Die Wahrheit des Igels
Er hat sich im Rosenbeet vor meinem Schlafzimmerfenster heimisch niedergelassen. Wie sehr mich das freut!
Jeweils abends, wenn sich langsam die Dämmerung ankündigt, bewegen sich die Rosen und «mein» Igel verlässt sein Zuhause. Auf kurzen, aber schnellen Beinchen trippelt er über die Wiese und sucht sich sein Abendessen: Insekten, Würmer, vermutlich auch die eine oder andere Schnecke.
Mit seinen runden Augen, seiner spitzen Nase, seinem ganzen Wesen, hat er mein Herz im Nu erobert – auch wenn ich meinen stacheligen Freund wohl nie werde streicheln können. Ich meine zu spüren, dass er sich als Teil unserer Familie hier verstehst.
Diese Woche nun kam der Gärtner. Ich hatte schon länger Angst davor, wusste ich doch, dass er jedesmal mit grossen und lauten Maschinen auffährt.
Als ich ihn am Morgen hörte, eilte ich schnurstracks zu ihm. In der Hand hielt er einen Laubbläser. Inständig bat ich ihn, diesen ums Rosenbeet herum nicht einzusetzen, erklärte ihm auch, weshalb. Sein Gesicht leuchtete auf, als ich ihm vom Igel erzählte. Ich hatte diesen Mann noch nie lächeln sehen. Seine Reaktion berührte mich.
Trotzdem: er hat hier seine festgefahrenen Gewohnheiten. Es fiel ihm dann sichtlich schwer, von den üblichen Handlungen mit diesem furchtbar lauten und vor allem heftig blasenden Teil abzusehen. Dankbar sah ich, dass er sich doch noch rechtzeitig wieder abwandte und weiterging.
Dann kam die «Operation Fadenschneider». Damit allerdings schnitt er das Gras direkt ums Rosenbeet herum. Fadenschneider sind laut – und auch gefährlich!
Das «richtige» Rasenmähen, jenes mit der Maschine, auf der der Gärtner jeweils sitzt, stand noch bevor.
Doch vorher ging er mal Mittagspause machen.
Ich war am Telefonieren, ging im Wohnzimmer hin und her und traute auf einmal meinen Augen nicht: «mein» Igel lief durch den Wintergarten, ganz offensichtlich auf der Suche nach einem geschützten, sicheren Platz.
Er suchte hier, suchte da – irgendwann döste er in einer Holzkiste ein.
Dann kam der Gärtner zurück. Setzte sich auf sein Ungetüm von Rasenmäher und legte los.
Der Kleine geriet in Panik, obwohl ich ich ihm beruhigend zuredete. Er lief raus, ausgerechnet in Richtung Rasenmäher. Er durchquerte durchs Lavendelbeet, die Büschchen auf der anderen Seite des Wintergartens. Ich blieb ständig in seiner Nähe, um sicherzustellen, dass sich die Wege der beiden nicht kreuzten.
Während der Igel eine Weile lang im Lavendelbeet ausruhte, wir den riesigen Lärm des Rasenmähers ertrugen, spürte ich auf einmal bis zutiefst innen, wie achtlos wir in unserer Welt mit den Schwächsten umgehen. Mit jenen, die keine Stimme haben, sich zu wehren. Die uns ausgeliefert sind. Wir nehmen in Kauf, dass sie sich fürchten, sogar zu Tode kommen, nur um unser Leben, das schon längst nichts mehr mit «naturnah» zu tun hat, zu leben. Wir haben eine «Ordnung» geschaffen, welche weit entfernt ist von dem, was die Natur, was Mutter Erde, vorgesehen hat.
Wir haben uns über die Naturgesetze, über die natürliche Ordnung erhoben.
Vor allem aber haben wir vergessen, dass es um ein MITEINANDER gehen sollte – und die Tiere und Pflanzen uns ebenbürtig sind.
Ich fühlte mich elend und wie fremd hier auf diesem Planeten ...
Besagtem Gärtner mache ich übrigens keinen Vorwurf. Er machte nur seinen Job. Er weiss es nicht besser. Niemand verlangt, dass er den Rasen mit der Nagelschere schneidet.
Es gäbe Varianten, welche ihm aber sein Arbeitgeber (mein Vermieter) anbieten müsste. Schafe zB. Oder eine Naturwiese wachsen lassen.
Ein Vorwurf geht aber an uns alle. An eine Menschheit, die, wie es neulich jemand mir gegenüber formuliert hat, irgendwann mal die falsche Abzweigung genommen hat. Es gibt nichts anderes, als viele viele Schritte zurückzugehen.
Wann fangen wir damit an?