Der kalte Nordwind peitschte durch die verlassenen Strassen Oslos und Herbstblätter und Plastiktüten wurden durch die Luft gewirbelt. Graue Wolken hingen drohend am Himmel und kündigten den ersten Schneesturm des Jahres an.
Das Mädchen hatte sich den Umhang fest um den Körper geschlungen und die Kapuze tief in die Stirn gezogen. Aber selbst der dicke Wollmantel konnte sie heute nicht von der beissenden Kälte schützen. Sie beschleunigte ihre Schritte, bog in schmale Gassen ab und ging Wege, die sonst kaum eine Seele je beschritt.
Alle nannten sie bloss die Geisternanny. Wie sie mit ihrem Korb durch die verlassenen Strassen schritt und sich um die kümmerte, die alle anderen schon längst vergessen hatten. Stets trug sie unter ihrem schweren Wollmantel weisse Kleider, die mit Spitze besetzt waren, die Säume braun von all dem Dreck der Stadt.
Die junge Frau folgte einer schmalen Strasse am Wasser, die unter eine Brücke führten, wo ein paar schäbige Gestalten sassen.
Wie immer winkten sie der Geisternanny schon von weitem zu. Niemand kannte ihren richtigen Namen, denn sie hatte ihn zu oft im Mund von Leuten gehört, die sich nicht mochten. Ihr Name gehört nur ihr ganz allein.
Wie immer boten die Männer in ihren Schlafsäcken ihr eine Zigarette an. Sie lehnte ab. Wie immer. Niemand wusste wie alt sie war, denn dann begannen die Leute zu denken, sie würden dich kennen, und von Gott sollte man sich ja schliesslich auch kein Bildnis machen.
Wenn man die Männer fragte, die dort unter dieser Brücke lebten, in der eisigen Kälte des Nordens, ignoriert von den Menschen, die sie einst Nachbarn und Freunde nannten, die Geister der Stadt, so konnte einem niemand etwas über die Geisternanny sagen.
Sie tauchte aus dem Nichts auf. Mit Gebäcken, manchmal mit heissem Kaffee oder Tee und im Sommer mit Obst. Sie kam, war höflich, ging, und wurde von der Stadt wieder verschluckt, wie ein Geist.
Ja, die Stadt hatte viele Geister.
An diesem Abend sassen sie zu siebt unter der Brücke, reichten einige Flaschen herum und rauchten.
Sie johlten, aber das Mädchen blieb still wie immer. Mit einem feinen Lächeln auf den Lippen packte sie drei grosse Leiber noch dampfenden Christstollen aus und breitete sie auf einem weissen Tuch in der Mitte des Kreises aus.
Wie immer wartete sie die Antwort der Männer nicht ab, sondern verschwand ohne sich noch einmal umzudrehen in der Dunkelheit.
In dieser Nacht suchte sie viele Geister heim. So viele, wie sie sonst in ihrem Schlaf heimsuchten, wenn sie nicht in den Stunden der Dunkelheit durch die Stadt wanderte.
Mittlerweile fiel der Schnee in dicken Flocken vom Himmel und legte eine weisse Schicht über alles. Verwandelte die Stadt mit all ihren Hässlichkeiten selbst in einen Geist. In einen Geist mit einem weissen Gewand, der so zauberhalft aussah, dass man kaum glauben konnte, was sich unter dem Leinentuch aus Schnee verbarg.
Das Mädchen lief durch die Strassen, genoss es, dass ihre Schritte kein Geräusch in den frisch gefallenen Flocken machten.
Sie hatte das Gefühl, dass sie sich beinahe glücklich fühlte. Wenn bloss nicht so ein schweres Gewicht auf ihren Schultern liegen würde.
Da legte sich in der Dunkelheit eine Hand auf ihre Schulter. Als sie herumfuhr, stand ein Mann mit langem Bart und zerlöchertem Hemd vor ihr.
«Du bist die Geisternanny, nicht wahr?»
Sie nickte stumm.
«Hast du etwas zu essen für mich?» In seinem Blick erkannte sie kein Flehen. Er war kein Geist. Noch nicht.
Doch das Mädchen wusste, dass ihr Korb längst leer war.
Anstatt den Kopf zu schütteln, schlüpfte sie aus ihrem wolligen Mantel heraus und legte ihn dem Mann über die Schultern.
Sein «Danke» hörte nur noch die Nacht, denn die Geisternanny war schon weitergezogen.
Das Mädchen fühlte, wie sich ihr Herz mit Glück erfüllte. Wie sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, das zu einem Grinsen und schliesslich zu einem lauten Lachen wurde.
Zum ersten Mal fühlte sie kein Gewicht mehr auf ihren Schultern.
Zum ersten Mal fühlte sie sich so leicht und frei wie ein Geist.
Wie ein Geist in einer verschneiten Stadt.
En spøkelse ut i gaten uten genser. Ein Geist draussen auf den Strassen ohne Mantel.