Heute kam Tante Traurigkeit zu Besuch.
Unangemeldet stand sie auf einmal in der Wohnung, in ihrer biedermeierhaft anmutenden Kleidung, den geschnürten Stiefelchen, den zu einem Knoten gesteckten Haaren. Die geblümte Bluse mit den lila Rüschen hatte sie wie immer bis zum Stehkragen zugeknöpft, der Rock fiel in langen Falten, umspielte ihre schlanke Silhouette.
Mir aber war gar nicht nach Besuch, schon gar nicht nach dem Besuch von Tante Traurigkeit. Also tat ich einfach so, als sehe ich sie nicht.
Eine Weile lang vergass ich sie tatsächlich, denn sie stand ganz still da. Auf einmal aber bemerkte ich, dass sie begann, mein Wohnzimmer auszufüllen. Sie dehnte sich aus, immer weiter, die Luft wurde dicht und schwer. Mit aller Kraft begann sie, sich auf mich zu legen.
Da sass ich und wusste nicht mehr ein noch aus.
Bis ich mich auf meine Gastfreundschaft besann. Freundlich bot ich Tante Traurigkeit eine Tasse Tee an. Sogleich nahm sie wieder ihre normale Gestalt an und setzte sich zu mir an den Tisch. Sorgfältig nahm sie die geblümte Tasse mit dem Goldrand in ihre schmale Hand, trank ein paar Schlucke - und verschwand, so still und leise, wie sie gekommen war.
Ein Hauch von Lavendelduft liegt noch in der Luft...