Irgendwie war in den letzten Tagen viel zu viel los gewesen. Erst der Umzug in das beschauliche Glouchestershire, dann die Nachricht, dass Granny gestorben war, die Beerdigung ...
Erschöpft ließ der Junge seinen Kopf sinken und bettete ihn auf seinen Unterarmen. Er saß am Küchentisch, in der Dunkelheit des Dezemberabends, in Gesellschaft einzig des brummenden Geräuschs des Kühlschrankes und des Weihnachtssterns, der in einem handverzierten Topf inmitten des blitzsauberen Tisches stand.
Seine Familie - die völlig durch den Verlust ihrer Mutter aufgelöste Mum, der durch die vielen Erledigungen gestresste Dad und die sonst immer so flippige, aber auf den Boden der Tatsachen zurückgeholte ältere Schwester Alex - hatte sich bereits in die Betten zurückgezogen. Der Tag war lang gewesen. Zu lang für einen Sonntag. Den sechsten Dezember. Unerbittlich tickten die Minuten des Abends dahin, um einen Schlussstrich darunter zu setzen.
Damian drehte den Kopf etwas zum Fenster hin. Draußen auf der Straße brannte eine Laterne und der Widerschein erhellte die Scheiben und so auch sein blasses Gesicht. Noch ein paar Minuten und sein Geburtstag würde vergangen sein, ohne dass seine Familie sich daran erinnert hatte. Sollte er ihnen deswegen böse sein? Konnte er das überhaupt? Seine Oma war unter die Erde gebracht worden. Sie, die die Familie durch stürmische Wasser gelenkt und verhindert hatte, dass Damians Eltern in der allgemeinen Krise der weltweiten Pandemie den Boden unter den Füßen verloren hatten. Wäre sie nicht gewesen, hätten sie vielleicht alles verloren.
Und jetzt hatten sie sie verloren.
Die Lippen zusammenpressend, schnaufte der Jugendliche. Es tat weh, alles. Und er kam sich schäbig vor. Er hatte nichts gewollt. Wollte er noch immer nicht. Nur ein »Happy Birthday«, das wäre schön gewesen. Immerhin war er sechzehn geworden. Doch sie hatten ihn vergessen.
Mit müden Augen sah er dabei zu, wie der Zeiger schließlich fiel und seufzte. Der Tag war vorbei. Es war Montag. Ohne Elan, aufzustehen und ins Bett zu gehen, drehte er sich wieder dem Fenster zu und bettete den Kopf zurück auf den Armen. Er betrachtete einige Regentropfen bei ihrem Rennen über die Scheibe und hob schließlich den Blick zu dem roten Weihnachtsstern, der in der Dunkelheit der unbeleuchteten Küche schwarz wirkte wie alles andere um ihn herum. Oder blass, nicht richtig gelb, vom Widerschein der Laterne.
Damian hob die Hand und ließ seine Fingerspitzen über die samtweichen Blüten streichen, nur kurz. Die Pflanze hatte seiner Oma gehört. Seine Mutter hatte alle Blumen mitgenommen, als sie die Wohnung der alten Dame das letzte Mal aufgesucht hatten, damit diese nicht auch noch sterben würden.
Das Summen des Kühlschranks lullte den Jungen ein und so merkte er nicht, wie ihm die Augen zufielen. Erst ein leises Rascheln, gefühlt Stunden später, ließ ihn hochschrecken. Verwirrt rieb Damian sich über das Gesicht und den Mund. Er hatte schrecklichen Durst. Wackelig und mit einem Ziehen im Rücken nahm er sich ein Glas Wasser. Was hatte ihn geweckt? Woher war dieses Rascheln gekommen?
Noch immer nicht in der Stimmung, einfach in sein Zimmer und ins Bett zu gehen, fiel er wieder auf den Stuhl, nur um in der nächsten Sekunde leise aufzuquieken und zurückzuzucken.
Der Weihnachtsstern - oder zumindest der Topf - sah noch immer genauso aus, doch statt einer Pflanze hockte nun eine kleine Kreatur in der dunklen Erde, die Beine im Schneidersitz verschränkt. Die blutroten Blütenblätter formten ein Kleid, lange, in zwei Zöpfen über die Schultern fallende Haare lockten sich an den Spitzen etwas und ein Hütchen, das an die Blütenstempel erinnerte, bildete eine Art Kopfschmuck.
»Hallo«, piepste das Persönchen, neigte das Gesicht und grinste breit.
»Äh«, stammelte Damian und blinzelte. Träumte er? »Wer ... bist du denn?«
»Euphorbia Pulcherrima Poinsettia«, erwiderte die winzige Dame und stand auf. Sie lächelte und verneigte sich so weit, dass ihr Hütchen vom Kopf fiel und ihre Zöpfe in der Luft baumelten. Kichernd griff sie nach der Kopfbedeckung und richtete sich wieder auf. »Aber du kannst mich Rima nennen, wenn du magst.« Sie grinste noch immer, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Dabei war sie doch gerade aus dem Topf gewachsen, nicht? Es lag noch etwas Erde rund um das Gefäß.
Der Junge lehnte sich noch immer auf seinem Stuhl zurück, die Hände an der Tischkante verkrampft und die Luft angehalten. Was geschah hier? Er merkte nicht, dass er es offenbar laut gefragt hatte, denn Rima machte einen Satz und sprang auf den Tisch. Ihre Schuhe hatten nach oben gebogene Schnäbel und ihre Strümpfe waren gestreift. Damian konnte keine Farben erkennen, sie war nur erhellt vom vagen Licht der Laterne vor dem Fenster.
»Ist das nicht offensichtlich? Du brauchst mich.«
»Ich ... brauche dich?«
»Ja! Du bist ein Weihnachtskind und deine Familie hat deinen Geburtstag vergessen. Jetzt bist du ganz allein.«
»Weihnachtskind?«
Rima glättete sich einen ihrer Zöpfe. »Ja, ja. Alle Kinder, die im Dezember geboren sind, sind welche. Was ganz Besonderes.«
»Was soll daran besonders sein? Mein Dad sagt, das kostet nur mehr Geld.« Der Jugendliche entspannte sich und lehnte seine Wange auf den Handballen, als er den Ellenbogen auf den Tisch stemmte.
»Und nicht nur haben sie es vergessen, du hast auch noch jemanden verloren. Zwei schlimme Dinge, für die Geburtstage nicht da sind.«
»Interessiert doch keinen«, murmelte Damian und streckte wieder den Arm aus, um seinen Kopf darauf zu legen. Er war müde.
»Aber doch! Deine Großmutter war doch wie du und sie hat nicht gewollt, dass so was passiert.«
Irritiert zuckte der Junge. Seine Oma hätte auch bald Geburtstag gehabt. Sie hatte immer gesagt, Damian und sie wären ein Team, weil sie beide im Dezember geboren waren.
»Und was soll mir das jetzt sagen?«
»Sie ist nicht mehr da. Aber ich.«
»Ich versteh’s nicht.«
Rima legte ihren Kopf schief und marschierte vor dem Gesicht des Jugendlichen auf dem Tisch herum. Sie griff nach seinen Haaren, die ihm über das Kinn fielen und zog an einer Strähne.
»Du bist aber ein Dussel. Jedes Weihnachtskind hat einen Weihnachtsstern. Also so jemanden wie mich.«
»Das ist doch albern. Das ist doch nur eine Blume!« Damian richtete sich auf. Das kleine Fräulein wurde dadurch ein Stück in die Höhe gezogen. Es roch wie die Pflanze, deren Blüten es als Kleid trug.
»Nein, nein, nein. Ich bin ein Blumenelf!« Rima stemmte die winzigen Hände in die Hüften, als sie wieder fest stand und starrte den Jungen vor sich streng an. »Ein Weihnachtsblumenelf. Wir kommen nur zu Dezemberkindern, wenn sie uns brauchen.«
»Also ist in jedem Pott im Blumenladen so ein kleines Persönchen drin, ja? Glaub’ ich nich’.« Damian schnaubte. Zankte er sich mit jemanden, der vielleicht fünfzehn Zentimeter groß war?
»Nicht, wenn man uns nicht braucht.«
Mit den Augen rollend lehnte der Junge sich an die Lehne und verschränkte die Arme vor der Brust. Vielleicht fing er schon an, zu fantasieren. Er sollte ins Bett gehen.
»Okay, mal angenommen, ich glaube das. Warum sollte ich einen Blumenelf brauchen?«
»Na, das sagte ich doch schon. Dein Herz ist verletzt und du bist ganz allein. Ich bin hier, um dich zu heilen.«
»Bitte?«
»Ich gehörte deiner Oma, viele Jahre. Jetzt bin ich hier. Sie ist nicht mehr da, aber du. Niemand außer dir kann mich sehen. Du musst es nur zulassen, dann wird es dir besser gehen.«
Damian sah Rima in die Augen. Ihr Gesichtchen war im Dämmerlicht kaum zu erkennen, doch schließlich presste er die Lippen zusammen und schniefte leise. Sie hatte Recht. Verletzt, das war er. Er hatte seine Oma sehr geliebt. Sie zu verlieren, war schrecklich gewesen und er hatte seit der Nachricht, dass sie gestorben war, noch nicht geweint. Dass seine Eltern seinen Geburtstag aufgrund des ganzen Stresses vergessen hatten, war nur noch ein Stein auf der ohnehin tonnenschweren Last auf seinem Herzen gewesen. Energisch wischte er sich über das Gesicht, als sich ein leises Wimmern seine Brust hinaufschob. Erschöpft und mit einem Brennen in der Kehle legte er die Arme auf den Tisch zurück und vergrub sein Gesicht darin. Unter seinem Schniefen bemerkte er nicht, dass Rima an ihn herantrat und ihre kleine Hand auf seine Wange legte.
»Es wird dir besser gehen. Schon morgen«, sprach sie leise, setzte sich neben ihn und lehnte sich an seinen Arm. »Schon morgen, das versprech’ ich dir, wird es besser sein.«
~*~
»Damian!«
Der Junge schreckte hoch und wäre fast vom Stuhl gefallen. Gleißende Sonne fiel in die Küche und er hatte offenbar die ganze Nacht hier gesessen und im Sitzen geschlafen. Erschrocken wandte er sich herum und sah in die Gesichter seiner Eltern und seiner Schwester. Sie standen wie aufgereiht da, den Ausdruck von Scham und Betroffenheit zur Schau stellend, verlegen, zerzaust und so erschöpft, wie auch der Jugendliche sich fühlte.
»Was?« brummte er und räusperte sich.
Ehe er sich versah, hatte seine Mutter ihn in die Höhe und in ihre Arme gezogen. Sie war inzwischen kleiner als er.
»Es tut mir so leid, Schatz. So leid.«
Schwester und Vater taten es ihr nach und schließlich fand sich Damian in einer Gruppenumarmung wieder. Er hasste solche Dinge, mochte es nicht, wenn ihn jemand länger anfasste als nötig, mochte die Wärme anderer Körper nicht. Doch dieses Mal war es gut. Es war das, was er gestern hätte bekommen sollen. Was er sich gewünscht hatte. Einen Moment des Halts in den stürmischen Wassern um ihn herum. Ein Funke Normalität. Die Gewissheit, dass zwar seine Oma gegangen, doch der Rest seiner Familie noch da war.
»Schon ... schon gut«, murmelte er, doch seine Mutter hob den Kopf und schüttelte ihn.
»Nein, das ist es nicht. Wir hätten das nicht vergessen dürfen, trotz allem nicht. Ich fühle mich schrecklich.«
»Wir machen das wieder gut, okay? Was möchtest du machen? Ich nehme mir frei.« Damians Dad rieb sich zerknirscht den Nacken. Auch Alex, seine Schwester, biss auf ihrer Lippe herum.
Der Jugendliche schüttelte den Kopf. »Du kannst nicht, Dad. Du hast gerade erst dort angefangen. Ist schon gut. Ich ... will gar nichts.«
Die Familie musterte ihn, nicht recht überzeugt und von ihrem schlechten Gewissen getrieben. Noch nie war bei ihnen ein Geburtstag vergessen worden!
»Na gut. Aber lass’ uns wenigstens schön zusammen frühstücken, okay?«
»Ja ... ich geh’ mich nur umziehen ...« Damian trug noch immer die Sachen, die er bei der Beerdigung am Vortag angehabt hatte. Einen Moment geblendet von der Sonne, die durch das Fenster schien, fiel sein Blick auf den Weihnachtstern, der so blutrot wirkte, als würde er von innen heraus leuchten. Damians Lippen zuckten, als eine vage Erinnerung an seinen Traum in der Nacht in seinem Kopf aufblitzte. Natürlich war es nur ein Traum gewesen!
»Mum? Kann ich die Blume hier haben?«, fragte er und zeigte auf den Weihnachtsstern. Seine Mutter drehte sich herum und machte eine leichte wegwerfende Handbewegung.
»Natürlich, wenn du möchtest.« Sie lächelte. Wenn das alles war, was er wollte, sollte er es bekommen.
Mit einem komischen Gefühl griff Damian nach dem bemalten Topf, der schwerer war als er aussah und drückte ihn sich an die Brust, als er die Küche verließ.
Auf dem Tisch zurück blieb nur der Rest von etwas Erde.