Leise fielen dicke Schneeflocken vom Himmel und verwandelten die Landschaft in einen Märchentraum. Auch wenn die weiße Pracht eine besondere Schönheit in sich trug, war Lucia froh den kalten Zauber aus dem inneren ihrer behaglichen Wohnung zu betrachten. "Gerade rechtzeitig zum 1. Advent.", sagte sie und schritt zu ihrem Kater, welcher missmutig aus dem Fenster blickte. Lucia ließ ihre Finger durch das schwarze Fell gleiten und kraulte ihren geliebten Vierbeiner ausgiebig. Die Augenlider senkten sich und ein lautes, genüssliches schnurren war zu vernehmen.
Morgen würden sie die Kerzen des Adventskranzes entzünden, Lucia freute sich schon darauf.
1. Advent
Bei heißer Schokolade, Kaffee und den ersten selbstgebackenen Plätzchen des Jahres saßen Lucia und ihre Mutter am Wohnzimmertisch. Mit gespannten Augen erwartete Lucia, wie ihre Mutter das Streichholz entflammte und an den weißen Docht hielt. Aus der Streichholzflamme entglitt ein Flämmchen auf den Docht und die Kerze begann zu brennen. Während das Streichholz erlosch, erwachte die Kerzenflamme immer mehr zum Leben und erzeugte ein schwaches Glimmen von goldenem Kerzenschein. Eine Stille legte sich über das Wohnzimmer und nur das Schnarchen von Lucias Kater auf dem Sofa war zu vernehmen. So verbrachten sie einige Minuten, die besinnliche Stille in sich aufnehmen. Lucia betrachtete die Flamme eingehend, wie sie sich langsam den Docht hinab hangelte und das umliegende Wachs sich langsam in einen kleinen, warmen See entwickelte. "Du warst schon immer fasziniert vom Licht.", durchbrach ihre Mutter die Beobachtung.
Lucia schaute irritiert auf und über ihr schien ein Fragezeichen zu schweben, so sichtbar wie der Heiligenschein eines Engels.
"Ich meine, wie du damals das Licht der Welt erblickt hast."
Lucia wusste nicht, ob sie die Geschichte erneut hören wollte, doch es schien ihrer Mutter wichtig erneut zu berichten, wie ihr Name zustande kam.
"Ich erinnere mich daran noch sehr genau, eigentlich hättest du erst im Januar zur Welt kommen sollen. Aber du wolltest wohl unter keinen Umständen die Lichter des Adventskranzes verpassen. So kamst du schon etwas früher aus deiner Mamas Bauch.", dabei tätschelte Lucias Mutter auf ihren Bauch, als wolle sie sagen: Ja da warst du einmal drin. "Du weißt ja, du hattest keinen besonders guten Start ins Leben. Als du da warst, war alles still, bis die Ärzte plötzlich hektisch wurden. Du musstest beatmet und reanimiert werden. Du wurdest sprichwörtlich ins Licht geboren, so nannten wir dich Lucia.", ihre Mutter schwieg und betrachtete das Gesicht ihrer Tochter. "Weißt du.", setzte sie fort, "Wir hatten damals einen Adventskranz, wie diesen hier. Wir gaben den Kerzen Namen und zündeten sie an, in der Hoffnung sie würden dir helfen können."
Diesen Teil der Geschichte kannte Lucia noch nicht und Verwunderung war in ihr Gesicht geschrieben: "Wie nanntet ihr die erste Kerze?"
"Hoffnung."
Die Woche verging rasch, rascher als man es in eigentlich besinnlichen Tagen erwarten würde. Lucia verbrachte ihre freien Stunden mit dem Basteln von Weihnachtskarten, welche sie noch rechtzeitig versenden wollte um ihren Lieben, die sie nicht besuchen konnte, eine kleine Freude zu machen. Der Schnee war über die Wochentage zu einem braunen Matschgebilde geworden und letztlich geschmolzen gewesen. Es erinnerte nicht mehr an die Weise Pracht des vorangegangenen Wochenendes, als es Zeit wurde die zweite Kerze zu entzünden. Wieder erwartete Lucia Besuch, dieses Mal ihren Vater. Ihre Eltern waren seit Jahren getrennt und geschieden. Kein Rosenkrieg, man hatte sich auseinander gelebt und Meinungsverschiedenheiten beiseite gelegt, um es der eigenen Tochter nicht unangenehmer zu machen, als die Trennung ohnehin schon war. Lucia erinnerte sich, dass sie zu dieser Zeit einen ganzen Ozean von Schmerz fühlte und sich noch nie zu vor so unverstanden fühlte. Sie aß mit ihrem Vater Plätzchen und trank mit Nachdruck ihre heiße Schokolade um die Gedanken an diese Zeit herunterzuspülen. Sie war so vertieft, dass sie nicht bemerkt hatte, dass sie die Kerze vergessen hatten. Ihr Vater nahm wortlos ein Feuerzeug zur Hand und entzündete die Flamme mit diesem die erste Kerze und die zweite. "Gebet.", murmelte er. Das ließ Lucia aufhorchen, langsam tauchten die beiden Flammen das Zimmer in einen schwach goldenen Kerzenschein. "Was meinst du mit Gebet?"
"Hat deine Mutter dir nie erzählt, dass wir den Adventskranzkerzen zu deiner Geburt Namen gaben?"
"Sie hatte letzte Woche etwas in der Richtung erwähnt, sie meinte das ist Hoffnung.", dabei zeigte Lucia auf die schon etwas stärker abgebrannte Kerze. Ihr Vater nickte: "Ja.", er zeigte auf die zweite Kerze, "Und das ist Gebet. Du musst wissen, nachdem du bereits eine Woche auf der Welt gewesen warst, sah es um dich schlechter aus. Die Ärzte meinten sie würden dir vielleicht noch eine Woche, oder weniger geben. Stell dir vor wie uns zumute war. Es ist für Eltern nie leicht so etwas zu hören. Also brachten wir unseren Adventskranz alle Hoffnung entgegen und entsendeten, als wir die zweite Kerze anzündeten ein Gebet, dass du bei uns bleiben kannst."
Schon war der dritte Advent angebrochen. Lucia war diesen Advent allein in ihrer Wohnung, fast allein ihr Kater ruhte auf ihrem Schoß und schnurrte aus tiefster Seele. Draußen tanzten die Flocken und fielen in Heerscharen aus den Wolken. Eigentlich wollte sie Oma heute besuchen, doch das Wetter war ihr zu gefährlich zum Fahren gewesen. Auch wenn es schade war, verstand Lucia die Befürchtungen ihrer Oma nur zu gut, war ihr Onkel doch vor drei Jahren durch Glatteis in einen Unfall geraten und verbrachte mehre Wochen im Krankenhaus. "Das war ein seltsames Weihnachten.", stellte die junge Frau fest und stimmte sich selbst zu, dass dieses Weihnachten noch viel seltsamer seien würde. Sie zog mit der linken Hand das Feuerzeug zu sich, während ihre rechte weiter das Fell ihres Katers kraulte. Da sie Rechtshänderin war, stellte sie sich beim Anzünden der Kerzen mit Links etwas ungeschickt an und verbrannte sich den Daumen bei der dritten Kerze. "Autsch.", sie steckte sich den Finger in den Mund und versuchte ihn mit Spucke zu kühlen. Die Kerzen begannen zu brennen und erfüllten teilweise den Raum mit goldenem Kerzenschein. "Wie wohl die dritte Kerze hieß?"
In diesem Moment surrte ihr Handy zweimal und sowohl ihre Mutter, wie auch ihr Vater schrieben ihr Alles Gute zum dritten Advent, 3 Kerzen-Emotis und Neubeginn.
"Neubeginn.", murmelte Lucia und blickte zu der Kerze, die ihr den Finger verbrannt hatte.
Auch die letzte Vorweihnachtswoche war wie im Fluge vergangen. Schon strahlte das Licht der vierten Kerze in die Dunkelheit. „In vier Tagen ist Heiligabend“, seufzte Lucia, dass Licht der Kerzen flackerte golden und ihr Schein erfüllte die Stube in behaglichem golden Licht. Neben den Adventskerzen brannten nur die Lichterketten des Baumes, den ihr Timo vorbeigebracht hatte. Rote Kugeln hingen von den Zweigen und unter dem Geäst lagen Pakete. Schmuckloses Braun, anstatt festlichem Geschenkpapier, aber so war dieses Weihnachten eben. Lucia strich über die Nadeln des Baums, Timo hatte sich für sie so viele Umstände gemacht. "Es hätte auch ein Mistelzweig sein können.", sagte die junge Frau mit spitzen Lippen und blickte zu ihrem Kater, welcher ihr in Katzentypischer Manier einen vielsagenden Blick zuwarf. "Ach jetzt schau nicht so, er ist doch wirklich lieb zu mir, oder bist du etwa eifersüchtig." Der Kater drehte den Kopf zur Seite, was Lucia ein unweigerliches Lachen entlockte. 2020 war ein seltsames Jahr gewesen und so seltsam war auch dieses Weihnachten. Lucia nahm ihren Laptop und baute ihn auf dem Wohnzimmertisch auf. Sie drückte auf den Einschaltknopf und drapierte den Adventskranz vor den Laptop. Nachdem das Gerät hochgefahren war, öffnete sie Skype und wartete darauf das ihre Lieben anrufen würden. Es dauerte nicht lange und schon waren ihre Mutter, ihr Vater und ihre Oma zugeschaltet. Sie alle waren für sich allein, doch feiert gemeinsam den vierten Advent mit einem Kranz golden scheinender Kerzen. Gemeinsam aßen sie Plätzchen, tranken Heiße Schokolade und Kaffee. Es war eine besinnliche Zeit, eine glückliche Zeit.
"Wie damals.", meinte Oma Hilde und zeigte auf die vierte Kerze und Lucias Eltern nickten: "Glück."
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18.12.2020 © Felix Hartmann