- Herbst-Blues -
„Was für ein bekloppter Deal!“ Der Herbst kam missmutig in die Küche gestapft und warf seinen nassen Regenmantel über eine Stuhllehne, so schwungvoll, dass die Wassertropfen bis auf den Tisch flogen.
„Iiih!“ kreischte der Frühling und schob schnell seine Malsachen an die Seite. Doch es war schon zu spät. Die Narzisse, auf dem Zeichenblatt vor ihm, begann bereits in dicken, gelben Tropfen auf dem Papier zu zerlaufen. „Kannst du nicht ein bisschen aufpassen?“ maulte der Frühling dem Herbst entgegen.
„Wieso?“ blaffte der Herbst zurück. „Du müsstest dich doch mit Regen bestens auskennen. Immerhin gibt's bei dir auch genug davon. Nur, wenn er von dir kommt sind die Menschen glücklich. Und bei mir?“ Er schleuderte seine schlammverschmierten Stiefel in die Ecke und nahm sich einen Becher aus dem Schrank.
In diesem Moment betrat der Sommer den Raum. Erstaunt sah er zum Herbst hinüber, der sich nun den Kaffee, der in der großen Email-Kanne auf dem gusseisernen Ofen stand, so schwungvoll in den Becher goss, dass er beinahe überschwappte. „Welche Blattlaus ist dir denn übers Leberblümchen gelaufen? Und wieso bist du überhaupt hier? Solltest du jetzt nicht da draußen sein?“ Der Sommer warf einen Blick zum Küchenfenster, an dessen Scheiben ein wilder Regenschauer das Wasser in Strömen über das Glas jagte.
Mit dem Blick, den der Herbst bei dessen Worten auf den Sommer richtete, hätte man Nüsse knacken können. Beschwichtigend trat der Sommer einen Schritt zurück. „Bruder, entspann dich mal! Setz dich erst mal und erzähl uns was los ist. Du bist ja echt aufgebracht.“ Er nahm den, immer noch feuchten, Regenmantel von der Lehne, hängte ihn sorgsam über einen Bügel und platzierte ihn an einem Haken, dicht beim Kachelofen, von dem aus eine wohlige Wärme in den Raum strömte.
Der Herbst hatte sich mittlerweile an den Tisch gesetzt und konnte sich ein versonnenes Lächeln nicht verkneifen, als der Sommer mit einem Teller warmem Apfelkuchen zu ihm an den Tisch trat. Dankbar nahm der Herbst diese Gabe entgegen.
„Möchtest du auch etwas?“ schaute der Sommer fragend zum Frühling hinunter.
Der Frühling, der immer noch bemüht war, sein Bild zu retten, blickte erfreut zum Sommer auf. „Oh … ja … äh … eine Zitronenlimonade, bitte. Oder … nein! Haben wir noch von den frischen Erdbeeren? Wenn nicht, geht auch Vanillepudding mit Rhabarberkompott. Obwohl ...“ Mittlerweile völlig verzweifelt raufte sich der Frühling die Haare. „Irgendwie hab ich nicht so wirklich großen Hunger ...“
„Gib ihm einfach seine Zitronenlimo“, lachte der Herbst. „Er wird sich sonst erst entscheiden können, wenn Martini vor der Türe steht und dann wird seine Wahl doch auf die Limo fallen.“
Schmunzelnd verschwand der Sommer in der Speisekammer, holte dem Frühling eine Limonade und brachte sich selbst gleich noch einen großen Becher Schokoladeneis mit an den Tisch. Dann setzte er sich zu seinen Brüdern und entzündete die Kerzen, die den Raum sofort mit einem goldenen Licht erhellten.
„Dann schieß mal los“, forderte er den Herbst auf, in dessen Bart sich schon die ersten Kuchenkrümel verfangen hatten. „Was hat dich so dermaßen aufgeregt, dass du da draußen Wind und Wasser wüten lässt?“
Der Herbst lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah dem Sommer ernst, aber auch mit einer gewissen Traurigkeit in den Augenwinkeln, ins Gesicht. „Ach, weißt du ...“
War seine Zunge vorhin noch durch seine Wut gelöst, so wollen die Worte nun nicht so richtig kommen. Der Herbst war im Grunde genommen ein ruhiger Mensch. Mit milder Wärme schaute er auf die Welt und auf all die Menschen darin. Nach der Quirligkeit des Sommers liebte er es, ihnen dabei zuzuschauen, wie sie in aller Ruhe im Park auf den Bänken saßen und ihr Gesicht im weichen Sonnenlicht badeten, als wäre es eine reich gedeckte Tafel und sie würden jeden Bissen von ihr genießen.
„Ich finde es ungerecht!“ brach es dann doch aus ihm heraus.
Der Sommer schaute ihn erschrocken an. „Ungerecht? Aber ...“.
Der Herbst brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. „Ich weiß, dass wir diese Diskussion nicht zum ersten Mal führen. Und ich weiß auch, dass ich mich damals freiwillig dazu bereiterklärt habe, nach dir dran zu sein. Aber jetzt mal ehrlich. Es ist ein schlechter Deal gewesen. Und ich ärgere mich jedes Jahr wieder darüber.“
„Aber …,“ hakte der Sommer nach. „du liebst doch, was du tust. Jedes Jahr freust du dich über die reichen Apfelernten und die Weinlese und über die Kinder, die Kastanien sammeln und über Halloween. Du befreist die Bäume von welken Blättern und erlöst sie von der Last abgestorbener Äste. Du gibst der Natur den Regen, den sie so dringend braucht. Und du bereitest den Weg für Bruder Winter.“
Der Herbst hatte bei den Worten des Sommers leise genickt. „Du hast ja recht“, gab er widerwillig zu. "Das ist ja auch alles schön und gut. Aber hast du dir mal die Gesichter der Menschen angeschaut, wie grantig sie gucken, wenn ich erscheine? Den ganzen Sommer über hast du ihnen gute Laune gemacht und dann komme ich und bringe den Regen und den kalten Wind, und alle gute Laune ist dahin. Ich komme mir langsam vor, wie der permanente Überbringer von schlechten Nachrichten. 'So, ihr lieben Leute. Das war's jetzt! Packt die Surfbretter weg und holt die Sonnenschirme rein. Und vergesst nicht, nochmal den Rasen zu mähen, ehe es zu spät ist!'.“ Frustriert schob sich der Herbst eine ordentliche Portion Apfelkuchen in den Mund. „Ich bin der große Miesepeter,“ stieß er zwischen Kauen und Schlucken hervor, „der allen Menschen erstmal schlechte Laune macht.“ Mit dem letzten Bissen schaute er zum Frühling hinüber, der sich bisher tunlichst zurückgehalten hatte, aus Angst vor der Heftigkeit, mit der sein großer Bruder während seiner Rede mit der Kuchengabel in der Luft herumfuhrwerkte. „Mit dir würde ich gerne mal tauschen! Wenn du kommst, freuen sich die Menschen von Anfang an. Du bringst den Schnee zum Schmelzen, lässt Schneeglöckchen wachsen und weckst die Weidenkätzchen aus ihrem Winterschlaf. Die Menschen lieben dich!“
Der Frühling verschluckte sich fast vor Lachen an seiner Limonade, als er die letzten Worte seines Bruders hörte. „Sie lieben mich? Ey, Alter. Bist du stoned, oder was? Hast du noch nie mitbekommen, wie sie am Niesen und am Schniefen sind, wenn ich mit dem Pollenflug anfange? Meinste etwa, mir macht das Spaß? Oder denk mal an meine letzte, große Schneeschmelze. Wieviele Keller da abgesoffen sind. Das hab ich mir so auch nicht ausgesucht, damals. Aber das gehört nun mal dazu. Und hast du den Sommer einmal jammern hören, in den letzten Monaten, dass es den Leuten zu heiß ist? Oder dass sie sich über die Wespen aufregen? Nee, haste nicht!“.
Der Frühling war jetzt so in Fahrt, dass dem Herbst nichts anderes übrig blieb, als ihn sich austoben zu lassen. So wetterwendisch, wie der Kleine war, würde sein Sturm eh nicht lange anhalten. „Und warum nicht? Weil all das zu unserem Job dazugehört! Die guten, wie die weniger guten Seiten. Selbst Bruder Winter kann ein Lied davon singen, und ich rede jetzt nicht von 'Jingle Bells'!“
Bei diesen Worten öffnete sich die Küchentür und der Winter trat herein. Er trug einen dicken Hausmantel und sah so aus, als sei er geradewegs aus einem langen Mittagsschlaf erwacht. Gemächlich schlurfend ging er zum Herd und goss sich einen Gewürztee auf. Dann nahm er mit dem Becher in der Hand auf der Ofenbank Platz und räkelte behaglich seinen Rücken an der warmen Kachelwand. „Wovon kann ich ein Lied singen, Bruder Frühling?“ Er kratze sich ausgiebig in seinem langen, weißen Bart und schaute seine Brüder fragend an.
Der Sommer, der soeben den letzten Löffel Eis genüsslich verspeist hatte, lächelte milde zum Herbst hinüber. „Von den Schattenseiten unserer Arbeit, Bruder Winter. Der Herbst hat seinen alljährlichen Herbst-Blues.“
Der Winter lächelte leise in sich hinein. „Ach ja. Wohl und Wehe. Licht und Schatten. Es gehört alles zusammen. Und das Eine kann ohne das Andere nicht sein.“ Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Becher und spürte der Wärme nach, die sich in ihm ausbreitete. „Soll ich dir mal ein Geheimnis verraten, lieber Bruder?“ Er sah dem Herbst nun eindringlich in die Augen. „Die Menschen sehnen sich nach der Veränderung. Sie brauchen den Wandel genauso, wie die Natur; genauso, wie wir. Wir sind alle Teil eines großen Ganzen. Und nur so können wir funktionieren. Es mag zwar den Anschein haben, dass die Menschen grantig sind, wenn nach dem Sommer der Herbst kommt, aber insgeheim freuen sie sich darauf, weil sie wissen, dass nun etwas Neues beginnt. Die Welt besteht aus Bewegung. Nichts währt ewig. Selbst ich muss weichen, wenn dieser kleine Jungspund, da,“ und mit diesen Worten nickte er dem Frühling zu, „auf der Bildfläche erscheint. Aber es ist gut so. Ein jedes Ding hat seine Zeit. Also geh da raus,“ und dieses Mal galt sein Blick dem Herbst „und zeig ihnen dein schönstes Lächeln. Denn die Menschen brauchen es. Es sind die letzten, warmen Sonnenstrahlen, die sie bekommen werden, für eine lange, lange Zeit.“
Mit diesen Worte leerte der Winter seinen Becher und erhob sich. „Nehmt`s mir nicht übel, Jungs. Aber ich muss mich noch ein bisschen ausruhen.“ Verschmitzt lächelte er seinen Brüdern zu. „Ich arbeite gerade an weißen Weihnachten.“
Als der Winter die Küchentür hinter sich zugezogen hatte, schauten sich die drei Brüder lange schweigend an. Der Regen war mittlerweile in ein sanftes Nieseln übergegangen. Die ersten Wolken begannen sich aufzulockern und am Horizont blitzte ein Stückchen blauer Himmel hervor.
Nach einer Weile räusperte sich der Sommer. „Dann ist es wohl besser, du machst dich wieder auf den Weg und tust, was Bruder Winter gesagt hat.“
Der Herbst nickte und erhob sich. „Ihr habt ja recht.“ seufzte er. Er nahm einen letzten Schluck Kaffee und zog sich seinen Regenmantel über. Dann schlüpfte er in die Gummistiefel und wandte sich zum Gehen.
„Hey, warte mal!“ Der Frühling war aufgesprungen und eilte nun zum Herbst hinüber. „Nimm das hier mit,“ Er legte seinem Bruder eine Tulpenblüte aus hellrotem Papier in die Hand. „damit du da draußen die Farben nicht vergisst.“
Dem Herbst wurde es warm ums Herz. Er schaute, von Freude erfüllt, auf den Jungen hinunter. „Du bist in Ordnung, Kleiner.“ Er warf einen letzten Blick auf den Sommer, der am Küchentisch saß und seine beiden Brüder liebevoll ansah. Dann verließ der Herbst die behagliche Küche und trat hinaus in die frischgewaschene, klare Herbstluft. Wie um sich selbst zu beweisen, dass er die Farben nicht vergessen hatte, zauberte er einen perfekten Regenbogen an den Himmel.
Und allen Menschen, die ihn sahen, lächelten.