Angst hatte ich nie gekannt. Während andere beim kleinsten Geräusch zusammenzuckten, lachte ich. Ich verstand nicht, warum Menschen so schreckhaft waren. Die Angst zu besiegen, galt als größte Stärke, doch was machte derjenige, der nie welche hatte? Es gab nichts zu besiegen für mich. War ich der Stärkste unter den Menschen? Oder vielleicht der dümmste?
Während ich durch die verfallene Mühle lief, durch deren Löcher im Dach der Herbstwind die toten Blätter umliegender Bäume hineinwehte, dachte ich daran, dass andere Leute sicher fast umkommen würden vor Angst. Überall knarzte es, ein sonderbares Schlurfen und Murren drang aus den Ritzen in den hölzernen Wänden und durch die Öffnungen, vom Alter in die Deckenbalken gerissen, drang rötliches Mondlicht. Der Ruf einer Eule zerriss das Heulen des Windes und trotzdem blieben die Härchen auf meinen Armen reglos. Es war kalt, ungemütlich und kein willkommener Ort, um eine Nacht zu verbringen, doch ich fürchtete mich noch immer nicht.
Meine beste Freundin hatte mir versichert, einen Weg zu kennen, mir Angst einzujagen. Sie hatte es mit einem Ton gesagt, der mich stutzen ließ, doch ich hatte mir nur wenig dabei gedacht. In den vergangenen Jahren hatten meine Freunde es oft versucht, waren mit mir in die scheußlichsten Geisterbahnen gegangen, in Horrorhäuser im ganzen Land. Vergeblich.
Ich wurde es müde, dass sie es immer wieder versuchten, doch ich ließ ihnen ihren Spaß. Wie auch dieses Mal. Leise brummend blickte ich auf den zerknitterten Zettel in meiner Hand, auf dem das heutige Datum stand. Meine Freundin gab ihn mir vor zwei Wochen, als ich sie zuletzt gesprochen hatte. Wir hatten uns verabredet für diese Nacht.
Halloween, eine Minute vor Mitternacht.
Und sie sollte Recht bekommen. Als ich die verfallene Tür öffnete und ihren Körper von einem der morschen Balken hängen sah, hatte ich zum ersten Mal Angst!