Voller Inbrunst schrie der Mann vor ihm seinen Schmerz heraus und fiel auf die Knie. Er umklammerte seinen schmächtigen Körper, als sei es er, der ihm so wehtat. Freilich, durch den Fall auf den harten alten Holzboden hatte Leon das Knacken der Knochen gehört. Mehr schmerzte der Anblick des jungen Mannes, der seinen Tränen freien Lauf ließ und seine Gedanken durch seine geschlossenen Lider einmal erlebte. Was er dort sah, konnte Leon nur vermuten. Einen Geliebten, der vor seinen Augen grausam gestorben war? Vielleicht ein Familienmitglied? Leon las in dem Gesicht Angst, etwas zu verlieren und die Pain, weil er um den Verlust bereits wusste. Immerhin waren es nur Erinnerungen, die die kümmerliche Gestalt vor Leon betrachtete.
Plötzlich herrschte Stille im leeren Saal, während die letzten Töne versiegten und verhallten. Leon straffte die Schultern, als die Saiten nicht mehr vibrierten, und lauschte dem stummen Schmerz des Mannes. Er kniete, immer noch nach vorn gebückt, vor dem Geiger und murmelte Unverständliches. Naserümpfend gestattete Leon dem Mann noch Sekunden, bevor er ihn zum Teufel scheren wollte. Er verstand es nicht, wieso man Opfer seiner Vergangenheit werden wollte und sich andere Gefühle wie Angst oder Schmerz erhoffte. Gerade in dem Fall dieses Mannes, der sich einer der wohl grausamsten Erinnerung herausgesucht hatte. Doch lange fühlte der Mensch die Grausamkeit nicht mehr, als er wie ein nasser Sack nach vorn fiel. Angeekelt trat Leon ihn hinunter in die verstaubten Sitzreihen. Zu den anderen Wunschstellern vor ihm.
Der Preis einer Erinnerung war immer eine Lebensspanne. Und je intensiver die Erinnerung, desto mehr Leben forderte die Geige.
In Leons Ohren stimmte sich das Instrument sofort neu. Die Wirbel am Wirbelkasten drehten wie von Zauberhand und brachte das edle Stück Holz in seinen Händen zum Vibrieren. Nach und nach verstummte das angespannte Gefühl in Leon und auch in ihm kehrte nach und nach Ruhe ein. Trotzdem - seine Muskeln erschlafften nie ganz, denn die Geige gierte. Nach was, wusste Leon schon lange nicht mehr. Keine Stimme sagte ihm, was dieses Instrument eigentlich begehrte. Und auch er wusste schon lang nicht mehr, was er eigentlich in dieser verlassenen Einöde von alten Kostümen und mottenzerfressenen Vorgängen damals zu suchen glaubte. Alles war nun Plunder und wertlos. Alles hier schien ihn zu verhöhnen, dabei war dieser Ort einst voller zauberhafter Melodien und einzigartigen Bühnenstücken mit kunstvollen Kleidern und kreativen wie auch dramatischen Stücken. Jedenfalls vermutete Leon das, als ein ehemaliger Opernsänger zu viel über seine damalige Zeit auf der Bühne gequasselt hatte, ehe auch er dem Todeslied der Geige erlegen war.
Nun erinnerte sich der Geiger, wo er war. Vor ihm wartete nun ein frech grinsendes Kind. Es starrte ihn verwundert an.
„Bist du dieser verfluchte Geiger?“, fragte es neugierig und Leon nickte stumm. Und sofort schoss eine weitere Frage aus dem Kindermund. „Kannst du nicht sprechen?“
Wieder nickte er und setzte zur nächsten Melodie an. Die Geige spürte die Anwesenheit eines neuen Opfers und wollte gespielt werden. Wie ein Drogenabhängiger vor dem Schuss zitterte Leon bereits vor der Erwartung, die Erinnerungen des Kindes in die Geige fließen zu lassen. Er konnte nur mit Mühe den Bogen davon abhalten, die Saiten zu berühren und damit zu warten, bis das Kind ihn anflehte, endlich die gespannten Pferdehaare zu zupfen und seinen sehnlichsten Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen. So zumindest glaubte Leon, fühlte sich das für diese Wesen an, die ihn aufsuchten.
„Spielst du eine Melodie für mich?“
Erneut hob und senkte Leon den Kopf. Es schmerzten schon seine Schultern in der Erwartung, das Kind ließe endlich sich von seinem Verstand dazu verleihen, zu denken. Doch unschuldige Augen blickten den Verfluchten an. Und Leon fing an zu zweifeln, ob das Kind gar einen Wunsch hatte. Es schien keine zehn Jahre alt. Was will ein solcher auch vom Leben, wenn es kaum gelebt hatte?
„Wie funktioniert das? Muss ich nur ganz doll an was denken und dann geht es in Erfüllung?“ Die niedliche Stimme verzerrte Leons Wahrnehmung, als es friedlich die Augen schloss.
Als Leon den ersten Ton anstimmte, hielt er kurz inne. Nach der dramatischen Pause vibrierte das Instrument und zauberte dem Kind ein glanzvolles Lächeln auf die Lippen. Beinahe friedlich, als würde es schlafen wollen, wog es im Takt und summte mit, als sei die Melodie dem Kind bekannter als dem Spieler. In der Hand hielt es eine alte bronzene Taschenuhr, die Leon zuvor nicht bemerkt hatte.
Jedem Hoch folgte sogleich ein Tief, während die Noten ein verspieltes, gar verträumtes Stück offenbarten. Diese Form der hellen Momente gab es nicht oft, und so wog auch Leon sich in den glücklichen Moment.
„Jetzt kann ich Papa und Mama wiedersehen“, murmelte das Kleine und ließ ein seine Zahnlücken sehen, so sehr grinste es. Leon dagegen spielte weiter und sah nur stumm auf die Euphorie des Glücks, das dieser kleine Knilch zu spüren schien.
Er verkannte dennoch den Ernst der Lage nicht und hob zum Finale an. Das Kind zitterte am ganzen Leib, doch dessen Lächeln verklang nicht. Es strahlte bis zum Ende, bis auch der letzte Ton verklungen war.
Der kurze glückselige Augenblick wich der sofort auftretenden Düsternis des verlassenen Theaters und Leon sah noch, wie das Kind nach hinten fiel.
Leon meinte, noch ein leises „Danke.“ zu hören, als er sich der Geige widmete und sich für ein neues Stück vorbereitete.