Mit einem tiefen Seufzen ließ er sich auf das dunkelblaue Sofa fallen. Sein Kopf fiel nach hinten und schon schloss er die Augen. Der Kampf gegen die Müdigkeit war mühsam. Aber es war noch viel zu früh am Abend, um der Erschöpfung nachzugeben. Andernfalls würde er garantiert irgendwann mitten in der Nacht aufwachen – unfähig, weiter zu schlafen. Anbetrachts der Tatsache, dass morgen früh um sechs schon wieder der nächste Dienstbeginn anstand, war das keine Option. Um der stetig stärker werdenden Müdigkeit nicht doch noch nachzugeben, öffnete er die Augen wieder und blickte zur Zimmerdecke hinauf.
„Drei Monate“, murmelte er leise.
So lange wohnte er jetzt hier. Eine kleine Wohnung, nicht mehr als Küche, Bad, Wohnzimmer und ein winziges Schlafzimmer, in dem gerade das Bett und ein Schrank Platz gefunden hatten – offiziell nicht einmal ein ganzes Zimmer, sondern ein ‚halbes‘. Wie ein Raum mit vier Wänden, einem Fenster und einer Tür nur ‚halb‘ existieren konnte, war ihm ein Rätsel. Trotzdem reichte die Wohnungsgröße aus. Definitiv besser als das WG-Zimmer, in dem er vorher gewohnt hatte. Und vielleicht spielte da auch ein kleines bisschen Stolz mit rein. Darauf, dass er mit dem Einzug hier endgültig von allen anderen unabhängig geworden war. Mit seinen einundzwanzig hatte er hier schließlich zum ersten Mal eine ‚eigene‘ Wohnung bezogen.
Allein.
Genau in dieser Einsamkeit bestand allerdings das Problem. Man hätte sagen können, dass es still war, aber das anhaltende Surren des allmählich in die Jahre kommenden Kühlschrankes behauptete etwas anderes. Das konnte er selbst hier im Wohnzimmer hören. Dummerweise stellte ein Kühlschrank – trotz des Surrens – eine buchstäblich nichtssagende Art von Gesellschaft dar.
Das Telefon klingelte und ließ kurz seinen Herzschlag in die Höhe sausen. Jedenfalls für die drei Sekunden, die er brauchte, bis ihm sein Bewusstsein klarmachte, dass er nur zu genau wusste, wer ihn da anrief. Und auch das würde nicht die Form von Unterhaltung darstellen, an der er im Augenblick Interesse hatte. Ein kurzer Blick auf das Display des Telefons, um sicherzugehen, dann drückte er auf den kleinen grünen Knopf, um den Anruf anzunehmen.
„Hi.“
„Joni!“
„Mama ...“, jammerte er genervt davon, dass sie ihn selbst mit inzwischen einundzwanzig weiterhin mit diesem lächerlichen Spitznamen ansprach.
„Entschuldige“, gab sie sofort mit einem Kichern zurück. „Nate. Richtig, mein Schatz? So wolltest du doch jetzt genannt werden.“
Er seufzte und fuhr sich durch die kurz geschnittenen blonden Haare. Vermutlich würde sie nie aufhören, ihn wie ein kleines Kind zu behandeln. Dummerweise war er der jüngste ihrer Söhne und stand entsprechend wohl weiterhin unter Welpenschutz – ungeachtet der Tatsache, dass er alle seine Brüder um mindestens zwei, drei Zentimeter überragte. Zumal er jedem Einzelnen von ihnen körperlich deutlich überlegen war.
Leider war Nate aber auch zu offensichtlich der Einzige, der derzeit ohne Beziehung war. Jedenfalls insofern Tobi sich jetzt nicht doch endgültig von der blöden Kuh Marissa getrennt hatte. Und das brachte ihn augenscheinlich stetig in den Fokus seiner Mutter.
Eigentlich wollte er darüber nicht diskutieren. Trotzdem hörte er sich kurz darauf sagen: „Ich bin kein Baby mehr. Joni ist erwachsen geworden.“
Ein leises Lachen war aus dem Telefon zu hören, bevor sie fortfuhr: „Es tut mir leid, aber ein Teil von mir wird immer meinen kleinen Joni in dir sehen.“ Da konnte er sich ein eigenes Lachen dann doch nicht mehr verkneifen. „Nate klingt außerdem so ... englisch“, fuhr sie davon unbeirrt mit einem offensichtlichen Lächeln in der Stimme fort. „Wobei es besser ist als Nathan. Da müsste ich immer an Lessing denken.“
Zeit, diese Diskussion abzubrechen, bevor sie anfing, sich im Kreis zu drehen. „Du hast sicher nicht deshalb angerufen“, meinte er, um zum eigentlichen Grund ihres Anrufes zu kommen. Den konnte er sich zwar fast denken, aber es geschahen schließlich angeblich immer Wunder.
„Du bist seit Wochen in der Stadt und hast mich noch nicht einmal besucht“, kam prompt der erwartete Vorwurf. Allerdings konnte er auch hier mehr als deutlich heraushören, dass sie ihm deshalb nicht wirklich böse war. Da steckten garantiert ganz andere Beweggründe dahinter.
„Was ist los, Mama?“, hakte Nate erneut nach.
Diesmal war sie es, die seufzte. „Darf ich mich denn wenigstens darauf freuen, dass du beim nächsten Besuch mit einem hübschen jungen Mann in meiner Tür stehen wirst?“
„Mama ...“
„Schon gut. Hast du am Sonntag Dienst? Falls nicht, würde ich mich freuen, wenn du zum Essen kommst. Deine Brüder werden auch alle da sein.“ Das Stöhnen, das Nate prompt entwich, konnte er nicht unterdrücken. „Es wäre schön, wenn du die Familie nicht immer als Last sehen würdest, Jonathan“, meinte sie daraufhin seufzend.
„Jawohl, Mama. Ich werde da sein“, gab er mit einem eigenen Seufzen gehorsam nach. Denn dummerweise hatte Nate dieses Wochenende frei und somit keine Ausrede. „Also. Bringst du jemanden mit?“
„Nein.“
Das Schnauben am anderen Ende versetzte ihm einen kurzen Stich in die Brust. Es klang beinahe so, als würde er absichtlich alleine kommen. Dabei lag Nate nichts ferner. Nur zu gern wollte er endlich einmal gemeinsam mit seinen Brüdern am großen Esstisch sitzen, ohne sich wie der beziehungstechnische Vollversager zu fühlen. Nate wusste durchaus, dass seine Mutter ihn überhaupt nicht so sah, aber seit jeher als Einziger ohne Begleitung am Tisch zu sitzen, hinterließ dennoch Spuren.
„Kommt Marissa auch?“, fragte Nate grummelnd nach, denn auf die hatte er keine Lust. Was sein drei Jahre älterer Bruder Tobias an der fand, würde er nie verstehen. Wahrscheinlich musste man auf Frauen stehen, um das nachvollziehen zu können.
„Ich hoffe nicht. Aber vermutlich wird sie wie üblich meine Hoffnung mit ihrer nervigen Anwesenheit zerstören“, antwortete seine Mutter pikiert. Dass sie mit der blöden Kuh ebenso nichts anfangen konnte, hatte Nate seit jeher beruhigt und rang ihm auch jetzt ein Lächeln ab.
„Dann sehen wir uns am Sonntag“, verabschiedete er sich zaghaft. Seine Mutter stimmte zu und hatte kurz darauf bereits aufgelegt.
Nate ließ den Kopf erneut auf die Rückenlehne des Sofas fallen, schloss die Augen und atmete einmal tief durch. Das würde ein grauenhafter Sonntag werden. Zwar war er sich nicht sicher, was die Zusammenkunft herbeigeführt hatte, er konnte jedoch schon das Unheil verkündende Grummeln im Magen spüren.
„Bis Sonntag finde ich nie ein Date fürs Familienessen“, murmelte Nate resignierend. Im Grunde wäre er ja froh, wenn er bis zum Ende des Jahres endlich mal eins auftreiben würde. Aber an dieser Front sah es unheimlich schlecht aus. Inzwischen war Mitte Juli und er hatte seit zwei Monaten keine echte Verabredung mehr gehabt. Darüber, wie lange die letzte Beziehung her war, wollte Nate gar nicht erst nachdenken.
Gedankenverloren rieb er sich über die Brust. Seine Brüder würden garantiert alle in Begleitung kommen. Christian war zwölf Jahre älter als er und vier davon verheiratet. Andreas war zwei Jahre jünger als Chris und hatte im Frühjahr geheiratet. Samuel war mit siebenundzwanzig bereits seit zehn Jahren mit seiner Dauerfreundin liiert. Und Tobias brachte es mit Unterbrechungen auf immerhin sechs mit Marissa. Zugegeben, Chris und Andi hatten ihre Frauen in Nates eigenem Alter auch noch nicht gekannt.
„Dann besteht ja weiterhin Hoffnung“, rief er mit einem kurzen Auflachen und quälte sich danach hoch.
Das Grummeln im Bauch kam garantiert nur davon, dass er heute auf Arbeit, wie so oft, keine Zeit für eine Pause gehabt hatte und jetzt entsprechend hungrig war. Mal sehen, was der Kühlschrank so hergab. An die Kochkünste seiner Mutter würde es zwar nicht heranreichen, aber auf die konnte Nate sich dann jetzt ja für Sonntag freuen.
ฅ^•ﻌ•^ฅ
Das Essen war eine Katastrophe gewesen. So gern Nate seine Mutter besuchte, wenn seine Brüder da waren, war es einfach nur nervig. Zugegeben weniger wegen denen, als vielmehr aufgrund der weiblichen Gesellschaft, die diese anzuschleppen pflegten. Die Ehefrauen von Christian und Andreas waren ausgesprochen nett. Mit den beiden hatte Nate sich seit jeher verstanden. Und Samuels Freundin Clara war auch okay. Aber Marissa hatte mit ihren selbstherrlichen Kommentaren natürlich wie immer den Vogel abgeschossen. Wenigstens hatte Christians Nachricht darüber, dass der Rest von ihnen offenbar in ein paar Monaten Onkel werden würde, der dummen Pute für den übrigen Abend den Wind aus den Segeln genommen.
Missmutig holte Nate sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und ließ sich aufs Sofa fallen. Wenn er endlich mal jemanden zu diesen dämlichen Familienessen mitbringen könnte, wäre es vermutlich erträglicher. Aber blöderweise hatte er das ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf die Reihe gebracht. Es war erst ein halbes Jahr her, dass Nate seine letzte Beziehung für beendet erklärt hatte. Zu der Zeit hatte er aber noch dreihundert Kilometer weit weg von zu Hause gelebt und war mit seinem damaligen Freund deshalb nie bei seinen Eltern gewesen. Noch einmal seufzte Nate und fuhr sich mit der Hand über die nackte Brust. Wäre nett, wenn da zur Abwechslung mal nicht nur seine eigenen Finger entlang wandern würden. Und im Gegenzug seine Hand ebenso kräftige Muskeln ertasten könnte. Vorzugsweise welche, die sich eher im rückwärtigen Bereich des zu findenden Kandidaten befanden. Allmählich wurde diese Durststrecke nervig.
„Blöde Grübelei!“, maulte Nate sich kurz darauf selbst an und sprang auf. Wenn er nur auf dem Sofa hing, würde nichts besser werden.
Der Abend war noch jung, mal sehen, was daraus werden konnte. Zumindest war das Nates Vorsatz, als er eine Stunde später die kleine Wohnung in Richtung Ostviertel verließ. Dort war er früher schon mit seinen Brüdern in den Klubs unterwegs gewesen. Wäre doch gelacht, wenn er da nicht irgendjemanden finden würde, mit dem er vielleicht nicht eine lebenslange Beziehung eingehen, aber wenigstens etwas Spaß für den Abend haben könnte.
Zwei Stunden später stand sein Vorsatz weiterhin. Ansonsten ‚stand‘ hier leider allerdings rein gar nichts – weder bei ihm noch irgendeinem der Typen, die er angesprochen hatte. Und so bohrte sich dummerweise lediglich Nates Blick in das eine oder andere hübschen Hinterteil auf der Tanzfläche, das er gern anderweitig näher kennengelernt hätte.
„Scheiße“, murmelte Nate verhalten und starrte auf die sich bewegenden Massen. Irgendwie war das früher leichter gewesen. Zumindest hatte es sich so angefühlt. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass er sich damals nicht gleich zwei Abfuhren hintereinander eingeholt hatte. Da war immer jemand gewesen, der Interesse hatte. Was zum Geier hatte sich geändert?
Mit finsterem Blick starrte Nate zu dem Kerl, bei dem er vor zwanzig Minuten abgeblitzt war. Der vergnügte sich inzwischen mit einem vermutlich gerade achtzehnjährigen Spargeltarzan auf der Tanzfläche. Okay, der Kleine würde ihm ebenso gefallen, da konnte Nate jetzt nichts gegen einwenden. Da er selbst zumindest rein optisch eine ganz andere Hausnummer darstellte, war er vielleicht tatsächlich schlichtweg deshalb abgeblitzt. Mit einundzwanzig konnte er ja wohl schlecht ‚zu alt‘ sein. Zumal der Kerl, den er angesprochen hatte, ihm garantiert noch ein paar Jahre voraushatte.
„Hi“, hörte Nate plötzlich eine Stimme von rechts und fuhr überrascht zusammen.
Als er in genau die Richtung blickte, sah Nate sich einem verhaltenen Lächeln gegenüber, das gar nicht mal so unattraktiv wirkte – genauso wenig wie der Mann, der es auf den Lippen trug. Vielleicht würde aus dem Abend ja doch noch was werden.
„Ziemlich voll hier heute, was?“, meinte der Unbekannte mit dem netten Lächeln. Aus dem Augenwinkel konnte Nate sehen, dass der Kerl krampfhaft versuchte, nicht von einem Fuß auf den anderen zu treten.
„Ja. Für einen Sonntag schon“, antwortete er lautstark, um die Musik einigermaßen zu übertönen.
„Ich bin zum ersten Mal hier“, meinte Herr Unbekannt daraufhin.
Wäre irgendwie nett, wenn er den Kerl zumindest geistig mit einem Namen versehen könnte. Also nippte Nate an seiner Cola und ließ einen bewusst abschätzenden Blick über den jungen Mann wandern. Erst einmal das Angebot prüfen, dann die Frage nach dem Namen.
„Ich nicht“, meinte Nate schließlich, als der Blick durchaus auf Interesse traf. „Wie heißt du?“
„Kamil. Du?“
„Nate.“
Das Lächeln wurde breiter, als der junge Mann ihm jetzt auch noch die Hand hinstreckte: „Hi.“
Als er mit einem eigenen Lächeln den Gruß erwiderte, war Nate wieder mit deutlich mehr Hoffnung beseelt, dass der Abend womöglich nicht so beschissen enden würde, wie er begonnen hatte. Die wurde nicht weniger, als er langsam, aber stockend mit Kamil ins Gespräch kam. Und sie wurde zusätzlich befeuert, als Nates neuer Bekannter nach drei weiteren Drinks allmählich lockerer wurde.
Das Rumfummeln in einer Ecke des Klubs verhieß auch so einiges. Küssen musste der offenbar zwei Jahre jüngere Kamil zwar noch üben, aber da hätte Nate jetzt kein Problem mit gehabt, sich als Übungsobjekt zur Verfügung zu stellen. Wobei sich einige Minuten später herausstellte, dass Kamil zwar mit dem Küssen Probleme hatte, den hübschen Mund dafür anderweitig durchaus sehr effektiv einzusetzen wusste. Alles in allem hätte es der Auftakt von einer wunderbaren Bekanntschaft sein können.
Dummerweise stellte sich, kurz nachdem er mit Kamil auf Tuchfühlung gegangen war heraus, dass der nicht alleine hier war. Dieser vor Angst zitternde Zwerg, der sich daraufhin wutschnaubend vor Nate aufbaute, hätte durchaus amüsant sein können, wenn er selbst sich nicht in diesem Augenblick einfach nur verarscht vorgekommen wäre. Was den Blowjob anging, konnte er sich aber nicht beschweren. Letztendlich war es nicht sein Problem, wenn die Jungs da drüben Beziehungsprobleme auf eine derart verschrobene Art klären wollten. Genervt – aber zumindest einigermaßen befriedigt – schlich Nate irgendwann nach Hause.
Glücklicherweise musste er am folgenden Tag erst gegen Mittag zum Dienst antreten. Ausschlafen. Danach sah die Welt hoffentlich schon gleich viel besser aus.