Neopronomen: hen/ hens
CN: Insekten, Unfall
Das gelbe, freundliche Licht in der spitzen Ecke des dreieckigen Hörsaals erlosch mit einem lieblichen Summton und die magische Übertragungsholografie beendete sich mit einem laut hörbaren ’Bling’, während gleichzeitig das Deckenlicht anging.
Gleich unten in der ersten Reihe erhob sich ein wabbeliges, wie ein zu lang gezogenes Kaugummi aussehendes, aber nicht weniger mental hochbegabtes Wesen und murrte lautstark: »Na toll, ich hab keine Zeit noch mehr Hausarbeiten zu verfassen, was glauben die bitte wie viel sie uns gleichzeitig aufsetzen können!?«
Und es überschlug sich ein paar Mal die Stufen hinauf zum Ausgang des Raums. Während andere Student*innen es ihm gleich taten und auf ihre Weise sich fortbewegten, ebenfalls zeternd, motzend oder hell auf begeistert mit lauter Ideen, welche Zielperson sie sich vornehmen würden.
Aus einer der letzten Reihen erhob sich so etwas wie ein zweibeiniges Wesen mit festgezurrtem Gurt um den Oberkörper. Hen war, nach menschlichen Maßstäben eine richtige Schönheit, dennoch rümpfte hen mies gelaunt die Nase und zog als Letztes von dannen, in dem Bewusstsein, dass hen diesmal die Aufgabe bestehen musste. Beim letzten Mal hatte hen kläglich versagt. Dabei wünschte hen sich nichts mehr, als endlich diese Schule verlassen zu können und in die Welt hinauszuziehen und endlich hens Job zu machen.
Mit schlaffen Schultern und nicht der leisesten Ahnung, welche Person hen sich auswählen sollte, trat hen durch die wabernde Tür, die nach Substanz stank und ein unangenehmes Kribbeln in hens Körper hinterließ. Sonnenlicht empfing hen und begrüßte hen auf die Weise wie es nur Licht konnte, warm, fröhlich und samtig wohltuend. Im Nu war hens geknickte Haltung verschwunden und hen schob sich die aschgrauen Haare aus dem fein geschnittenen Gesicht. Neben, vor und über hen war ein Trubel sondergleichen, die sonderbarsten und merkwürdigsten Gestalten umgaben hen und taten, was sie eben taten. Standen, lachten, diskutierten, verabredeten sich, flirteten oder eilten irgendwohin.
Hinter hen schloss sich das wabernde runde Tor und hinterließ nur noch die Rune auf den großen Steinformationen.
Die Akademie der Schutzengel war nicht mehr als ein im Halbmondkreis angeordneter Haufen senkrecht aufgestellter Steine mit verschiedenen Runen. Alle waren Türen zu Orten, die Engelchen und solche, die es werden wollten, eben so brauchten: Quartiere, Säle, Sekretariate, Sportplätze, Haltestellen, Mensa, Bibliothek und was es nicht noch alles gab auf einem Campus.
Hier auf dem kleinen Fleck Niemandsland war gar nichts. Es war eine Lichtung, mit niedergetrampelten Gras, das die Hausmeister*innen jeden Abend liebevoll wieder aufrichteten und gossen; sowie einem Himmel in dem Schwalben ihre Runden drehten. Abends sangen die Nachtigallen und schlossen den Betrieb auf dem Gelände, dann traf man hier keine Seele mehr an.
Hen mit den Aschehaaren gähnte mit vorgehaltener Hand, würde jetzt hens Zimmer aufsuchen und sich an die Arbeit machen müssen, wenn hen rechtzeitig alle Abgabefristen einhalten wollte.
Gerade schlug hen den Weg zu dem Stein mit den grünen Runen ein, die für die Abschlussklasse stand und legte hens Hand auf die Schrift, als hinter hen eine Gruppe aufgeregt in hens Richtung gestikulierte. Darunter befanden sich eine Sphinx, eine Riesin, zwei stattliche Wollknäuel – ineinander verschlungen, ein liquides Wesen aus Tinte, eine klappernde Matroschka und ein fliegender Teppich, auf dem ein Dschinn im Schneidersitz saß. Schnell machte hen, dass hen fortkam. Während sie nach hen riefen. Bloß das jetzt nicht – auf die Erstsemester hatte hen so gar keine Lust jetzt.
Schwuppdiwupp, auf der anderen Seite des grünen Portals betrat hen das Zimmer, welches hen sich mit einer Handvoll Abschlusssemester Glühwürmchen teilte, die angenehmerweise alle auf den Namen Pilo hörten und auf der einen Seite des Zimmers einen Brunnen und einen Baum mit breiten Blättern als Schlafplatz bewohnten. Die Pilos grüßten hen mit ihrem morsenden Blinken und arbeiteten dann weiter an ihrer eigenen Aufgabe.
Aschgrau grüßte kurz zurück und warf sich dann auf hens Wolke. Ließ das magische Hologramm mit ein paar müden aber willigen Gedanken antanzen und machte sich daran, eine Person ausfindig zu machen in dem hen das Archiv nach Stichworten durchsuchte und sich ein paar Diagnosen und Bilder ansah.
Allerdings hatte das kleine, runde Gerät, welches wie eine Christbaumkugel aussah und auch genauso filigran zerscheppern konnte, wenn man unvorsichtig (oder eine Katze) war, nach einiger Zeit der Suche immer noch keine Person nach hens Geschmack gefunden.
Resigniert stand hen auf, während das Hologramm folgte, und griff sich die Sportklamotten. Die Suchmaschine ratterte in hens Blickwinkel weiter und spie allerhand tolle Seelen, voll mit Existenz- und Verlustängsten aus. Einige „Teufelsbesessenen“ waren auch darunter, aber das waren alles nicht die Zielgruppen für die Hausarbeit.
Aschgrau benutzte erneut die Rune und landete: Schwupp statt auf der Lichtung, von der alle Wege abgingen, meilenweit vom Campus entfernt.
»Verdammt!«, schimpfte hen.
Manchmal passierten solche „Sprünge“ einfach. Sie waren nicht vorhersagbar, erkennbar, errechenbar. Es konnte plötzlich passieren, dass eine Lichtung auf der Hinkelsteine standen, auseinander barsten und ein riesiger Raum entstand, angefüllt mit wildem Schneegestöber und pfeifenden, fiependen Misstönen.
Wie in diesem Moment.
In dem besagte wunderschön gestaltete Lichtung sich vollkommen auflöste und in einem Wirbel aus Weiß und Blau zertanzte. Magische Strömungen durchbrachen jegliche Grenzen über die einer imaginären Akademie hinaus und banden sich in das Denken eines einzelnen Herzens ein.
Aus dem Nichts stand da auf einmal ein Teller mit einem Wackelpudding, mit süß duftender Vanillesoße übergossen.
Ein riesiger Schatten beugte sich nach dem Teller, hob ihn auf und setzte den Teller auf den Kopf wie einen Hut. »Spielst du schon wieder Häufchen Elend? Das wird bei dir noch zur Gewohnheit.«
Aschgrau, der Wackelpudding zitterte und blubberte vor sich hin. »Fehlfunktion.« Dann schwuppte die Gallertmasse fort und stand vor dem riesigen Schatten in voller Form. Ein acht-beiniger Pegasus mit Flügeln, samtigen Fell und aschgrauer Mähne nebst Schweif, Nebel stob aus den Nüstern und Eisblumen wanden sich in zerbrechlich-anmutigen Mustern um die Fesseln.
Die Riesin trat aus dem Schatten und wedelte mit dem Teller, auf dem Vanillesoße klebte. Seufzend reichte sie den Teller dem mystischen, geflügelten Pferd. »Nicht dein bester Tag.«
Mit dem Maul nahm der Pegasus den Teller und schwuppte sich auf ihre andere Seite. Hen sah an sich herab und seufzte zufrieden, wieder in der normalen Astralform, zweibeinig mit eng an den Rücken angelegten Schwingen und großen dunklen Augen. »Frostmorgen, was verschafft mir das zweifelhafte Vergnügen?«
Sie lächelte hen an: »Ein dringender Ruf einer armen Seele in Not.«
»Was? Wir beide zusammen?«
»Du nennst es Fehlfunktion. Ich nenne es Schutzengel-Notfall-Portal-Schnellfunktion.«
Hen warf die Hände in die Luft: »Ja, ist ja schon gut.« Hen konnte Erstsemester echt nicht leiden. Die waren wie Schwämme und sogen alle möglichen Kleinigkeiten auf, um damit zu protzen. »Dann nenn es eben SNPS, geht ja auch so leicht von der Zunge.« So hatte hen sich das jetzt nicht vorgestellt mit hens Zielperson, um den Test zu bestehen und endlich mit der Ausbildung abschließen zu können.
Frostmorgen, die Raureifriesin hieb hen auf den Rücken: »Komm schon, lass uns das schnell erledigen.«
Das Schlimme an diesen spontanen Portal-Schwupps – wie Aschgrau sie nannte – war, dass sie einen einfach irgendwo abluden. Und wenn das stattfand, schnappte sich das Portal die erstbesten Schutzengel, die es grad erreichen konnte. Da waren Frostmorgen und hen wohl einfach zur falschen Zeit im Portal gewesen. Falsch oder nicht, verweigern konnte hen sich der Aufgabe nicht. Wer einmal unterwegs war zu einer Seele in Not, konnte nicht einfach umdrehen, das galt als durchgefallen. Und hen hatte keinen Versuch mehr.
Die Umgebung wurde klarer. Aschgrau und Frostmorgen fanden sich in der Welt der Lebenden wieder. Beide für das menschliche Auge unauffällig, verschaffte die Magie ihnen vorübergehend weitestgehend menschliche Erscheinungen. Sie waren sofort in Alarmbereitschaft, denn das Ereignis, meistens ein Unfall oder ein tragisches Missgeschick, stand unmittelbar bevor. Laut glitzernder Anzeige auf der Hologramm-Kugel war es Freitag, der 10. Dezember – es war Nachmittag, Schneefall hatte eingesetzt. Zweifellos wurden in mehreren Autos gerade mehrere Ohren gewhamt. Schon seit dem Morgen hatten die Nachrichten Warnungen ausgegeben - nicht wegen des Liedes, sondern des Wetters - aber wenn es dann so weit war, kam es immer überraschend. Die Straßen verwandelten sich selbst mit Winterreifen in eine einzige Eisfläche. Binnen weniger Minuten hafteten die Schneeflocken klebrig an Straßenschildern und Rückspiegeln. Die Streuwagen kamen kaum hinterher, Kraftwagen schlitterten und rutschten über den Hügel hinab und mühten sich den Weg hinauf.
»Ziel?«, hakte die Riesin nach und versuchte sich in ihrer zu kleinen Gestalt umzusehen. Ihr Blick blieb auf Aschgrau hängen. »Ehm, soll das so sein, dass ich deine Flügel sehen kann?«
Hen drehte sich um sich selbst, in dem Versuch sich auf den Rücken zu sehen. »Wo?« Als hen die Riesin ansehen wollte, war diese vorgeprescht. »Miststück!«, rief hen und rannte hinterher. Sie hatte sich in wenigen Schritten einen Vorsprung herausgearbeitet und zweifellos auch das Ziel schon ausgemacht. Ihrer beider Füße schlitterten über den Boden, der Wind blies ihnen die Flocken ins Gesicht. Hen holte die Riesin ein.
»Da!«, rief sie und deutete auf einen ganzen Pulk Jugendlicher. Sie strömten aus der Schule, kamen über den Parkplatz, marschierten quer über den zugeschneiten Rasen, um Zeit zu sparen und sich an den Bushaltestellen zu sammeln. Einige warteten an der Ampel, andere liefen einfach über die Straße. Das war immer eine dumme Idee. Aber die Person, die Frostmorgen meinte, war ein Schüler, der gar nicht vorhatte den Bus auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu erwischen.
Nun zweifellos hatte der Bus, der den Berg hinunter kam auch nicht vor ihn zu erwischen – jedenfalls nicht mit Absicht.
Frostmorgen sprang auf die Straße, um den Schüler am Rucksack zu packen und zurückzuziehen. Es war so knapp, dass hen sich die Haare raufte. Der Bus fuhr einfach weiter, als gäbe es natürlich keine Schüler*innen auf der Fahrbahn. Der Jugendliche starrte verdattert auf die Busverkleidung, das Werbebanner und die beschlagenen Fensterscheiben. Gerade noch so passten ein paar Schneeflocken zwischen ihn und den Bus. Dann war der Spuk schon vorbei, der Bus fort, bog in die Haltebucht ein. Der Schüler setzte seinen Weg fort, als wäre nichts geschehen. Niemand hatte gehupt, es gab keinen Unfall. Frostmorgen hatte ihre Prüfung bestanden.
Aschgrau war selbst viel zu baff, als dass hen sich ärgern konnte. Hen beobachtete, wie die geschrumpfte Riesin sich umdrehte und sich die Kapuze ihres blauen Mantels mit weißer Flauschewolle im Inneren, welche auch aus der Kragen lugte, über den Kopf zog und zurück zu hen stapfte. Weiße Wolken kondensierten aus ihrem Mund beim Atmen, sie war aufgeregt. Hen lächelte leicht, ihre geröteten Wangen waren wirklich hübsch. Sie stieß die Hände in die Jackentaschen und sah hen an.
»Pass auf!« Aschgrau schwuppte sich für ein Blinzeln in hens Pegasusform, stieß sich mit den Schwingen und den vielen Beinen ab und prallte gegen die Riesin. Auch wenn sie geschrumpft war, hätte hen sie kaum bewegen können. Doch mit der vollen Wucht einer Pferdestärke schaffte hen es, sie zu schubsen. Sie taumelte rückwärts, zurück über den Mittelstreifen. Augenblicklich verwandelte sich Aschgrau zurück. ’Schwupp’. Der Aufprall des Autos war sanft. Stoßstange, Windschutzscheibe und Motorblock zerrissen hen in einem Zug. Wie eine Schneewehe, in die ein verspielter Fuchs hineinsprang, um eine Maus aufzustöbern, polterte der Wagen gegen das Hindernis.
»Nein!«, schrie Frostmorgen.
Federn wirbelten herum, Ascheflocken vermischten sich mit Schnee, grau-weißer Samt glitzerte auf. Die Scheibenwischer gaben ihr Bestes hektisch auf und ab zu wischen und sauber zu machen. Das Auto verringerte die Geschwindigkeit nicht. Weg war es, machte sich schwer kämpfend daran die Straße bergauf hochzurattern. Aschgrau war fort, zerlegt in hens magische Schutzengeleinzelteile.
»Idiot«, knurrte die Riesin und verließ die Straße, baute sich am Bürgersteig auf und wartete, bis sie zur Akademie zurückgerufen wurde.
Sie musste keinerlei Umweg nehmen, landete direkt im Sekretariat für Notfalleinsatz-Nachbesprechungen und hatte auch wieder ihre Lieblingsgröße angenommen. Ihre schicke, dicke Jacke zerriss über ihren breiten Schultern und ihren wogenden Brüsten. Sie strich sich mit einer Handbewegung die Reste aus magischem Staub von den Armen und freut sich, dass sie hier wieder ihre normale Kleidung trug.
Aschgrau wandte sich zu ihr um: »Was brauchst du denn so lange?« Hen lebte, natürlich lebte hen, war schließlich in der Abschlussklasse, im Gegensatz zu der Raureifriesin hatte hen schon gelernt im letzten Augenblick zu ’schwuppen’.
Frostmorgen knurrte hen an: »Du findest das witzig, oder? Warte nur bis ich mit dir fertig bin, du Häufchen Elend.«
Hens Lachen klang ein wenig nach dem Wiehern eines Pegasus’. »Stell dich nicht so an, wir haben ein kleines Weihnachtswunder vollbracht.«
Sie lächelten sich an. Hen fragte sich, ob sie jetzt beide bestanden hatten. Das wäre auch ein Wunder.