Als Luisa Saliestri am Abend des 7. Dezembers nach Hause kam, fühlte sie gleich, dass etwas nicht in Ordnung war.
Eine traurige Stimmung schwebte substanziell in der Raumluft.
Eine, das spürte sie, als sie den Schal abnahm und aus der Jacke schlüpfte, die nichts mit ihrer geheimen Arbeit zu tun hatte, die sie und ihren Liebsten verband. Der Beruf als Tierärztin, von dem sie jetzt zurückkam, diente ebenso der Tarnung, wie der Name Luisa, denn in Wahrheit hieß sie Edda. Und an der Seite Lysanders lebte sie hier, um in interkultureller Zusammenarbeit zu beobachten, ob sich der Eingang der Hölle öffnete und sich Böses tat.
Seit Jahren aber blieb es bei der Geheimtüre nach unten verdächtig still. Und so war sie erleichtert, dass ihr Instinkt ihr einflüsterte, dass dies, was hier schwebte, nur eines dieser kleinen privaten, familiären Probleme war. Ihre Arzttasche stellte sie unter der Garderobe ab.
Von dort, wo sie stand, sah sie ihren schönen Ly bei der Spüle in der offenen Küche. Geistesabwesend stapelte er die Teller in den Schrank und räumte gerade die Tassen ein, als sie hinter ihn glitt, sein kastanienfarbenes Haar hochschob und ihn in den Nacken küsste.
Erschreckt schwang er herum, aber sogleich stahl sich ein melancholisches Lächeln in sein ebenmäßiges Gesicht.
„Was ist los?“, hauchte sie.
„Leandro. Unser Sohn weint sich die Augen aus dem Kopf, weil er noch nie Schnee gesehen hat.“
Er warf das Geschirrtuch in die Spüle, nahm sich eine dampfende Teetasse von der Anrichte und schlenderte ins geräumige Wohnzimmer, wo er sich in den Sessel fallen ließ. Eine Weile beguckte er die alten Deckenfresken.
„Der Wetterbericht von gestern Abend hatte Sehnsüchte geweckt. Dass es dann doch nicht geschneit hat?“, er hob eine Schulter, „Er wollte nicht zur Schule. Er wollte nicht mal aufstehen. Es war eine einzige Enttäuschung für ihn.“
Sie nahm ihm die Tasse ab und nippte am Tee. Zu gut malte sie sich das aus. Sie war nicht unbeteiligt am Schüren der Hoffnung gewesen, wo sie runter in den Keller gerast war, um Lys alten Schlitten hervor zu kramen.
Sie stellte die Tasse auf den Tisch und ging wortlos zum Kinderzimmer, das in vollendeter Dunkelheit da lag. Schnell saß sie am Bettrand und strich Leandro zärtlich eine Locke aus der Stirn. Fest hatte er sein geliebtes Stofftier an sich gepresst. Ein albernes, griesgrämiges graues Monster, an dem sein Herz hing.
Als er sich unter ihren Liebkosungen rührte, war klar, dass er nur vorgegeben hatte, zu schlafen. „Mama.“
Statt zu antworten, küsste sie sachte seine Stirn.
„Signora Avagliano hat gesagt, hier gabs‘ früher Schnee“, krähte er.
Sie sog nur tief Luft ein.
„Warum können wir nicht in die Alpen fahren“,hikste er, „Wie Chiara mir ihren Eltern?“
Weil wir hier nicht wegdürfen, dachte sie, weil wir einen Auftrag haben, um die Weltenharmonie zu gewährleisten.
Aber als sie am Abend neben Ly im Bett keine Ruhe fand, wuchs in ihr ein Entschluss.
Wenn der Schnee nicht zu ihnen kam, musste sie ihn eben holen.
Als sie, wieder angezogen, auf dem Bett sitzend, ihre Stiefel schnürte, murmelte Ly müde. „Wohin gehst du?“
„Nach Hause. Ich muss mit meiner Mutter reden.“
Er kämpfte sich aus dem Federbett in eine sitzende Position. „Meinst du, sie kann…“
„Ich weiß es nicht“, sie warf die Arme in die Luft, „Seit der Christianisierung ist sie nicht mehr für Schnee zuständig. Aber vielleicht…keine Ahnung, Ly. Aber wenn einer was tun kann, dann sie.“
„Gib auf dich Acht.“
„Natürlich.“
Als sie Jacke und Schal wieder überzog, verdrängte sie den Ärger ob dieser albernen Bemerkung. Was sollte ihr zuhause schon passieren?
Auf der Straße, als die schwere Eichenholztür hinter ihr ins Schloss fiel, zückte sie ihr Handy. Ihr Bruder musste ihr den Weg ebenen.
Im wahrsten Sinne des Wortes. Es gab keine Probleme zwischen ihr und ihrer Mutter. Nur konnte sie nicht mal eben ins Auto steigen, wenn sie heim wollte. Und einen Regenbogen in den Nachthimmel zu zaubern, kam bei potentiellen irdischen Zeugen nicht so gut an. Mysteriöse Phänomene dieser Art, von Menschen unverstanden, fanden zu leicht die Aufmerksamkeit der Medien. Und so kam es, dass ihr Bruder Bifröst verstohlen in den Kreuzgang des Klosters San Marco zauberte.
Begeistert war er nicht gewesen. Vor allem, da kein Notfall vorlag.
Keine halbe Stunde danach marschierte sie forschen Schrittes Asgard entgegen, dessen zwölf Paläste sich am Himmel silbrig abzeichneten. Wenig später, am wie immer schlafmützig neben seinem Speer eingedösten Heimdahl vorbei, trat sie in die Halle Valaskjalfs.
Zuhause.
Aber sie wunderte sich. Nicht weil sich etwas verändert hätte. Die hohen Decken leuchteten noch gläsern und silbrig, und wie stets strebten die Edelsteine an den Zierleisten in unendliche Höhe. Aber überall war Hektik. Bedienstete und Walküren hasteten beladen mit Kisten an ihr vorbei. Der Hofmeister bellte Befehle, die Schritte wurden schneller, und als eine Walküre mit einem jungen Krieger zusammenstieß, stürzte die Holzkiste zu Boden und die darin befindlichen Tonkrüge gingen zu Bruch.
Der Duft von Honigwein und Bier untermalte das Gejaule der Kollegin.
Von vorne kam auch ihre Mutter herbei gehetzt.
„Kannst du nicht besser aufpassen!“, maßregelte sie das Mädchen, „Wie haben genug Schwierig…“
„Mama.“ Edda erhob die Stimme und winkte.
Verwirrt strich sich Frigg die blonden Haarsträhnen aus der Stirn. Von den ordentlichen Flechten, die stets wie Schnecken auf ihren Ohren saßen, war nichts mehr übrig. Selbst ihr silbrig-weißes Kleid war gehörig in Unordnung geraten. „Edda? Ist was passiert, da unten bei dieser christlichen Hölle? Du und dein Engel…“
„Nein, nein“, winkte sie ab, „Alles ist bestens. Ich dachte nur…“, sie geriet ins Stocken, denn voraus wurden die Portale Walhalls weit aufgestoßen.
Grölen, Gesang und Gelächter hallte zu ihnen heraus, alles vom Jubel über die neuen Saufrationen abgelöst, die soeben hinein getragen wurden.
Frigg schnippte mit den Fingern und zwei Warägergardisten drückten die Tür wieder zu. „Was denn? Du siehst, wir haben verflucht viel zu tun. Die Raunächte stehen vor der Tür.“
„Ich weiß, Mama. Und Leandro feiert Weihnachten.“
Frau Mama verengte die Augen. „Weihnachten, also sein Vater…“
„Ist ein Christ, ja. Das ist ja das Schöne. Und du und Papa ihr habt uns immer darin bestärkt. Dass wir über unsere interkulturelle Zusammenarbeit die Liebe gefunden haben. Aber das Kind unserer Liebe hat noch nie Schnee gesehen. Und ich dachte, du könntest es über Florenz schneien lassen. Wir würden dann hoch zur Piazzale Michelangelo fahren. Dort sind Hügel. Hinter der Kirche fangen die Berge an. Er würde mit seinen Freunden so gerne Schlitten fahren.“
„Ich?“ Frigg wies mit einem schlanken Finger auf ihre gewölbte Brust.
Edda nickte mit glühenden Wangen.
„Kind, seit Jahrhunderten komme ich da unten nur noch in Märchen vor. Frau Holle“, sie schnaubte verächtlich, „Und hässlich haben sie mich gemacht. Weil nichts Heidnisches schön sein darf.“ Sie bleckte ihre schneeweißen perlenartigen Zähne, „Oder habe ich etwa schiefe große Zähne?“
„Mama, bitte.“ Edda erinnerte sich nicht, wann sie das letzte Mal gefleht hatte, aber ihre Mutter blieb hart.
„Nein. Wo soll ich diese blöden Weiber überhaupt noch her nehmen. Heute fällt keine mehr in einen Brunnen. Und wenn doch, wäre keine dämlich genug, ohne nach einer Gewerkschaft zu fragen, mit der Arbeit an den Federbetten anzufangen.“
„Aber Leandro…“
„Nein, Kind. Wir haben nicht genug Bier für die Raunächte. Die Halle ist voller denn je, seit ihr die Helden, die versehentlich in die Hölle geraten waren, von den wahrhaft Bösen aussortiert und nach oben gebracht habt.“
Sie schritt in die Richtung weiter, in der die asgardschen Brauereien lagen und aus der weiterhin eine Walküre mit Kisten nach der anderen strömte. Edda eilte nebenher.
„Wir hatten selbst so viel Arbeit“, schwafelte ihre Mutter weiter, „Wir haben ein System erarbeitet, mit dessen Hilfe wir die Schwachköpfe schlechter Gesinnung heraus filtern, die unbedingt zu uns wollen. Einige Idioten rechter Denkensweise hatten sich schon reingepfuscht. Wir haben sie nach Hel geschickt. Hier herrscht endlich auch Ordnung. Und die, die jetzt zu Recht hier sind, sollen in den Raunächten wohl versorgt sein. Ich habe keine Zeit.“
Damit verschwand sie durch die Pforte.
Edda spürte Tränen aufsteigen. Sie fragte sich, wann das anfing, dass der Wunsch des eigenen Kindes nicht mehr das Heiligste für eine Mutter war. Mit hängendem Kopf schlurfte sie der großen Thronhalle entgegen, dessen silbern beschlagene Portale weit offen standen.
Verblüfft fand sie den hellen edlen Raum leer.
Die beiden Throne auf dem Podest mit Polarfuchsfellen belegt, aber leer. Die Bänke an den Wänden, die voller eisfarbener Kissen waren, leer.
Der Brunnen Nimir in der Mitte, der ihrem Vater einen Blick in die Welt erlaubte, prangte unbeachtet in der Mitte des Saales.
Entmutigt sank sie neben Nimir auf die Bank und drehte mit dem Zeigefinger im Wasser, als sie hinter sich ein Räuspern hörte. Sie ruckte herum.
An die Wand gelehnt, mit einem Fuß an ihr abgestützt, in seinem langen schwarzen Ledermantel mit hochgeschlagenem Kragen zündete sich ihr anderer Bruder eine Zigarette an.
„Loki.“ Sie wusste nie so richtig, ob sie sich über ihn freuen sollte. Zu genau erinnerte sie sich all der abgeschnittenen Stofftierköpfe ihrer Kindheit. Und wie er ihr Vick vaporup auf die Augenlider geschmiert hatte, als sie schlief. Aber oft genug hatte er ihr gezeigt, dass er sie liebte, wenn auch verstohlen, so als wäre es ihm peinlich, von liebevollen Gefühlen beherrscht zu werden.
„Hab‘ gehört, dass sie dir nicht helfen will.“ Er stieß Rauch aus der Nase aus.
Sie seufzte, kreiselte wieder mit dem Finger im Wasser, solange, bis sich das schlafende Antlitz ihres geliebten Sohnes darin spiegelte. Loki trat neben sie und sah auf die engelsgleiche Gestalt im Federbett hinab. Ein kleines Lächeln stahl sich in sein spitzes Gesicht. „Ich hätte da ne Idee.“
Edda zog die Brauen zusammen. „Wenn das nur wieder so ein Unsinn ist…“
„Ach was.“ Er ging zur Tür. „Gudrin, Hiltrud, Erna!“, rief er hinaus.
Die drei Walküren kamen, zuerst mit fragenden Mienen, aber gefolgt von zahllosen Kolleginnen, bis die Halle voll war.
„Was gibt es denn“, Erna zuckte mit dem Daumen über ihre Schulter, „Wir müssen…“
„Einem Kind helfen“, fiel er ihr ins Wort, „Guckt.“
Er lotste sie zum Brunnen, der schnell von blond und rot und dunkel bezopften Walküren umringt war. Seufzend stierten sie auf das schlafende Kindergesicht. „Ein Engel“, seufzte die eine, und vielstimmig stimmten die anderen zu.
„Oh!“
„Ah!“
„Oh, wie süß!“
"Wie niedlich!"
„Er möchte gerne mit seinen Freunden Schlittenfahren“ , meinte Loki dunkel und mit dem Unterton, für den er bekannt war. „Und unsere Herrin möchte keine Federbetten schütteln.“
„Was?“, schnappte Gudrun, „Aber er ist doch ihr Enkel.“
Empört schnatterte es aufgeregt und bald hatten sie eine Wortführerin.
„Wir machen das“, bestimmte Gudrun, „Loki, du musst uns nur zeigen, wohin wir in den Himmel müssen. Wir brauchen jemanden mit göttlicher Macht.“
„Versteht sich von selbst.“ Er warf die Kippe in Nimir und stiefelte der Walkürenschar mit in die Manteltaschen versenkten Händen voraus.
Mit spitzen Fingern fischte Edda die Kippe aus dem Brunnen und stopfte sie sich in Ermangelung eines Mülleimers in die Hosentasche.
Auf dem Weg nach unten fing es an. Sie konnte nichts gegen das glückliche Lächeln in ihrem Gesicht tun. Obwohl ihr vollkommen klar war, dass Odin schnauben würde wie ein Stier, wenn er davon hörte. Aber na ja, Ragnarök würde er wegen Loki bestimmt nicht gleich raufbeschwören.
Eddas Heimweg war ein Weg durch immer wilderes Schneegestöber. Sie rutschte aus, lachte hell auf, verblieb gleich, wo sie war, und sauste im Jauchzen der Bettwäsche ausschüttelnden Walküren auf Bifröst hinunter wie auf einer Rutschbahn.
Unten klopfte sie sich den Schnee vom Hosenboden und zufrieden, nein glücklich stapfte sie im Morgengrauen heim durch den Schnee. Ly wachte nicht mal auf. Sie kuschelte sich neben ihren Engel und tat unschuldig, als nur wenige Stunden später der Jubel Leandros ihren kurzen Schlaf beendete.
Am Morgen des 8 Dezembers stand er hibbelig am großen Wohnzimmerfenster. „Mama! Papa! Guckt mal!“
Auf und Ab hopste er.
Ly, nur in einer Pyjamahose, die im sexy auf den Beckenknochen gerutscht war, hob eine Braue. „Na, wenn das mal keine Überraschung ist“, zwinkert er ihr zu.
Sie war schon längst wieder angezogen. Keine Ahnung, wie lange der Schnee blieb, also war Eile geboten.
„Los, ab ins Bad, Zähne putzen“, befahl sie lachend, „Anziehen, Schlitten holen und zum Auto.“ Sie schwang zu Lysander herum. „Und ruf du Signora Davene und Lucas Mutter an. Sag Bescheid, wir holen die Jungs zum Schlittenfahren ab.“
Rasch pflügten sie sich stadtauswärts in die Berge. Die Schneepflüge hatten an den Straßenrändern außerhalb der Stadt schon eine Mauer aus einem halben Meter Schnee zurückgelassen. Das Wageninnere war von Kinderjubel erfüllt, und Lysander steuerte das Gefährt sicher über die glatten Straßen, bis sie endlich am Ziel waren.
Dick verpackt, blieb sie an ihren Liebsten gelehnt oben auf dem Hügel stehen. In der Hand einen Becher dampfenden Kaffe, weil er wie immer vorausschauend genug gewesen war, eine Thermoskanne mitzunehmen. Die drei Jungs waren außer sich. In dicke Klamotten gepackt sausten sie den Hügel mit ihren Rodelschlitten immer wieder auf Neue hinunter, zogen sie hoch, und wurden der Schlittenfahrt nicht müde.
Leandros Wangen glühten rot vor Kälte und Freude und das kleine Gesicht war vom Lachen gespannt.
Der laue Wind trug die Kinderstimmen zu ihnen. Mit einem liebevollen Blick erfasste sie ihren Schatz Lysander, der bibbernd neben ihr stand, dass ihr selbst das Lachen aufstieg. Ganz und gar mediterran fror er trotz Winterjacke, Mütze und Handschuhen.
Aber auch er wirkte zufrieden.
Und doch tickte die Beunruhigung in ihr, wenn sie an den Ärger dachte, den Loki wieder mal ausgelöst hatte.
Als ihr neue Flocken in den Nacken wehten, hob sie die Hand dorthin und ruckte herum.
War da nicht ein Flüstern gewesen?
Es verwirrte sie, weil es nicht von vorne und nicht von hinten kam, sondern von oben.
„Hallo“, säuselte es, und als sie hochsah, hockten dort Loki und Mama, die nich einmal ansatzweise verärgert aussah wie in einem Watteberg in einer Wolke und winkten zu ihr hinab.
Für Edda hatte die Dame dort oben nicht mehr als einen einzigen Blick gehabt, der kaum länger als eine Sekunde gewährt hatte.
Denn völlig verklärt, mit glückseliger Miene guckte sie wieder, die Hände in einen Muff gesteckt, den Kindern beim Umhertollen zu.
„Als sie Leandro lachen sah, war alles wieder gut“, wisperte Loki.
„Und Papa?“, formte sie stumm mit den Lippen.
„Ach, der hat das eine Auge zugedrückt.“