- Eine Wichtelgeschichte für Elfenkriegerprinzessin -
- Magische Weihnachten -
Alva saß auf ihrem Bett am Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Passanten eilten vorbei, ihre Einkaufstaschen fest umklammert und die Regenschirmen dicht über ihre Köpfe gezogen, wie römische Soldaten im Hagel der Pfeile.
Der Dezember plätscherte, zumindest in Alvas Augen, lustlos dahin. Die Zeit, die eigentlich eine weihnachtliche, goldene sein sollte, rann an ihrem Leben vorbei, wie die Regentropfen, die stetig an ihrer Fensterscheibe hinunterliefen. Bisweilen kamen sie ihr vor, wie ein unermüdlicher Tränenstrom, der die Welt umgab und alles in ihr Grau in Grau färbte. Gedankenverloren griff sie nach ihrem Skizzenblock und begann zu zeichnen.
Der Nachmittag ging in den frühen Abend über und versteckte das Grau in der Dunkelheit. Alva blickte auf ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe. Ihr Haar hing in blonden Strähnen neben ihrem blassen Gesicht herunter. Alvas Mutter bezeichnete es immer als Elfenhaar, doch Alva selbst fand ihre Haare nur langweilig.
Der nächste Morgen brach ebenso verregnet an, wie der vorherige aufgehört hatte. Alva saß mit ihren Eltern am Küchentisch und schaute gelangweilt in ihre heiße Schokolade.
„Und? Was hast du heute vor, an deinem ersten Weihnachtsferientag?“ Alvas Mutter betonte das Wort 'Weihnacht', als könne sie damit ein bisschen von der Magie, die es umgab, auf ihre verschlossene Tochter übertragen. Leider ohne Erfolg.
„Ach, ich weiß nicht.“ Alvas Laune sank ein Stückchen weiter, als sie die Erwartung in den Augen ihrer Mutter sah. Na klasse! Das konnte ja wieder ein tolles Weihnachtsfest werden! Ihre Eltern würden einen auf magische Weihnachten, und so, machen, doch ihr selbst war der Zauber dieser Jahreszeit schon längst vergangen. Die Menschen, da draußen, wussten doch gar nicht mehr, was Nächstenliebe und Achtsamkeit bedeutete. Kein Wunder, dass alles nur noch Hetze und Konsum war. Und das sollte sie feiern? Ihr Herz spürte jedes Mal einen weiteren Riss, wenn sie sah, wie die Menschen miteinander umgingen. Wenn sie könnte, würde sie die Welt wie mit Zauberkraft heilen und zu einem besseren Ort machen. Doch sie allein konnte ja eh nichts ausrichten. Alva stieß seufzend die Luft aus.
Ihr Vater blickte von seinem Handy auf. „Also, nur dass das mal klar ist, Fräuleinchen, du wirst nicht die ganzen Ferien über in deinem Zimmer hocken. Geh raus, triff dich mit deinen Freunden, unternimm mal was.“
Alvas Blick bekam etwas missmutiges. In der Welt ihres Vaters war es vielleicht einfach, mit Freunden etwas zu unternehmen, in ihrer jedoch gab es kaum Freunde. Die meisten hielten sich von ihr fern. Wahrscheinlich, weil sie keine Partynudel war, oder nicht extravagant, oder einfach nicht interessant genug. Ihr sollte es recht sein. Sie war sowieso viel lieber allein in der Natur unterwegs, als im Trubel der Massen.
Ihre Mutter schaute ihren Vater an, als wolle sie ihn mit ihrem Blick erdolchen. Dann wandte sie sich wieder Alva zu. „Wie wäre es, wenn du mal wieder in den Zoo gehst? Es ist zwar nicht das beste Wetter dafür, aber gerade deshalb wird dort jetzt wenig los sein.“ Sie zwinkerte Alva aufmunternd zu, wusste sie doch, dass die wirklichen Freunde ihrer Tochter im Zoo zu finden waren. Alva hatte aus gutem Grund eine Dauerkarte. Ihre Mutter freute Alvas Tierliebe ebenso, wie sie hoffte, dass sie sich auch mal mit menschlichen Freunden treffen würde. Doch das war etwas, das sie nicht erzwingen, sondern nur abwarten konnte. „Möchtest du noch ein Brötchen?“ Ihr Lächeln, mit dem sie Alva den Brotkorb hinhielt, zeigte dieser, dass das Thema nun durch war und sie endlich aufatmen konnte.
Als Alva am Nachmittag im Zoo ankam, schlenderte sie zunächst ziellos umher, vorbei am Trampeltiergehege und den Zebus, die ebenso gelangweilt zu ihr schauten, wie sie zu ihnen. Dann schlug sie den Weg zum Affenhaus ein. Dort war es zum Glück etwas wärmer, als draußen, im windigen Regen. Die Schimpansen sprangen aufgeregt umher, als Alva sich ihrem Käfig näherte. Kurz hielt sie inne und schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln. Beim Anblick des kleinen Innengeheges, in das sich die Affen zurückgezogen hatten, wünschte Alva sich, sie wäre eine Jane Godall, und würde einen jeden von ihnen retten und ihren Lebensraum erhalten können, und Zoos, wie diesen hier, überflüssig machen. Doch das war reine Utopie.
„Hallo Alva!“ Eine jugendhafte Stimme scholl zu ihr herüber. „Wieder mal ganz alleine hier?“
Der, dem die Stimme gehörte, trug die Arbeitskleidung eine Tierpflegers, und genau das war er auch.
„Ach, hallo Björn.“ Alva ging zu dem jungen Mann hinüber, der gerade dabei war, den Gorillakäfig zu fegen. Ihn mochte sie von allen Tierpflegern am liebsten. Er schien, so wie sie selbst, auf die Stimmen der Tiere zu hören und wenigstens zu versuchen, ihre stummen Worte zu verstehen. „Ja. Bei dem Wetter will doch niemand hierher kommen.“
Björn grinste sie an. „Niemand, außer dir, wie mir scheint. Aber du kommst zur rechten Zeit. Ein paar Tiere vermissen dich schon. Und unser Neuzugang braucht dringend ein liebes Wort. Wobei ich noch nicht herausfinden konnte, was mit ihm los ist. Irgendwie hab ich keinen Draht zu ihm. Aber vielleicht kannst du mal bei ihm vorbeischauen.“
Alva horchte auf. „Was ist denn mit ihm?“
„Wir haben vor Kurzem einen Eisbären aus einem anderen Zoo übernommen. Er ist in einem traurigen Zustand, will nicht fressen und starrt nur vor sich hin. Ich mein, das kann auch daran liegen, dass er zur Zeit alleine im Gehege ist, aber ich glaube, da steckt noch mehr dahinter. Er war schon in seinem alten Zoo so komisch und da hatte er Gesellschaft.“
„Ist er gerade draußen?“ Alvas Neugierde war geweckt.
Björn schaute kurz auf seine Armbanduhr. „Joa. Noch hat er Freigang. Aber in einer Stunde geht’s wieder rein, für ihn. Immerhin wird es jetzt schon dunkel.“
Alva hinterließ Björn ein kleines Tschüss, dann ging sie mit eilenden Schritten zum Eisbärgehege.
Der Winter hieß nicht umsonst die dunkle Jahreszeit. Der frühe Abend legte seine Schwärze über die Gehege und die Laternen beschienen den Weg mit ihrem matten Licht. Die letzten Regenwolken hatten sich verzogen und sanftes Mondlicht spiegelte sich in den Pfützen. Alva schaute zum Himmel empor. Sie entdeckte den Abendstern und zwinkerte ihm verstohlen zu. Fast schien es ihr, als zwinkere er zu ihr zurück.
Am Eisbärgehege herrschte eine bedrückende Stille. Die Vögel in den Bäumen hatten sich zur Ruhe begeben und auch das letzte Grunzen, Trällern und Kreischen der anderen Zoobewohner verstummte nach und nach. Alva trat an das Geländer des Geheges und ließ ihre Augen über die Betonplatten gleiten, die nur schlecht verbergen konnten, dass sie nicht die Eisschollen waren, die sie darstellen sollten. Direkt hinter dem Geländer befand sich ein tiefer Wassergraben, der die Tiere von den Besuchern trennen sollte. Lediglich eine schmale, hohe Tür am Rand der Anlage bot einen Zutritt zum Innenbereich, jedoch gut geschützt, durch ein dickes Vorhängeschloss und Stacheldraht.
Alva schaute angestrengt in das dämmerige Rund und war sich nicht sicher, ob der Eisbär sich nicht doch schon ins Innere der Anlage verzogen hatte. Ein leises Seufzen löste sich von ihren Lippen. Zu schade. Sie hätte den Bären gerne kennengelernt. Erneut sah sie zum Abendstern hinauf, der ihr ein wenig Trost zu spenden schien. „Du bist immer da“, flüsterte sie ihm zu. „Du hast ein Auge auf all das hier, das weiß ich.“
Sie ließ ihren Blick erneut über das Eisbärengehege schweifen und fühlte eine Woge der Einsamkeit, die von ihm, oder eher von dem, der es bewohnte, ausging. Dann blickte sie wieder empor und eine Bitte wallte in ihr auf. Sie hatte ihre Worte nicht gewählt. Vielmehr erschien es ihr nun, als hätten die Worte sie erwählt, um von ihr hier und jetzt ausgesprochen, und damit wahr gemacht zu werden. „Bitte, lieber Abendstern. Zeichen des Universums, das uns beisteht und uns schützt, hilf mir, ihm zu helfen.“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen und verschleierten ihr den Blick. Im nächsten Augenblick schien es ihr, als würde das Licht des Abendsterns aufblitzen und sich in ihren Tränen, wie in einem Prisma brechen, und alle Farben des Universums aus sich herausströmen lassen. Ein seltsames Gefühl wallte durch ihren Körper und kribbelte durch sie hindurch, bis in die Zehenspitzen hinein. Eine helle Freude erfüllte sie.
Einen Atemzug später wurde ihre Sicht wieder klar. Alva schüttelte kurz ihren Kopf, wie um eine kleine Benommenheit loszuwerden. Dann sah sie den Eisbären.
Er stand einsam auf dem feuchten Betonplateau und schaute verwundert zu ihr hinüber. Trotz des Dämmerlichtes konnte Alva den traurigen Zustand erkennen, in dem er sich befand. Sein Fell wirkte stumpf und seine Gestalt irgendwie hager. Nicht abgemagert, aber auf eine erdrückende Art freudlos, schwermütig. Wie jemand, der schon lange nicht mehr vom Leben kosten durfte. Nur der Blick aus seinen schwarzen Augen zeigte ihr, dass sein Funke noch nicht verloschen war.
„Du bist endlich da!“
Alva schaute sich verwundert um, auf der Suche nach demjenigen, der sie soeben angesprochen hatte, doch da war niemand. Niemand außer ihr und dem Eisbären, der nun näher an den Wassergraben herangetreten war. „Ich hatte gehofft, dass du kommen würdest. Ich meine, dass jemand wie du kommen würde.“ Er sah die Verwunderung in Alvas Gesicht und Bestürzung machte sich in seiner pelzigen Miene breit. „ Ähm … ich wollte dich nicht erschrecken. Du bist doch eine Elfe, oder? Zumindest hat dich der Abendstern erwählt, und das tut er nicht ohne Grund. Ich habe wochenlang um Beistand gebetet und nun wurde ich endlich erhört. Ich bin ja so ...“
„Moment mal! Halt, stopp!“ Alva war einen Schritt zurückgetreten und hatte abwehrend beide Hände erhoben. „Ich bin eine ...was? Und wieso kannst du … ich meine, ich weiß ja, dass ihr Tiere eine Stimme habt und ich habe euch auch schon oft gehört, also so innerlich, in mir drin. Aber du sprichst mit mir, so von Angesicht zu Angesicht, und ich weiß nicht … Wow!“ Alvas Gedanken überschlugen sich. Ein leichter Schwindel überkam sie und zwang sie, sich am Geländer des Geheges festzuhalten.
Der Eisbär sah Alva halb erschrocken, halb erleichtert an. Dann wartete er ab. Er hatte ihr noch einige Dinge mehr zu erzählen, aber dazu müsste sie erst einmal begreifen, was hier geschah. Und offenbar geschah es ihr zum ersten Mal, also war ein bisschen Abstand von Nöten.
Alva blickte ihren Gegenüber fragend an. „Was meinst du mit 'der Abendstern hat mich erwählt'?“
„Na, du hast ihn doch um Unterstützung gebeten. Und die wurde dir gewährt. Der Abendstern macht so etwas nur bei Elfen, folglich musst du eine sein, wenn auch wahrscheinlich in zweiter, oder dritter Blutlinie, sonst hättest du es von Geburt an gewusst.“ Er sah, wie Alvas Gesichtszüge wieder in Unglauben abdrifteten und beeilte sich, fortzufahren. „Aber so etwas kommt vor, wenn auch eher selten. Wahrscheinlich wissen nicht mal deine Eltern, dass es Elfenblut in ihrer Ahnenreihe gibt. Doch, wenn ich mir dein Gesicht und deine Haare so ansehe, ist das eigentlich nicht schwer zu erraten. Nur die Ohren … dürfte ich wohl mal deine Ohren sehen?“
Alva war zu perplex, um Einwände zu erheben. Sie zog ihre Mütze vom Kopf und strich sich die langen Haare zurück. Der Eisbär hatte sich mittlerweile hingesetzt und legte nun den Kopf nachdenklich auf die Seite. „Hm ... runde Ohren. Eher dritte Blutlinie. Aber das macht nichts. Elfe ist Elfe.“ Er grinste Alva freudig an.
Es dauerte eine Weile, bis sich in Alvas Bewusstsein langsam die Erkenntnis breit machte, dass all das stimmen musste, was er sagte. Sie dachte an die vielen Momente in der freien Natur, in denen sie sich den Dingen so nahe gefühlt hatte, dass sie es niemandem hatte beschreiben können. Sie dachte an die vielen Zeichnungen, die sie in stillen Stunden angefertigt hatte. Bilder von Elfen und Feen, Einhörnern und anderen, magischen Wesen. Und nun unterhielt sie sich mit einem Eisbären. Das alles schien näher an der Wahrheit zu liegen, als an irgendetwas, was sie bisher in der Schule gelernt hatte, näher an der Realität, die sie bislang umgeben hatte. Aber vielleicht gab es ja mehrere Realitäten. Mehrere Ebenen. Es musste so sein. Ansonsten machten all die Dinge einfach keinen Sinn. Alva begann zu lächeln.
Der Eisbär sah das Leuchten in ihren Augen und eine schwere Last fiel von ihm ab. So gab es Hoffnung für ihn. Und Hoffnung für die Magie. Er stand auf und lief zu der Gittertür am Rand des Geheges. “Ich würde dir ja gerne alles weitere in Ruhe erklären, aber du solltest mich lieber erstmal hier rauslassen, ehe sie kommen und mich wieder im Haus einsperren.“
Alvas Herz machte einen Sprung. Ihn befreien! Ja klar! Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? All ihr Sehnen hatte sie zu solch einem Moment hingeführt, und nun war er da. Sie folgte ihm zur Tür, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, wie sie es anstellen sollte, ihn da raus zu holen. Der Eisbär schaute sie abwartend an, dann deutete er auf den Riegel an der Tür „Was ist? Das ist doch nur ein einfaches Schloss.“
„Aber, ich weiß doch gar nicht, was ich jetzt machen soll!“ Alva überkam ein Gefühl der Hilflosigkeit. Sie wusste, dass sie irgendwas tun musste. Irgendwas … magisches? Aber wie?
„Ach, stimmt ja.“ Er schlug sich seine riesige Tatze vor die Stirn. „Du hast sowas ja noch nie gemacht. Entschuldige bitte, ich vergaß. Du musst irgendwas mit deinen Händen machen. Sie auf das Schloss legen oder darüber wedeln, oder so. So genau weiß ich das nicht. Ich bin ja keine Elfe, aber ich hab ihnen dabei zugesehen, wenn sie ihre Magie wirkten. Die einen machen es so, die anderen so. Wahrscheinlich ist das eine ziemlich individuelle Sache. Tu am besten das, was dein Gefühl dir sagt.“
Alva schaute ihn skeptisch an. Ihr Gefühl war etwas, das sie meistens nur in Schwierigkeiten gebracht und sie hat seltsam wirken lassen. Aber vielleicht hatte er recht und der einzige Weg es herauszufinden war, es einfach zu tun. Sie atmete tief ein und stellte sich vor, wie sie das Schloss lösen und den Riegel beiseite schieben konnte, nur mit der Kraft ihrer Gedanken, ohne
ihn zu berühren. In ihrem Nacken stieg ein leises Kribbeln auf, das durch ihren Arm hindurch in ihre rechte Hand floss. Die Hand hob sich fast von selbst und vollführte eine leichte, streichende Bewegung durch die Luft. Und genau so, wie Alva es in ihren Gedanken gesehen hatte, entriegelte sich das Vorhängeschloss und fiel mit einem leisen Klackern zu Boden. Der Riegel glitt zurück, die Tür schwang auf und der große Bär quetschte sich durch den schmalen Durchgang.
„Ach, tut das gut!“ Er reckte und streckte sich voller Wohlbehagen. Der hagere Eindruck, den er bis eben noch ausgestrahlt hatte, fiel von ihm ab, wie nasser Schnee von einer Tanne, wenn der Frühling naht. „Ich bin übrigens Magnus. Magnus Mattisson, oberster Hüter der Chroniken des magischen Lichts und persönlicher Berater von König Aurelius dem Siebenten.“
Vor Erstaunen blieb Alva der Mund offen stehen. Sie überlegte kurz, ob jetzt ein Knicks oder so etwas angebracht wäre, doch dann verwarf sie den Gedanken, zumal Magnus nicht den Anschein erweckte, als würde er einen erwarten. „Ich bin Alva. Alva Hermann, Schülerin und sonst nichts.“
Bei diesen Worten wurde Magnus Grinsen breiter. „Was für ein perfekter Name! Vielleicht hatten deine Eltern ja doch eine Ahnung von deinem Wesen, als sie ihn dir gegeben haben.“
Alva stutzte, verwarf dann jedoch den Gedanken, da ein anderer ihr dringender erschien. „Wer ist König Aurelius?“
In diesem Moment glitt ein Taschenlampenlicht über die Zooanlage. Magnus schaute nervös um sich, dann schob er Alva vom Weg, hinein in ein nahes Gebüsch. Alva erschrak, da sie noch nie im Leben einem Eisbären so nahe war, auch, wenn er sich ihr schon formvollendet vorgestellt hatte. Doch auch sie wusste, dass es an der Zeit war, zu verschwinden. Björn würde nicht ewig brauchen, um herzukommen und zu sehen, dass sein Schützling nicht mehr im Gehege war.
Magnus quetschte sich zu ihr hinter den Busch, was für einen Bären seiner Größe wahrhaftig keine Leichtigkeit war, und sah Alva immer noch erfreut, aber auch schon ein kleines bisschen nervös, an. „König Aurelius ist der Herrscher von Yule und Beschützer der Raunächte, aber ich denke, ehe ich dir das alles erklären kann, sollten wir uns lieber ein Portal erschaffen und von hier verschwinden.“
„Ein .. was?“ Alva hatte ja schon so eine Ahnung, dass dieser Abend noch viele, ungewöhnliche Dinge für sie bereit halten würde, aber mit so etwas, wie einem Portal, hatte sie am allerwenigsten gerechnet.
Magnus wirkte zunehmend nervöser. Als das Taschenlampenlicht näher kam, drängte er Alva kurzerhand weiter, hinter das nahe Giraffenhaus. Erst, als sie im Schatten der hohen Hauswand angelangt waren, entspannte er sich etwas. Er ließ sich auf seine Hinterbeine plumpsen, dann schaute er Alva ernst an. „Ich weiß ja, dass das alles gerade ein bisschen viel für dich ist. Ich wünschte mir, wir hätten uns unter weniger verzwickten Umständen kennengelernt. Aber vielleicht sollte das hier auch so sein. Ich meine, wie wahrscheinlich wäre es gewesen, dass du mal eben bei uns in Yule vorbeikommst? Ohne die Entdeckung deiner Fähigkeiten könntest du da wohl kaum hingelangen. Aber nun brauchen wir Beide eben diese Fähigkeiten, damit ich zurückkehren kann, und die Magie von Weihnachten wieder gesichert ist. Alles, was uns dafür noch fehlt ist ein Portal. Und das so schnell, wie möglich.“
Wenn Magnus auch gehofft hatte, dass damit für Alva alles klar wäre, so hatte er sich gewaltig geirrt. Sie sah ihn fragend, aber mittlerweile auch ein bisschen vorwurfsvoll an. „Es ist mir schon klar, dass wir es eilig haben, aber ebenso klar ist es doch, dass ich, für was immer du da von mir verlangst, wissen muss, was, und vor allem warum ich es tue. Also erklär mir bitte mal, was Yule ist und was dieses Land mit Weihnachten zu tun hat. Und warum kannst du, als offenbar ebenso magisches Wesen, dieses Portal nicht einfach selbst erschaffen?“
Die Verzweiflung in Magnus Blick war nun nicht mehr zu übersehen. Doch wurde sie abgelöst, durch die Einsicht, dass Alva recht hatte. Wie sollte sie die Fähigkeit entwickeln, ein Portal zu erschaffen, wenn sie nicht einmal wusste, warum?
„Also einmal das Wichtigste. Und glaub mir bitte, dass alles ist hundertprozentig wahr ist. Wenn du daran zweifelst, wird sich dir das Portal versagen.“ Er machte eine kurze Pause und sah zum Abendstern hinauf. Dann sah er Alva eindringlich an und begann zu erzählen. „Yule ist das Land der heiligen Wintersonnenwende. Es ist auch der Name des Festes, das wir begehen, um die Wiedergeburt des Lichts in der Dunkelheit des Winters zu feiern, und das mittlerweile überall in der Welt verbreitet ist. Ihr nennt es Weihnachten. Und damit diese Zeit für alle Menschen und Tiere Licht und Hoffnung bringen kann, kommt unser Magie ins Spiel. Ich bin Angehöriger eines Zirkels magischer Eisbären, die diese Magie am Leben erhalten. Und innerhalb von Yule besitze ich ebenso magische Kräfte, wie du, jedoch nicht in eurer Welt. Es war kurz nach Samhain, dem Tag, an dem ihr euer Halloween feiert, als ich mit einem Portal unterwegs zu König Aurelius war. Ich weiß nicht, was an dem Tag schiefgelaufen ist, vielleicht war ich zu sehr abgelenkt, von der Sorge um das Yule-Fest. Ich meine, du siehst ja selbst, was die Menschheit mittlerweile aus diesem Fest gemacht hat. Na, jedenfalls war ich nicht ganz bei der Sache, und so kam ich nicht bei Hofe an, sondern landete mitten in einem Zoo in eurer Welt. So ganz ohne Magie konnte ich nicht verhindern, dass man mich einsperrte und schließlich hat man mich hierher verfrachtet. Ich glaube, den Rest der Geschichte kennst du. Wenn ich nicht zurück in meinen Zirkel komme, können wir die Magie nicht aufrecht erhalten und das Licht wird für immer verlöschen.“
Magnus Stimme war zunehmend düsterer geworden. Alva konnte fühlen, wie sehr ihn die Hoffnungslosigkeit angesichts dieser Aussicht umklammert hielt. Sie legte ihm die Arme um den Hals und vergrub ihr Gesicht in seinem dichten Pelz. „Was immer nötig ist, um das zu verhindern, werde ich tun.“ Sie schaute lächelnd zu ihm auf. „Sag mir, was ich machen soll.“
In Magnus Gesicht kehrte die Freude zurück. „Steig auf meinen Rücken. Deine Magie wird meine wiedererwecken und gemeinsam werden wir es schaffen. Alles, was du tun musst, ist, dir vorzustellen, wie der Ort aussieht, zu dem du reisen willst. Ich werde dir Bilder in die Gedanken legen, die uns den Weg weisen werden.“
„Aber ..“ Alva sah ihn fragend an. „Wenn ich auf deinem Rücken sitzen muss, um diese Magie zu bewirken, heißt das aber auch, dass ich mit dir zusammen durch dieses Portal reisen muss.“
Magnus wurde klar, was das bedeutete. Dann lachte er aus vollstem Herzen. „Aber natürlich! Dann macht auch alles einen Sinn. Du musst sogar mitkommen, allein schon, um die Magie und all ihre Schönheit kennenzulernen. Du bist eine Elfe und eine Elfe muss um die Dinge wissen, die sie wirken will. Und wahrscheinlich kann es nicht schaden, wenn du ein kleines bisschen magischen Lichts in dir trägst, wenn du in deine Welt zurückkehrst.“ Er hielt inne und lauschte. Laute Rufe und ein metallisches Scheppern hallten vom Eisbärengehege zu ihnen hinüber. Magnus sprang auf. „Aber schnell jetzt. Ich glaube, sie haben entdeckt, dass das Gehege leer ist.“
Er beugte sich zu Alva hinunter. Sie schwang sich auf seinen Rücken und hielt sich in seinem Nackenfell fest. Mit einem Mal kamen ihr Bilder in den Sinn. Eine weite, schneebedeckte Landschaft, und mittendrin, auf einer kleinen Anhöhe gelegen, ein riesiges Schloss aus weißem Marmor. Von jeder Zinne und jedem Turm hingen rote, samtene Banner herunter, deren goldene Stickereien im Licht der Wintersonne glänzten. Das nächste Bild, das sie sah, war das des Schlosshofs, in dem ein gewaltiger Eisbär stand, dessen Fell golden leuchtete. Um seinen Hals lag ein golddurchwirkter Kragen, in den das Symbol der Sonne eingearbeitet war. Neben ihm standen mehrere Eisbären mit schneeweißem Fell und mit Schärpen in eben jenem Rot-Gold, das auch das Schloss zierte. Alva vermutete eine Art Leibgarde, oder so, denn der imposante Eisbär in ihrer Mitte konnte niemand anders, als König Aurelius sein. Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, fühlte sie ein starkes Ziehen hinter ihrem Brustbein. Die Luft, um Magnus und sie herum, verdichtete sich, begann in einem orange-gelben Licht zu leuchten und schien sich langsam in Rotation zu versetzen. Als das Kreisen immer schneller wurde, begann sich der Zoo und alles um sie herum, aufzulösen. Wie inmitten eines warmen Sonnenstrahls, glitt sie auf Magnus Rücken durch ein formloses, helles Nichts. Als die Welt um sie herum wieder klarer wurde, fegte Alva ein eisiger Wind um die Nase. Magnus Tatzen berührten das verschneite Pflaster des Schlosshofs. Dann war der Lichterwirbel verschwunden.
„Magnus, mein Lieber! Was bin ich froh, dich zu sehen!“ Aurelius Stimme dröhnte über den Schlosshof. Dann eilte er auf Magnus zu. Alva überkam die Angst, dass die Beiden sich nun herzlich umarmen würden. Schnell glitt sie von Magnus Rücken und trat einen Schritt zur Seite. Aurelius kam kurz vor den Ankömmlingen zum Stehen. Er neigte seinen Kopf und legte, zu Alvas Verwunderung, seine Stirn an die von Magnus. Einen kurzen Moment lang schlossen beide Eisbären die Augen und schwiegen, in stiller Freude. Alva hatte das Gefühl, dass hier nicht König und Untergebener voreinander standen, sondern wahre Freunde, die froh waren, einander wiederzuhaben.
Schließlich trat Aurelius einen Schritt zurück und lächelte seinen alten Freund an. „Ich hatte solche Angst um dich. Als man mir sagte, dass dass dein Portal fehlgeleitet war, konnte ich es zuerst nicht glauben. Doch dann habe ich den Abendstern befragt und er hat mir von seinem Plan erzählt. Ich muss zugeben, dass ich ihm zuerst böse war, deswegen. Denk nur an all das, was dir in der Menschenwelt hätte passieren können. Doch wie ich sehe ...“ Er warf einen Blick auf Alva, die immer noch nur schweigend dastand und fast nicht glauben konnte, was gerade geschah. „... hat der Abendstern einen guten Grund gehabt, so zu handeln. Ich hoffe, du kannst ihm verzeihen, Magnus.“
„Einen Plan?“ Magnus blickte Aurelius einen Moment lang erstaunt an. Dann lachte er aus voller Kehle. „Das sieht ihm ähnlich! Und ich hatte mir schon solche Vorwürfe gemacht, dass ich nicht einmal mehr ein ordentliches Portal zustande bekomme. So macht alles einen Sinn.“ Er warf einen kurzen Seitenblick zu Alva. „Und ich fühle mich geehrt, Teil seinen Plans gewesen zu sein. Denn ohne ihn wüsste unsere Alva, hier, nichts von ihrer Bestimmung und die Welt bliebe um eine wunderbare Elfe ärmer.“
Nun wandte sich Aurelius an Alva. „Du bist also Alva. Willkommen in der Welt der Magie, des Lichts und der Hoffnung. Ich bin König Aurelius, der Siebente.“ Alva beeilte sich, einen Knicks zu machen, doch Aurelius hielt sie auf. „Oh nein! Das musst du nicht. Magische Wesen beugen niemals das Knie voreinander. Wir sind alle Teil eines großen Ganzen und daher untereinander ebenbürtig. Doch, wie ich sehe, ist deine Erweckung noch nicht ganz abgeschlossen.“ Er trat auf Alva zu. „Ist es mir gestattet, deinen Initiation zu vollenden und dich in den Kreis der magischen Wesen aufzunehmen, als Teil des Universums, das uns alle umgibt?“
Alva sah irritiert zu Magnus hinüber. Dieser nickte, mit einem Lächeln im Gesicht. „Es ist lediglich der letzte Schritt, der dein inneres Auge öffnet, für die Magie, die uns alle umgibt und in uns fließt. Er bittet dich nur darum, durch eine Tür gehen zu dürfen, die du schon lange geöffnet hast.“
Freude durchzog Alvas Miene. Sie nickte Aurelius zustimmend zu und wartete gespannt auf das, was geschehen würde.
Aurelius senkte erneut seinen Kopf und legte seine Stirn an ihre. In Alva begann ein helles Licht zu leuchten, das sie, bis in die kleinste Zelle hinein, ausfüllte. Sie sah verschiedene Welten, die sich voneinander zu unterscheiden schienen, und doch nur Viele in einer Einzigen waren. Sie sah Energieströme, die alles umflossen, egal, ob belebte oder unbelebte Natur. Sie sah die Wunder, die sich im Kleinen verbargen, und ebenso jene, die so groß waren, dass man sie nicht mit den Augen ausmessen konnte. All das erfüllte sie mit einer Sicherheit und Erkenntnis, die alle Unsicherheiten und Fragen ihres alten Lebens hinweg wischten.
Als Aurelius seinen Kopf erhob, lächelte er sie stolz an. „Willkommen, Alva, die Elfe. Nun bist du bereit in deine Welt zurückzukehren und von nun an Botschafterin für die Magie zu sein.“
Alva neigte nun, ein letztes Mal in ihrem Leben, ihr Haupt. Bedauern stieg in ihr hoch, darüber dass sie nicht bei Magnus und Aurelius bleiben konnte. Doch sie wusste, dass sie schon viel zu lange von Zuhause fort war. Ihr Eltern machten sich bestimmt Sorgen um sie.
Sie wandte sich zu Magnus um und schlang ihm beide Arme um den Hals. „Ach Magnus, ...“ seufzte sie tief in sein weiches Fell hinein. „... ich werde dich vermissen!“
„Das musst du nicht.“ Seine Stimme war beruhigend. „Ich werden immer bei dir sein. Die Magie wird uns immer verbinden, egal, wo wir sind. Doch Aurelius hat recht, es ist Zeit für dich, zurückzugehen.“ Dieses Mal war es Magnus, der seine Stirn an ihre legte. Das Portal, das er für sie schuf, war noch heller und schöner, als das, was sie beide hierher geführt hatte. Alva schaffte es gerade noch, Aurelius in Gedanken ein Lebewohl und einen Dank zu senden, dann verschwamm alles vor ihren Augen.
Als Alvas Welt wieder um sie herum erschien, fand sie sich in ihrem Bett liegend vor. Ein klarer Wintermorgen schickte sein Sonnenlicht durch ihr Fenster und füllte den Raum mit Hoffnung auf einen schönen Tag. In Alva jedoch stiegen Zweifel auf. Hatte sie das alles nur geträumt? Waren Magnus und Aurelius nur Produkte ihrer Fantasie? Sie schlug ihre Bettdecke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Polternd fiel ihr Zeichenblock zu Boden. Sie hob ihn auf und blickte auf ihre Zeichnung vom Vortag. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. In feinen Linien schaute ihr vom Skizzenblatt ein Eisbär entgegen, an dessen Seite eine Elfe stand.
In diesem Moment hörte sie Geschirr-klappern aus der Küche und die Stimme ihrer Mutter, die sie zum Frühstück rief. Schnell schlüpfte sie in einen bequeme Hose und ihren Lieblings-Hoodie. Dann machte sie sich auf den Weg, hinunter in die Küche.
Ihre Mutter begrüßte sie mit einem Lächeln, und auch ihr Vater schien heute gute Laune zu haben.
„Du warst gestern aber lange fort. „Ihre Mutter schenkte ihr einen Becher heiße Schokolade ein. „Wir haben dich gar nicht nach Hause kommen hören.“
„Du kennst doch unsere Alva. Immer woanders, mit ihren Gedanken. Wahrscheinlich hat sie nur die Zeit vergessen.“ Alvas Vater lächelte seiner Frau entspannt zu.
„Ich war im Zoo.“ Alva machte sich bereit, ihrem Vater zu beweisen, dass sie doch nicht die ganze Zeit zuhause herumhängen würde. „Ich hab die Affen besucht und einen Eisbären gesehen ...“ Sie zögerte. Nein. Das hier würde ihr ganz privates Geheimnis bleiben. Zumal sie sich immer noch unsicher war, ob sie nicht doch alles nur geträumt hatte. „Es war ganz okay. Vielleicht gehe ich nachher ein bisschen in die Stadt.“
Gedankenverloren strich sie mit der Hand durch den warmen Dampf, der von ihrem Kakao aufstieg. Zuerst bemerkte sie das leise Kribbeln nicht, das ihre Fingerspitzen durchzog. Doch dann spürte sie die Magie in ihrem Nacken. Ein leises Lächeln schlich sich in ihre Mundwinkel, als sie bemerkte, dass sich im Schaum ihres Kakaos das Bild eines Eisbären abzeichnete, der ihr aufmunternd zuzwinkerte. Und sie wusste, dass es eine zauberhafte Weihnachtszeit werden würde.
Ende