60 min - Spiegel
Nervös zupfte sich Leopold an seinem Revers. „Sehe ich gut genug aus?“
„Natürlich!“ Anna kam von hinten und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange. „Du bist perfekt. Das richtige Outfit für ein Krimidinner im historischen Ambiente. Besser hättest du es nicht auswählen können.“
Der schwarzhaarige Mann strich nervös über seine halblangen schwarzen Haare, welche er mit Gel nach hinten frisiert hatte. „Das wird nicht gutgehen!“
Die Frau lachte. „Mein großer Bruder ist nervös! Nun hab dich nicht so! Schau dich doch im Spiegel an. Fesch siehst du aus, oder nicht?“
„Du mit deinen modernen Ausdrücken!“ Unsicher starrte der Adlige auf das Glas. „Ich sehe aus wie immer, finde ich!“
„Dann siehst du eben immer fesch aus. Dein Blinddate wird dich zum Anbeißen finden!“
„Sicher nicht!“. Leopold schüttelte energisch den Kopf. „Hoffentlich merkt er es nicht!“
„Warum sollte er? Sei einfach nett und iss nicht zu viel. Aber wer weiß, wenn dieser Bastian dir nicht behagt, vielleicht finde ich ihn ja zum Anbeißen.“ Annas Augen glitzerten und ihre Zunge leckte über ihre Lippen.
„Unterstehe dich!“
„Nicht ein kleines bisschen?!“, fragte sie gespielt unschuldig.
„Unterstehe dich… Bastian wird nicht… sag mal, du provozierst mich gerade, oder irre ich mich?“
„Ich will dir doch nur die Nervosität nehmen, Leo. Was ist schon dabei? Du triffst dich mit deinem Blinddate, ihr habt einen schönen Abend und alles andere zeigt sich!“
Er musterte unsicher sein Spiegelbild. Bisher war es einfach gewesen.
Die Gespräche, die er mit Bastian geführt hatte. Zuerst in einem privaten Chatroom für schwule Männer. Bald hatten sie sich privat geschrieben und Fotos ausgetauscht. Und seit zwei Monaten telefonierten sie regelmäßig.
Und heute trafen sie sich beide zum ersten Mal persönlich. In echt.
Wie sollte er sich verhalten?
Er musste aufpassen, dass sein Lügengebäude nicht wie ein Kartenhaus zusammenfiel. Seine erfundene Arbeit als Wachmann in einer Sicherheitsfirma, über die er angeblich nicht reden durfte. Die Sonnenallergie. Die Überempfindlichkeit gegenüber Nahrungsmittel.
Er würde sich in Widersprüche verwickeln, so viel war klar.
Während er fast schon leicht verzweifelt in das Glas starrte, erblickte er die Augen seiner Schwester, die ihn quasi über den Spiegel anschaute.
„Sei einfach du selbst, mein kleiner Löwe. Erzähle von dir. Nicht von irgendwelchen Konstrukten, die du erfunden hast. Sprich von dir. Ich bin sicher, dein Bastian wird dich mögen. Du musst nur offen genug sein.“
„Das wird schwierig sein, wenn mein Magen drückt und seltsame Geräusche von sich gibt“, erwiderte er, musste aber wider Willen leicht auflachen, als er sich die Situation vorstellte. Er und Bastian, beide den Schauspielern lauschend, während sein Magen blubberte und knurrte.
„Nimm doch einfach eine extra Ration Blut vorher“, schlug sie vor. „Das wird helfen. Du hast ihm doch sicher gesagt, dass du nicht viel menschliche Nahrung zu dir nehmen kannst?“
„Eher, dass ich einige – viele – Nahrungsunverträglichkeiten habe und daher nicht viel zu mir nehmen kann. Ich will gar nicht wissen, was Bastian von mir gedacht hat, als ich ihm diese Lüge auftischte. Er hält mich sicher für einen Schwächling oder Schlimmeres.“
„Hat er etwas in dieser Richtung gesagt?“, fragte Anna vorsichtig.
„Nein, natürlich nicht. Aber ich habe gemerkt, dass er stutzig geworden ist“, erklärte der Mann nachdenklich.
„Natürlich, das ist eine ganz übliche menschliche Reaktion. Aber ihr habt euch weiter unterhalten und er hat die Verabredung nicht abgesagt, oder?“
„Ja schon, aber…“
„Leo!“, rief sie ungeduldig. „Der Typ ist interessiert. Also mach dir keine Gedanken. Ran an den Speck, sage ich, auch wenn das unter uns Vampiren vielleicht nicht ganz der passende Ausdruck ist.“
„Du sagst es! Es wird rauskommen. Irgendwann! Daher hat das alles eh keine Zukunft. Ich sollte ihm absagen!“, kam die resignierte Antwort.
„Unterstehe dich! Bruder! Manchmal verstehe ich dich nicht! Wenn es um die Nahrungsaufnahme geht, bist du ein Tier; sobald du aber einmal kein Blut riechst, bist du ein großer Softie. Das passt absolut nicht zusammen!“
Leopold Maximilian von Dunkelfels, gestorben vor viel zu vielen Jahren, antwortete nicht sofort.
Anna hatte recht – wie meistens.
Bis zu einem gewissen Grad ging es allen Vampiren gleich. Waren sie hungrig und brauchten Blut, kam das Tier ihn ihnen zum Vorschein. Eine über alles andere stehende Gier, die kein Mitleid und keine Gnade kannte. Die einzige Lösung war, es gar nicht so weit kommen zu lassen und rechtzeitig zu trinken – ob als Konserve oder am lebenden Objekt.
Waren sie erst gesättigt, kam das Menschliche, was ihnen alle innewohnte, wieder an die Oberfläche und verbannte das Tier in den Untergrund – bis zum nächsten Blutdurst.
Bei ihm, Leopold, mochte dieser Kontrast besonders groß sein, da er ein sehr feinfühliger und sensibler Mann war. Oft hasste er diese dunkle Seite in ihm und kam einfach weniger damit klar als andere seiner Art.
„Hey, Bruderherz!“ Er sah im Spiegel, wie Anna ihre Hand auf seine rechte – nein linke Schulter legte.
„Entschuldige bitte, das war zu grob. Ich wollte dich nicht noch mehr entmutigen, daher waren meine Worte falsch.“
„Du hast nur die Gedanken ausgesprochen, die mir selbst durch den Kopf gehen!“
„Und sie sind unsinnig!“, erklärte sie bestimmt. „Wie lange bist du jetzt allein? Und wie war es damals mit Tobias?“
„Tobias!“, grummelte er und nahm seinen Blick vom Spiegel, um sie direkt anzublicken. Unwillig wischte er ihre Hand von seiner Schulter.
„Ich weiß, Leo, eure Trennung war alles andere als schön. Aber bis dahin warst du doch glücklich. Und du hattest auch jederzeit deinen Blutdurst unter Kontrolle, oder etwa nicht? Tobias war nie Gefahr, oder?“
„Das ist richtig!“, gab er gezwungenermaßen zu. „Ich fühlte mich besser und ausgeglichener … damals. Bis zu diesem Tag, als er die Wahrheit erfuhr!“
„Und sogar in diesem Moment konntest du dein Tier zurückhalten“, erinnerte Anna ihren Bruder. „Obwohl Tobias schier ausgeflippt ist, bist du ruhig geblieben, und hast versucht, es ihm zu erklären und eure Beziehung zu retten.“
„Was letztlich, wie wir beide wissen, nicht geklappt hat. Ich musste ihm seine Erinnerung an mich nehmen, eine andere Lösung gab es nicht!“
Leo seufzte. Nach all den Jahren schmerzte es noch immer. In den menschlichen Verstand einzudringen und mehr als das Kurzzeitgedächtnis zu verändern, war eine Sache, die keiner gerne tat und nur für Notfälle gedacht war. Von seinem inneren Schmerz, einer geliebten Person die Erinnerung an einem selbst nehmen zu müssen, ganz abgesehen.
„Sobald Bastian die Wahrheit erfährt, wird es wieder so sein!“, fügte Leo pessimistisch hinzu.
„Nein! Wird es nicht.“ Die Frau schüttelte energisch den Kopf.
„Und warum sollte es anders sein?“
„Weil…“, sie berührte mit ihrem linken Zeigefinger sanft seine Nasenspitze, „du ein ganz toller und lieber Kerl bist, dies schon immer warst, bereits zu den Lebzeiten. Tobias hat dich nicht verlassen, weil du ein Vampir bist, Löwe!“
„Sondern?“, fragte er verständnislos.
„Weil er dich nicht wirklich geliebt hat“, gab sie mit sicherer Stimme zurück. „Gib deiner neuen Flamme eine Chance. Warum solltest du nicht auch mal deinen Mr. Right finden?“
„Ich werde mich nie an diese modernen Ausdrücke gewöhnen“, vermied er eine direkte Antwort und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Spiegel zu. „Also bin ich vorzeigbar, deiner Meinung nach?“
„Absolut!“, bestätigte sie. „Und, fährst du selbst, oder soll ich dir ein Taxi rufen?“