach Spaß und nach Puderzucker. Drei Dinge, die ihr auf dem Weg durchs Leben fast verloren gegangen wären. Es war noch nicht zu spät für eine drastische Kehrtwende.
Sie hatte einen tollen Sohn, der langsam erwachsen wurde. Mit allen Begleiterscheinungen, inklusive Bros und Fremdschämen für seine Eltern. Beruhigend normal, eben.
Sie hatte den Mann an ihrer Seite, in den sie sich vor über zwanzig Jahren verliebt hatte. Daran hatte sich im Wesentlichen nichts geändert. Obwohl er eine Mutter und offenbar auch ein kleines Drogenproblem hatte. Wenn auch nur über die Weihnachtsfeiertage.
Und sie hatte eine Menge Nachbarn, die gerade freudig das Zimmer stürmten, weil sie sie mochten.
Und weil sie nicht in ihre Wohnungen durften.
Das war doch eine gute Basis.
"Es ist", nickte sie aufrichtig gerührt, "das schönste Lebkuchenhaus, das wir jemals hatten."
EPILOG
Im obersten Stockwerk knabberte am Nachmittag des gleichen Tages Kevin-Dennis selig grinsend an einer Import-Export Haselnussmakrone, seine Aufmerksamkeit auf ein blinkendes Rentiergeweih gerichtet.
"Ist Weihnaaachteeen", gurrte es aus Richtung seines Bettes. "Daaachte ich mir, ich ziehe aaausnahmsweeeise was aaan."
ENDE