Die Tür stand weit offen und ich blinzelte, als ich in den Flur trat. Draußen flimmerte die Nachmittagssonne, aber hier war es schummerig und kühl. Aus der Küche kam Musik. Live. Fast wäre ich wie ein albernes Fangirl in die Knie gegangen, weil Sven Hedlund mal wieder ein Privatkonzert gab und ich dabei sein konnte. Die Mädels, die ihm auf Instagram folgten, hätten wahrscheinlich für so einen Moment getötet.
Ich genoss für einen kostbaren Augenblick dieses exklusive Gefühl und lauschte verzückt. Sven sang einen melancholischen Song, der mir irgendwie bekannt vorkam und begleitete sich selbst auf der Gitarre. Aber ich kam einfach nicht darauf, wo ich den Song schon gehört hatte.
Von Neugier getrieben lehnte ich mich in den Türrahmen zur Küche und hörte still zu. Mit der Gitarre auf dem Schoß saß Sven am Küchentisch und ließ seine warme, volle Stimme tanzen. Er streifte mich mit einem kurzen Blick, ließ sich aber überhaupt nicht stören. Als er zum Refrain kam, fiel mir ein, woher ich den Song kannte. Don’t dream it’s over.
Ich schlängelte mich langsam in die Küche und sank verträumt auf einen Stuhl. Sven ließ das Lied langsam ausklingen und legte die Hand auf die Saiten der Gitarre, um sie verstummen zu lassen. Er lächelte mich geistesabwesend an.
Ich seufzte hingerissen. »Du spielst alte Songs von Crowded House?«
Sven nickte langsam, dann grinste er. »Du kennst alte Songs von Crowded House?«
Ich musste lachen. »Ich hab Internet!«
Sven murmelte: »Sorry, ich wollte mich nicht anhören wie ein Boomer.«
Ich grinste. »Ich will mich auch nicht anhören wie ein Fan, der über Musik schwafelt, um dich zu beeindrucken, aber ich steh total auf australische Bands der Achtziger. Icehouse war fantastisch.«
»Men at work?«
Ich neigte nachdenklich den Kopf. »Hm, die waren okay. Aber da fehlt mir ein bisschen dieses typisch melancholische.«
Sven lehnte sich zurück und nickte verstehend. »Okay. Willst du mal was richtig melancholisches hören?«
Ich nickte gespannt und dachte, er würde einen neuen Song anstimmen, aber er deutete mit einem Kopfnicken in den Flur. »Sieh ins Atelier.«
Ich blickte ihn erstaunt an, dann stand ich auf. »Was ist im Atelier?«
»John und Anna tanzen Tango.«
»Das ist melancholisch?«
Sven sah zu mir auf und blinzelte nur langsam wie ein träger Kater. Ich beugte mich zu ihm und flüsterte: »Anna hat mir erzählt, dass sie Tango tanzen, aber ich dachte immer, Tangotänzer wären diese Typen mit Eiskunstläufer-Knackarsch und Glitzerblusen. Und so einer Rose zwischen den Zähnen und einer Schmalzlocke.«
Sven lachte entspannt. »Hab ich auch mal gedacht.«
Ich deutete mit dem ausgestreckten Finger in den Flur. »Und ich kann da jetzt einfach so …«
Sven sah mich irritiert an, dann lachte er wieder so leise und entspannt, dass ich eine Gänsehaut bekam. »Du störst die beiden nicht bei irgendwas, mach dir keine Sorgen. Sag ihnen einfach, dass ich jetzt Tee mache.«
Ich nickte erleichtert, dann lief ich über den Flur und öffnete vorsichtig die Tür zum Atelier. Die Musik war nicht laut, aber gefühlvoll und schwermütig. Die Staffeleien waren zur Seite geräumt und der freie Raum in der Mitte war lichtdurchflutet.
John und Anna schienen das Tempo des ohnehin schon langsamen Liedes noch einmal halbiert zu haben. Hätte ich eine Show-Tango-Einlage erwartet wie in den Fernsehshows, die meine Oma sich immer ansah, wäre ich wohl enttäuscht gewesen. So aber klappte ich vor Staunen den Mund auf wie ein Schaf auf dem Deich, das vergessen hatte, dass es eigentlich das Maul aufgesperrt hatte, um zu Blöken.
Die beiden schritten gemeinsam durch den Raum. So gefühlvoll, so langsam und gedankenverloren, dass mich eine ungekannte Sehnsucht packte. Die Glitzerklamotten hatten sie sich geschenkt. John tanzte in seiner üblichen Arbeitshose und einem seiner löchrigen alten Hemden, Anna trug eine abgeschnittene Jeans und ein Shirt. Das einzig tangomäßige waren ihre lebensgefährlichen Pfennigabsätze, aber sie bewegte sich damit, als wäre sie dafür geboren.
John hatte mich aus dem Augenwinkel bemerkt, hob den Kopf und spreizte kurz die Finger, um mich zu begrüßen. Anna, mit dem Rücken zu mir, kam aus dem Takt und stieß gegen ihn. Sofort konzentrierte John sich wieder ganz auf sie und murmelte: »Sorry, falsches Signal, ich war kurz raus.«
Ich presste schuldbewusst die Lippen aufeinander. Offenbar hatte ich die beiden in ihrer Konzentration gestört. Ich überlegte, ob ich schnell wieder raus huschen sollte, war aber zu gebannt davon, wie sie durch den Raum schwebten.
Ich versuchte, herauszufinden, woher sie wussten, welcher Schritt als Nächstes kommen würde. Hatten sie diese Choreographie tagelang eingeübt?
Aber dafür wirkten ihre Bewegungen viel zu echt und spontan. Völlig versunken tanzten sie mit gesenkten Köpfen durch den Raum. Anna hatte sogar die Augen geschlossen und lehnte voller Vertrauen die Stirn an Johns Wange. Trotzdem wusste sie wohl genau, was er von ihr wollte, denn als John einen Richtungswechsel tanzte, schwang sie das Bein hoch und bewegte es elegant um seine Hüfte, ohne ihn dabei zu berühren.
Ich holte zitternd tief Luft. Dieser langsame, fast stille Tango war das pure Vertrauen, ein wortloses Verstehen. Ich mümmelte angespannt an meiner Lippe und fragte mich, was mich eigentlich so aufwühlte.
John war vollkommen konzentriert, aber er strahlte eine unglaubliche Traurigkeit aus.
Ich lauschte auf den Text der Musik. Eine Frauenstimme sang etwas, das so ähnlich lang wie »Wir leben ewig« und trotzdem klang es nicht nach meiner gewohnten Sprache. Was war das für ein Dialekt?
Die Musik nahm langsam Tempo auf, mit diesem für einen Tango typischen Instrument, von dem ich keine Ahnung hatte, wie es hieß. Es war ähnlich wie mit der Sprache, das Instrument klang so ähnlich wie ein Akkordeon, war aber keins.
Ein Klavier und Geigen kamen dazu und John führte Anna so im Kreis, dass sie sich auf einem Bein um sich selbst drehte, voller Hingabe und Selbstvergessenheit, ganz langsam.
Annas Kopf war gesenkt, aber John sah mit so viel Gefühl auf sie herab, dass mir das Herz überblubberte. So viel Gefühl!
Die beiden waren so aufeinander fokussiert, dass sie es nicht gemerkt hätten, wenn eine Kuhherde durch den Raum galoppiert wäre. Oder vielleicht hätten sie es gemerkt, aber ich war sicher, dass John Anna trotzdem mit so viel Sicherheit und Ruhe geführt hätte, dass sie jeder Kuh ausgewichen wäre, ohne die Augen öffnen zu müssen.
Meine Unterlippe zitterte und ich merkte, dass ich angefangen hatte zu weinen, weil mir eine Träne über die Wange kullerte. So viel Gefühl. Es war, als würde die Traurigkeit der beiden über mich schwappen wie eine Welle. Gleichzeitig flitzte mir der Gedanke durch den Kopf: »Wie kann man so traurig sein, wenn man so schön tanzen kann?«
Ich wäre wahrscheinlich vor Glück geplatzt! Aber nicht in diesem Moment. Unschlüssig wandte ich mich ab, zögerte noch einen Takt, dann verließ ich leise das Atelier und ging zurück in die Küche.
Sven klapperte mit den Tassen, deckte den Tisch und summte die Melodie mit, die leise aus dem Atelier herüberschwappte. Ich blieb mitten in der Küche stehen und kam mir seltsam verloren vor. Irgendetwas hatte mich zutiefst berührt, aber ich wusste einfach noch nicht, was es war.
Ich schluckte und versuchte, meine Tränen wegzublinzeln. Sven sah mich an. »Rotes Näschen?«
Ich schluckte noch einmal. Mit einem Nicken wischte ich mir über die Augen. »Was ist das für ein Lied?«
Meine Stimme klang brüchig und fremd in meinen Ohren. Sven wühlte in einer Schublade und murmelte: »Es heißt ›Mir lebn eybig‹, ein jiddisches Lied von 1942. Aus dem Wilnaer Ghetto.«
Betreten murmelte ich: »Und ich dachte, ›Don’t dream it’s over‹ wäre melancholisch! Ist heute irgendwas passiert, dass ihr alle so traurige Sachen macht?«
Sven reichte mir aus der chaotischen Schublade eine Packung Taschentücher. »Findest du es traurig, wenn man einfach mal alle Gefühle auslebt, die man so hat?«
Ich schnäuzte mich so leise wie möglich, um die Stimmung im Atelier nicht mit einem albernen Trompeten zu stören und schniefte: »Ich weiß nicht genau.«
Sven zwinkerte mir zu und flüsterte verschwörerisch: »Es heißt Bandoneon.«
»Was?«
Sven grinste. »Das Instrument, von dem du dich gefragt hast, wie es heißt.«
Ich rubbelte noch einmal mit dem Taschentuch über meine rote Nase und sah ihn verblüfft an. »Woher weißt du das?«
Svens grinste noch breiter. »Ein bisschen kenne ich dich schon. Du hast einen sehr neugierigen Geist und kannst nicht einschlafen, wenn du an einem Tag nichts Neues gelernt hast.«
Ich räusperte mich verlegen und merkte, dass ich vor Freude rot wurde. »Neben euch komme ich mir oft vor wie eine strunzdumme Schüssel Kartoffelpüree. Aber das Zeug aus der Tüte!«
Sven brühte den Tee auf und murmelte: »Das kommt dir nur so vor, weil wir uns alle sehr gut kennen und immer über dasselbe Zeug reden.«
Ich dachte kurz darüber nach, was genau er damit gemeint haben könnte, dann holte ich tief Luft. »Ah, du meinst, dass ihr Insider seid, die einfach wissen, was die anderen beschäftigt und womit sie sich befassen.«
»So ungefähr.« Sven öffnete den Küchenschrank und wühlte in der »geheimen Keksklappe«. Ich betrachtete den riesigen Wikinger nachdenklich. »Ich glaube, ich habe gerade etwas über John verstanden, was mir schon lange im Kopf rumgeht. Ich konnte nur irgendwie nicht den Finger drauflegen.«
Sven sah ratlos in eine angebrochene Keksschachtel und schüttelte sie enttäuscht. »Und was?«
Ich atmete tief durch und neigte fasziniert den Kopf. »Er ist traurig.«
Sven lachte leise, aber ich nickte heftig, um mich selbst zu bestätigen. »Nein, ehrlich! Er ist manchmal so melancholisch, obwohl es dafür gar keinen offensichtlichen Grund gibt! Und ich hab mich ein paar mal gefragt, ob er was hat, aber es mir einfach nicht sagen will. Aber jetzt frage ich mich gerade, ob er all diese Gefühle einfach nur hat, weil er kann! Verstehst du, was ich meine?«
Sven blieb mit der Kekspackung in der Hand reglos stehen und sah mich verblüfft an. »Treffender kann man unser Malerchen wohl nicht beschreiben.«
Ich nickte langsam und flüsterte: »Er hat diese ganzen Gefühle einfach, weil er kann. Dann muss er auch.«
»Und du? Was ist mit dir und deinem roten Näschen?« Sven gab mir einen sanften Nasenstüber und lächelte mich mit so viel Wärme in den Augen an, dass mir schon wieder ganz schwummerig wurde vor Gefühl.
Ich senkte verlegen den Blick. »Vielleicht kann ich auch viel mehr fühlen, als mir klar war. Bei euch geht das irgendwie.« Ich sah zu ihm auf. »Kann es sein, dass man weicher wird, wenn man weiß, dass es Menschen gibt, die einen auffangen? Bei denen man einfach sein darf, wie man ist?«
Sven blinzelte nur wieder dieses Blinzeln eines entspannten Katers und ich wusste, dass er mich verstand. Er wischte den intimen Moment mit seinem satten Grinsen zur Seite. »Das Sein bestimmt das Bewusstsein.«
Ich musste lachen. »Okay, welchen Schriftsteller hab ich jetzt wieder nicht gelesen?«
»Marx. Kalle Marx und seinen dialektischen Materialismus. Damit grenzt er sich aber ab von Hegels dialektischem Idealismus, den du nicht verwechseln darfst mit …«
John kam durch den Flur. Seine Traurigkeit schien verschwunden, denn er schmetterte ein irisches Lied. Ich lachte auf. »Das kenne ich! Rocky Road to Dublin!«
John tanzte wie ein betrunkener Hobbit um mich herum und verwandelte mit völlig übertriebenem Akzent die Zeile »That’s the Paddy’s cure« in »That’s the Paddy’s girl«, dann drückte er mich fest an sich.
Für einen wundervollen Augenblick ließ ich mich völlig fallen in dieser schützenden, warmen Umarmung. Wir hörten Sven mit der Kekspackung rascheln und Anna leise schimpfen. »Digger, tisch nicht die ollen Krümel auf! In der Speisekammer steht frischer Kuchen und außerdem gibt es Schokoeis!«
»Zum Tee?«
John und ich lachten leise über Svens entsetzte Frage. Anna patzte besserwisserisch: »Ja, und? Lilly mag Schokoeis!«
Sven brummte. »Ja, klar, jetzt benutz Lilly mal nicht als Ausrede, weil du dir Tag und Nacht Schokoladeneis rein pfeifen willst, das kann sie ja wohl selbst entscheiden! Oder? Lilly?«
Ich lachte leise und löste mich sanft aus Johns Umarmung. John sah mich prüfend an und flüsterte besorgt: »Alles in Ordnung?«
Ich sah ihm intensiv in die Augen und nickte langsam. »Ich war nur so unglaublich berührt von eurem Tango.«
Ganz sanft flüsterte er: »Okay?«, aber sein Blick blieb unsicher.
Ich lächelte ihn tapfer an. Ganz leise murmelte ich: »Ich glaube, ich hab heute zum ersten Mal deine traurige Seite wirklich verstanden.«
Johns Blick war wieder so wach und leuchtend, dass ich mich für einen Moment fragte, ob ich mir das ganze Gefühlschaos nur eingebildet hatte. Aber Anna schob sich hinter mir vorbei und berührte mich sanft an der Taille. »Schokostreusel, oder? Du nimmst heute auch ganz viele Schokostreusel in deinem Eisbecher!«
Anna wuselte in die Speisekammer und trällerte dabei leise »Don’t dream it’s over«. Sven ließ sich kopfschüttelnd auf einen Stuhl sinken. »Woher kennt sie jetzt meinen Ohrwurm? Ihr wart doch im Atelier!«
John sah mir noch einmal tief in die verweinten Augen, dann setzte er sich. »Vielleicht, weil du ihn seit drei Tagen summst.«
Sven streckte seine langen Beine aus und verschränkte seufzend die Arme. »Wisst ihr, was wir machen? Wir fahren heute Abend noch an den Strand. Dann kriegen wir die roten Nasen wenigstens vom Wind. Ist mal was anderes.«
Für alle, die den jiddischen Tango selbst hören wollen: https://www.youtube.com/watch?v=zZnvx3sRkOg