Knock, knock, knock. Das Klopfzeichen wummerte durch die gesamte Siedlung.
Zwischen den Häusern bestanden Verbindungen. Die Tunnel waren unterirdisch angelegt in grauer Vorzeit. Es war schon immer so gewesen und es würde auch ewig so bleiben, wenn es nach den Bewohnern ging. Vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft mal ein paar Optimierungen hier und da, ein Austausch von Geräten oder Rohrleitungen. Doch noch funktionierte alles tadellos, wie das Alarm System bewies. Das dumpfe klopfende Geräusch, welches sich durch alle Häuser fraß, wie der bebende Herzschlag eines Riesen, der tief geschlummert hatte, aber nun erwachte. Dazu die Nüstern eines Monsters welches die Luftschächte versorgte. Pfeifend dampfte der Lufthauch. Wie ein Tier war die gesamte Siedlung am Beben, es zitterte an jedem Eck. Die Rollläden knarzten in ihren Kästen und surrten an ihren Leinen. Der Alarm war ein Signal, welches den meisten Bewohnern von Kleinauf bekannt war. Es hatte ihn ebenfalls schon seit Urzeiten gegeben, unveränderlich in seinem durchdringenden Rhythmus, der vor Gefahren warnte. Gefahren, die im Erd-Inneren lauerten, darauf warteten an die Oberwelt zu gelangen. Nicht alle 22 Jahre zur Sonnenfinsternis oder alle 100 Jahre wenn die Planeten in besonderer Ausrichtung konstellierten, nein, jedes verdammte Jahr.
Zu spät, draußen war es bereits dunkel. Die Dunkelheit im Außen glich den Schattenteilen im Inneren der Lebewesen der Oberwelt. Um dem entgegenzuwirken, griff Herma nach der Laterne. Während sie das Licht entzündete, sprach sie die rituellen Begleitworte: »Was in mir will ans Licht?« Sie stellte das Gefäß mit der leuchten Spitze auf die Fensterbank. Herma war gerade aus der Dunkelheit getreten, auf beides bezogen, sowohl ihre Seele, als auch das reale Draußen. Sie hatte den Korb auf der großen Arbeitsplatte abgestellt. Kräuter, Zweige, Blätter hingen wie aus einem opulenten Füllhorn heraus. Nun kippte sie das Geflecht um, ließ die Naturgaben sich über die versiegelte Platte ergießen. Es raschelte, knisterte und erfüllte den Raum mit Düften. Sie atmete tief ein, der Schleier vor ihrem Kopf sog sich fest gegen Mund und Nase. Da sie nun wieder drinnen war, nahm sie den Kälteschutz ab und packte ihn zusammen mit Helm und Handschuhen zu ihren dicken Stiefeln. Sie würde die Kleidung später an ihren Platz im Flur bringen, jetzt sollte das feucht gewordene Zeug erst mal abtauen. Das ging nun einmal am besten im Hauptraum, der am wärmsten war.
Zuerst einmal widmete sich Herma dem Johanniskraut, welches mit seinen goldgelben Blüten die Stimmung erhellen sollte. Dann schabte sie das Tannenharz ab und mischte die zähe, klebrige und zum Weiterverarbeiten undankbare Masse mit Mastix und Wacholder. Ganz sacht erhitzte sie die Melange über der Flamme eines Brenners. Nicht zu viel, nur ein wenig, damit das Harz nachgiebiger wurde. Es folgten Rosenblätter und Wurzeln, hier noch ein Blatt, dort noch ein Stück Rinde, davon noch etwas und von diesem eine Prise. Gemahlen, gehackt, leicht geröstet, alles vermischt. Der etwas widerliche aussehende Ballen verklebter Kräuter und Pflanzenbestandteile landete in einem marmornen Tiegel.
Am Brett neben der Tür standen die einzelnen Schritte auf der To-Do Liste. Herma hakte ab: Licht entzündet, Kräuter vorbereitet, fehlten noch immergrüne Zweige, das heilige Buch für die Stichomantie, die Kiefernholzfackeln und ganz wichtig: der Tee. Sie sah nicht auf die Uhr, sondern verließ den Raum, um sich umzuziehen für den Abend. Sie hinterließ eine sauber verräumte Arbeitsplatte, der Korb im Schrank, der massive Topf auf dem Herd, den Braten im Ofen, die zum Bersten gefüllten Kühlkammer und das bis in jeden Winkel ausgenutzte Eisfach. Die Vorratskammer und das Lager waren voll wie Hamsterbacken. Tonnen an Getränken und Essen füllten das Haus. Im Regal lagen die Laibe und gingen auf. Alle geernteten Nahrungsmittel waren getrocknet und zum großen Teil haltbar verarbeitet, bis auf die Kartoffeln, Zwiebeln und Äpfel, die in ihren luftigen Kisten lagerten. Und die Pilze, die in ihren Farmen bis zu dem Tag weiterwuchsen, bis sie geerntet wurden. Gläser um Dosen um Packungen stapelten sich fein säuberlich sortiert in den Schwerlastregalen und boten vom Eingekochten bis zum Beschwipsten.
Sie waren vorbereitet.
Es kam die Nacht, die lange Nacht, die endlos lange Nacht.
Sie gebar nur Gemeinheiten und Grausamkeiten. In ihr lauerte das unvorstellbar Böse, welches es sich zur Aufgabe gemacht hatte alle Bewohner des lichten Reiches zu drangsalieren. Die Kokolores. Normalerweise arbeiteten diese Mächte im Verborgenen tief unter der Oberfläche. Sägten an den Grundpfeilern des zivilisierten Lebens: Tag für Tag, Nacht für Nacht, ein nie enden wollender Kreislauf aus mühsamer schwerer Handarbeit mit Sägen, Äxten und Meißeln. Jedes Jahr im Winter, wenn die Sonne nicht mehr aufging und es kalt wurde, vergaßen sie für einen Augenblick ihr schändliches Treiben im Dunkeln. Hörten auf Schnecken, und Engerlinge und Frösche zu fressen, labten sich nicht weiter am bitteren Quell unreiner Abflüsse.
Vergessen von der Zivilisation der Oberwelt wollten sie schlemmen, wollten sie feiern, wollten auch mal glücklich sein. Und was konnte sie glücklicher machen, als in der Wintersonnenwende endlich von ihrer Arbeit abzulassen, ihren kleinen Rucksack zu schultern – nur das Nötigste mit sich führen, also vielleicht einen Löffel. Emporsteigen und so lange die lichten Gestalten ärgern, bis diese ihnen alles abgaben, was sie so sorgsam vor ihnen versteckten.
Aufmüpfig kollernd und biestig plündernd nahmen sie ihren Weg auf zur Siedlung und zerstörten alles, was sie in die Klauen bekamen. Nun, das war ja jetzt im Grunde nicht viel, weil es lag dies Jahr schon Schnee. Bis auf ein paar zurückgelassene Gegenstände, einen Karren hier, ein Heuhaufen dort oder ein paar Geräte, konnten sie nicht viel zerbrechen. Also begnügten sie sich damit mit Schneebällen um sich zu werfen und kleine Schnee-Kokolores in den Boden zu zeichnen mit wedelnden Armen, Beinen und Schwänzen.
Ihr Trippeln über den Dächern klang furchteinflößend, ihr Jaulen drang grausig von draußen herein, während ein hohes Pfeifen ihr fürchterliches Gelächter war.
Na toll! Als Herma zurückkam, stank es gewaltig nach faulen Eiern, ranzigem Blumenkohl und gegorenem Rotwein. Herma war schockiert und tippte sich ans Ohr: »An alle! Wir haben ein Leck, sie sind eingedrungen.«
Das wonach es hier roch, das war einer dieser dämonischen Brut. Noch während sie sich umsah, hörte sie neben dem Alarmklopfen in den Rohren der Verbindungstunnel ein anderes dumpfes Poltern, vergleichbar mit dem Rumpeln eines hungrigen Magens oder eines Lactoseintoleranten, der es gerade noch zum Porzellan schaffte. Apropos, wenn diese beiden, der Bauchtrommler und der Stinker hier waren, dann konnten sie sich sicher sein, dass auch der Pinkler da war. Dieses lästige Mistbiest machte keinen Halt vor Eintöpfen und Suppen.
In ihrem Ohr erklang eine Stimme: »Hier Bio-Sektion, eins der Kinder hat davon berichtet, dass jemand gerade die Kekse geklaut hat und ihm die Lebkuchen gestohlen.«
Mist, die Bande war schon zu viert und auf zwei Zellen verteilt. Herma fluchte leise, ehe sie Anweisungen geben konnte, traf eine weitere Nachricht ein.
»Hier steht eine verdammte Ziege in meinem Bad!«
Das war Tell, er hatte den Gestaltwandler bei sich.
Wirklich ganz toll. Herma langte nach ihrem Ohr und setzte an: »Beruhigt euch alle! Au!«
Getrocknete, harte Erbsen trafen sie am Kopf. Sie mussten aus der Tiefkühlung kommen, das tat weh, als würde man mit Rollsplitt gespickt werden. Herma drehte sich schwungvoll um und riss den Arm hoch, um die nächste Ladung nicht ins Gesicht zu bekommen. Auf dem Türbalken über der Vorratskammer hockten zwei dieser miesen behaarten Dämonen, mit ihren langen Nasen, Schwänzen und rot glühenden Augen. Beiden ragten aus den Nasenspitzen Schmetterlingsrüssel, die sie aber nicht im mindestens niedlich wirken ließen. Der eine hatte seinen Arm bis zum Ellenbogen in einem der Honiggläser. Der andere warf mit den Erbsen.
Das erhöhte die Anzahl auf sechs oder sieben der liederlichen Brut. Herma griff mit der Hand nach dem Tiegel mit den Kräutern. An der Laterne entzündete sie die zähe Masse, die vor sich hin kokelte und dabei einen Schwall Rauch abgab. »Jetzt geht’s euch an die Nasen!«
Fauchend und kreischend brüskierten sich die Viecher und warfen jetzt nicht nur den Rest des Gemüses, sondern auch den Honignapf und lauter andere Dinge, die sie gestohlen hatten. Murmeln, Spielkarten, Tannenzapfen. Keckernd rannten sie los, über die Wände, unter der Decke kopfüber hängend. Sie sprangen über die Töpfe und Pfannen, rissen die Geräte herunter und warfen den riesigen 50L Topf um. Der randvoll gefüllt gewesen war und vor sich hin geköchelt hatte auf Sparflamme. Aber das war egal, es war ohnehin nicht mehr essbar, wenn der Pinkler da gewesen war.
»Was ist da bei dir los?«, hörte Herma das Gebrüll in der Funkleitung und duckte sich selbst, weil die Dämonen vor der Laterne auswichen und zur Seite sprangen. Der Erbsenwerfer verschwand im Abfluss, er war so agil und konnte sich so dünn machen wie ein Schatten. Der andere hatte nicht so viel Glück, randalierte weiter. Noch mehr von dem Lärm und er würde den ganzen Rest der elenden Bagage anlocken.
Herma musste sich erst in Deckung bringen und eine Schranktür aufreißen, ehe sie die Ruhe fand zu antworten: »Ich hab hier Probleme in der Küche!«
Aber niemand konnte ihr helfen. Die in die Anlage eingedrungenen Dämonen waren auf das Zeichen der beiden Störenfriede in der Küche in blanke Raserei ausgebrochen. Von überall gingen Notmeldungen ein. Die Alarme klopften nun ein Stakkato, welches nur noch zu übersetzen war mit Ausnahmezustand. Besteck flog durch die Küche und rappelte scheppernd gegen die metallene Tür. Herma schlug die Arme über dem Kopf zusammen. »Mist! Mist! Mist!« Was sollte sie tun? Es war nichts in greifbarer Nähe, um sich zur Wehr zu setzen. Außer der rauchenden Kugel, die aber nicht verhinderte, dass das Mistbiest Dinge nach ihr warf.
Die Tür wurde aufgerissen. Nicht die zur Küche, sondern nach draußen. Ein Pfannkuchen flog raus in den Schnee. Der räudige Dämon schrie schrill auf und sprang der Leckerei hinterher. Eiskalter Wind drang von draußen herein und wehte durch die Küche. Herma sah um ihre Schranktür herum und erkannte eine noch düstere Gestalt im Flur zwischen den einzelnen Einheiten stehen. Die Gestalt war gekleidet in lange, ausgefranste Stoffe, die ihr um den zu schmalen Leib schlackerten. Sie wirkte gebückt, niedergedrückt von einem Gewicht, welches auf dem Nacken lastete. Ihr Atem hinterließ deutliche Wolken um den verhangenen Kopf, als sie sich zu Herma drehte. Mit den Klauen umklammerte sie einen Stab. Sie konnte sich nicht erklären, wer das war. Wer so tollkühn war, die Tür aufzureißen. Aber andererseits, die Dämonen waren ja schon drin, jetzt war es ja im Grunde auch egal. Ein langer Schwanz peitschte unter dem fadenscheinigen Mantel hervor, als die Gestalt Anstalten machte ebenfalls nach draußen zu springen.
»Warte!« Herma konnte sich nicht erklären, wieso sie den Dämon aufhielt. Aber dieser hier schien anders, hatte den Trommelbauch, der die Küche verwüstet hatte, hinauskomplimentiert.
Die Gestalt wartete. Auf was? Jetzt, da sie tat, was Herma gewollt hatte, wusste sie nicht mehr, was sie von ihr wollte. Hauptsache das Wesen schaffte es nicht sie anzufassen. Das durfte sie unter keinen Umständen zulassen. Es gab unbestätigte Berichte von berüchtigten Tänzen mit Dämonen. Herma packte das Sieb aus der Spüle und hielt es wie einen Schutzschild vor sich. Damit ging sie mutig auf die Gestalt zu, die wie zu erwarten vor ihr zurückwich, hinausging. Sie mochten nichts, was sie zum Zählen animieren konnte. Der Legende nach, weil es sie nur daran erinnerte, wie unnatürlich und hoffnungslos ihr jahrelanges Tun war. Wie sinnlos ihre Existenz, weil ihr Einsatz fruchtlos bleiben würde. Traurig, wenn sie es genau bedachte. Dennoch trieb sie die dämonische Gestalt weiter zurück. »Ruf all deine Dämonen zurück und dann lasst uns in Ruhe!« Es gab sicher nicht viele in den Reihen der Dämonen, die über eine gewisse natürliche Autorität verfügten, wie dieser.
Wie befohlen riss das Biest seine Kapuze vom Kopf, entblößte lange Eselsohren und rot glühende Augen, er öffnete das Maul und schrie. Es war markerschütternd, Herma wich hinter die Tür zurück und drohte mit dem Sieb: »Und kommt nicht wieder!« Dann warf sie die Tür zurück ins Schloss, die automatische Verriegelung surrte.
Draußen hörte sie das Grunzen, Janken und Zetern der Dämonen, die sich sammelten vor ihrer Tür. Auch wenn sie jetzt ausgeschlossen waren, sie würden die Siedlung nicht in Ruhe lassen. Das konnten sie nicht.
»Verdammt noch mal, Leute. Das hier ist keine Übung! Wer von euch hat es dies Jahr vergeigt?«, Herma hielt inne ihren Gefährt*innen eine Standpauke zu halten. Der rotäugige, gekrümmte Dämon in der verschlissenen Kutte stand in ihrer Küche – erneut. Sie konnte schwören, dass sie ihn gerade rausgeworfen hatte. Dieser hier schien regelrecht durch Wände glitchen zu können. Wie zum Hohn, zeigte er ihr erneut auf, welch klaffende Lücken im System vorlagen. Sie pfefferte das Sieb in seine Richtung und packte das Licht. »Wo ist dein inneres Licht?«, spuckte sie ihm die die rituellen Zauberformeln entgegen, die hier jedes Kind noch vor den ersten Schlafliedern hörte. »Lass es heller werden, lass es wachsen. Was in mir will ans Licht?« Die Küche sah inzwischen aus wie ein Schlachtfeld. Als hätte jemand alles auf den Kopf gestellt. Die Möbel waren hinüber, zerkratzt und verbeult, und das sicher nicht nur hier. Und das ging jetzt zwölf weitere Tagesläufe so.
Oder eben, wie es hier hieß:
Die ganze verdammte endlos lange Nacht lang.
Mardom war der Anführer der Kokolores und er fackelte nie lange, er brauchte weder Waffen noch Schilde noch magisches Zutun, seine bloße Erscheinung ließ die Maiden zittern und die Recken erstarren. Seine grausige Heerschar stand dem in Nichts nach. Er bekam das Sieb gegen die Brust und fing es mehr aus Reflex, war ja nicht so, als verbrannten an dem Teil die Pfoten. Stattdessen fiel sein Blick auf die Löcher und er seufzte. Einem inneren Drang folgend, fing er an mit raspelnd heiserer Stimme zu zählen. »Eins, Zwei.« Ihn interessierte das Licht nicht. Nur die hübsche Frau, die an der Laterne dran hing und die Löcher im Sieb. So ein schönes Sieb war das.
In der Dunkelheit jagte seine wilde Meute um die Siedlung herum und rüttelte an allen Türen und Fenstern. Suchte jede noch so kleine Möglichkeit, um einzudringen.
Sie ließen nicht locker, mit nur einem Ziel.
Es gelüstet sie nach Stollen mit Butter und Puderzucker, sie waren scharf auf Kekse mit Glasur, Gebäck mit Mandeln, Sterne mit Zimt und Kuchen mit Leben. Sie wollten schlemmen, fressen, ja sich gar mästen. Sie brauchten die Kraft für ihre weiteren Machenschaften. Jeder der ihnen dabei in den Weg geriet, bekam es mit der Angst zu tun, denn es waren grausame Räuber. Sie kamen in den zwölf Tagen der langen Nacht mit dem Nebel (wenn halt grad Nebel herrschte – oder Glatteis, oder was auch immer meteorologisch grad da war); sie hatten es auf die Siedlungen abgesehen, dort wo Leben war. Denn dort standen Unmengen an Nahrung zur Verfügung. Festtagsgans, Karpfen, Apfelrotkohl, Kartoffelsalat mit Würstchen. Da floss der Eierpunsch und Glühwein, vielleicht sogar ein Met. Süß, scharf, saftig, vollmundig, fetttriefend - egal welchen Reiz, sie wollten nur Eins: Das haben, was die Lichtbewohner hatten, sie wollten auch mal Festtage.
Sie brauchten Urlaub.