Aufgeregt drückte Irina ihre Nase gegen die Scheibe des Helikopters mit dem sie an der Küste des amerikanischen Kontinents lang flog. Besser hätte sich die 23 jährige Biologiestudentin ihren Sommer gar nicht vorstellen können. Überraschend hatte sie eine Förderung für eine vierwöchiges Praktikum im Ausland bekommen und konnte nun ihrem Traum nachkommen, den Sommer in der Karibik zu verbringen. Niemals hätte sie gedacht, dass sich ihr großer Wunsch, die Pflanzen in der Karibik zu erforschen, schon so bald erfüllen würde. Doch nun war sie hier. Die Luft im Hubschrauber des Naturschutzunternehmens, bei dem sie ihr Praktikum machen würde, war heiß und stickig, aber das störte sie nicht. Ganz im Gegenteil war das sogar einer der Punkte, auf den sie sich sehr gefreut hatte. Die dunkelhaarige Studentin liebte den Sonnenschein und hoffte sehr drauf, auch ein bisschen Zeit am Meer verbringen zu können. Bereits einige Tage zuvor war sie angereist und bei einem Zwischenstopp an der amerikanischen Küste, hatte sie bereits einen Strandtag eingelegt. Es hatte ihr wahnsinnig gut gefallen, einfach den halben Tag am Strand zu liegen und den Wellen beim Aufschlagen in der Brandung zu zusehen. Die Idylle war lediglich dadurch gestört worden, dass sie eben zur Hauptsaison ihren Aufenthalt durchführte. Hunderte, vielleicht sogar Tausende andere Touristen waren vor Ort gewesen und so ließ sich das Wetter nur schwerlich in Ruhe genießen. Überfüllte Strände waren dann eben doch nicht dass, was sie sich vorgestellt hatte.
Im Helikopter hatte sie keine anderen Leute die sie störten und so beobachtete sie das smaragdfarbene Blau des Wassers unter sich, nur ab und zu abgelenkt von den herüberziehenden, französischen Sätze ihrer Kollegen. Als Irina entscheiden hatte, dass sie nach Haiti gehen wollte, hatte sie nicht erwartet, dass die Sprachbarriere doch recht groß sein würde. Sie sprach recht gut französisch, doch die Menschen mit denen sie bisher Kontakt gehabt hatte, sprachen häufig noch um ein vielfaches schneller als sie und dann auch noch mit Dialekt, was die Verständigung manchmal etwas erschwerte, doch es war alles im Bereich des möglichen.
Außerdem führte sich die Studentin stets vor Augen, was sie nach Haiti geführt hatte. Das war die wunderschöne Magnolie, die sie schon als Kind, in einem Bestimmungsbuch für Pflanzen entdeckt hatte. Seitdem träumte sie davon, die seltene Haiti-Magnolie einmal in echt zu sehen, wusste jedoch auch, dass die Chancen ziemlich gering waren.
Irina hatte sich schon immer für Blumen und Bäume interessiert, so war auch ihr Berufswunsch entstanden, doch die Magnolie hatte es ihr besonders angetan. Sie liebte es, sich in ihrer freien Zeit, Bilder der weißen Blüten anzusehen. Mit dem Wunsch, gerade diese Magnolie einmal in echt sehen zu können, war auch der Wunsch entstanden, einmal nach Haiti zu gehen. Von der Vorstellung, die Pflanze direkt vor sich zu haben, hatte sie sich jedoch ebenfalls recht früh wieder verabschieden müssen, als sie sich über das Gelände informiert hatte, in dem die seltene Pflanze heimisch war. Da hatte sie einsehen müssen, dass sie da beim besten Willen niemals hinkommen würde. Also war es ihre beste Chance, einen Blick von oben auf die Magnolie zu erhaschen. Genau das erhoffte sich die Studentin von diesem Flug. Wahrscheinlich würde es nicht ihr letzter Flug sein, sodass sie mehr als eine Chance bekommen würde, doch sie war sich nicht sicher, ob sie während ihres Praktikums nochmals soweit in den Norden der Insel kommen würde. Also hatte sie extra ihren aufgeladenen Fotoapparat dabei und hoffte auf das Beste.
Am Vorabend hatte sie mit ihrer großen Schwester telefoniert und ihr von ihren großen Hoffnungen erzählt, doch diese glaubte nicht daran, dass Irina dieses Glück haben würde. Gerade dadurch wollte die Studentin nun noch viel mehr ein Bild der Blüten schießen. Sie wollte auch ihrer Schwester beweisen können, dass das möglich war.
In Gedanken versunken sah sie weiter aus de Fenster und wurde erst etwas hellhörig, als auch ihre Kollegen aufhörten zu sprechen. Doch auch diese schienen nur den Atemberaubenden Blick genießen zu wollen. Irina konnte es ihnen definitiv nicht verdenken. Unter ihnen zog der grüne Wald vorbei, der an schroffere Felsen grenzte. Genau das war das unwegsame Gelände, dass sie so gerne betreten hätte, dem sich jedoch ihre Vernunft entgegen gestellt hatte.
Sie presste ihre Nase dicht an die Scheibe, um einen besseren Blick zu erhalten, erreichte jedoch nur, dass die Scheibe beschlug. Frustriert lehnte sie sich etwas zurück, damit die Scheibe wieder nutzbarer wurde. Sie würde es sich niemals verzeihen, wenn sie eine der Pflanzen in Sichtweise hätte und dann gerade in dem Moment unaufmerksam gewesen wäre.
Doch gerade an diesem einen Tag sollte sich tatsächlich ihr Lebenstraum erfüllen. Einige Kilometer weiter, machte eine ihrer Kollegin sie schließlich auf ein weißes Blütenmeer unter sich aufmerksam. Es war nicht besonders groß und sie hätte es vermutlich auch übersehen, wäre sie nicht drauf hingewiesen worden. Doch unter ihr erstreckten sich tatsächlich Bäume der seltenen Magnolienart. Sie waren aus dem Helikopter nur winzig klein zu sehen, aber mit dem Fernglas, gab es keinen Zweifel daran, dass sie es waren. Am liebsten hätte Irina laut gejubelt vor Freude, doch das ging im Helikopter gerade nicht so gut. Sie würde ihren Erfolg später feiern müssen. Schnell sah sie wieder zu den Blüten hinab. Sie waren soweit entfernt, dass die Studentin nicht einmal die einzelnen Blütenkelche erkennen konnte, doch das machte nichts. Dessen war sie sich vorher bereits bewusst gewesen. Viel zu schnell verschwanden die Blüten dann auch bereits wieder aus ihrem Blickfeld, doch der Stolz der sie erfüllte blieb. Ihr Traum war tatsächlich wahr geworden und sie hatte die seltenen Bäume bestaunen können. Irina freute sich schon sehr darauf, ihren Freunden und ihrer Schwester davon berichten zu können. Einige Fotos hatte sie auch schießen können, die hoffentlich zu mindestens erkenne ließen, dass die Bäume unter ihnen gewesen waren.
Doch mit Irinas Freude schwang auch etwas Traurigkeit mit. Ihr war es gelungen, einen kurzen Blick auf die wunderschöne Magnolie zu erhaschen. Doch sie fragte sich, wie vielen anderen Menschen dies wohl noch vergönnt sein würde, ehe die Bäume dann möglicherweise doch noch ausstarben.