Nichts als schneeweißes Glitzern, als sie den Kopf hob und das Schimmern der leuchtenden Punkte am Firmament erkannte. Nichts als die schimmernde Dunkelheit über ihr und diese glanzvollen Momente, die um sie herum im Augenblick versunken waren. Eingefroren in der Ewigkeit. Niemals würden diese Lebewesen, sei es das Grün der Tannen oder der Herzschlag eines Fuchses, wieder aus diesem Atemzug verschwinden können. Einzig sie bewegte sich zwischen den Reihen des spiegelhaften Eises und spürte die sinnliche Ruhe, als die leichten Schneeflocken ihren Weg zu ihr fanden. Nein, dachte sie, als sie eine der kunstvollen Einzigartigkeiten in ihrer Hand wiederfand. Sie bewegten sich. Nur sie war die Einzige, die lebendig war.
Federleicht fanden ihre Füße den Weg, den sie nur einmal in einer Dekade sich erlaubte zu gehen. Während die sanfte Brise ihre blasse Haut küsste und ihr das Gefühl einer Umarmung gab, trat sie voller Bewusstsein in die Mitte des Eiswaldes. Zu einem kleinen See, nicht größer als sie selbst. Wie jedes Mal, wenn sie sich auf den Weg machte und ihr Ziel fand, erstaunte sie dieses widerspenstige Wasser vor sich. Nicht ein Tropfen dieser verfluchten Flüssigkeit wagte es, sich der Schönheit des Winters zu ergeben. Nicht einmal konnte sie über ihn gleiten, wie bei dem See bei sich zu Hause. Nicht einmal hatte sie es geschafft, dieses flüssige Gold in ihren Händen erfrieren zu sehen. Nein, ihr blieb es verwehrt, dieses Gewässer zu berühren.
Wie immer trat sie so nah heran, wie sie es wagte. Der übermächtige Drang einer Berührung würde ihr das Leben kosten, das sagte ihr ihr Verstand. Ihr Lebenswille. Trotzdem hob sie wie immer eine Hand und gedachte, wie es sich anfühlen würde.
„Ist es bereits so weit?“, fragte eine ihr allzu vertraute Stimme in ihrem Kopf. Sie wusste, es war der See, der mit ihr sprach. Sie antwortete nicht, sondern blickte in die Klarheit vor sich. Das Blau vermischte mit einem Weiß. Sie erkannte den See, wie klein er war. Sie kannte seinen Widerwillen, sich dem Paradies der Ewigkeit hinzugeben. Jeder neue Moment, den sie hier verweilte, bewegte sich das Wasser in eine andere Richtung, als würde das Wesen in ihm mit ihr spielen.
Ein Gedanke holt sie ein. Ein Leben vor diesem. Voller Zuversicht, das Leben wäre nicht schlimm. Voller plötzlicher Wärme in der größten Not. Voller Hoffnung, die die Zweifel verscheuchten. Voller Wärme, gekommen durch eine Umarmung, ein Wort, ein Lächeln. Voller Chancen auf eine Zukunft, voller Glaube an ein Wir. Voller Wünsche, was werden kann. Ein Lichtblick. Wie jetzt, nur nicht verschlossen in der Ewigkeit.
Ein glockenklares Lachen erklang in ihrem Kopf. „Nun spring, Winterkind. Traue dich und lass dich fallen.“
Wie gerne sie dem Ruf folgen würde, wurde ihr klar, als sie einen Schritt vortrat. Zischend rann der Schmerz in ihr hoch, verbrannte die blasse Haut und sie schrie stumme Töne aus ihrer Kehle. Stolpernd fand sie sich am Boden wieder, spürte nur das kühlende Nasse unter ihren Füßen und ihre unsichtbaren Tränen an ihren Wangen. Die Schmerzen waren in dem Moment versiegt, als sie sich dem Winter zugewandt hatte. Ihren eingefrorenen Momenten des Glücks.
„Glück heißt Veränderung, Kind. Hoffnung heißt Tun. Nichts geschieht, wenn nichts getan. So schön man auch manchmal die Zeit anhalten mag, die Ewigkeit ist für keinen gemacht.“
Sie reagierte nicht, blickte nur auf und starrte in den See voller Geheimnisse. Sie zu entlocken ward ihr größter Wunsch, umso größer ihre Angst, sie könnte wieder diesen Schmerz spüren. Also stand sie auf, blickte erneut auf die um sich eingefrorene Welt und machte kehrt.
„Bis zum nächsten Mal, Winterkind“, säuselte der See genüsslich. Sie hörte ihn schon nicht mehr, sondern gab sich dem kalten Winter hin und seinen ewigen Momenten.