CN: Insekten, Erbrechen
(03)
Ein Rütteln an der Schulter ließ ihn hochfahren. Erschrocken blickte er in ein hübsches Gesicht. Irgendwoher kannte er sie, auch wenn ihm gerade zum Verrecken nicht einfallen wollte, woher. Aus der Parallelklasse vielleicht?
»Hey Shaun, alles klar?«
»Wer ... was?« Müde blinzelte er sie an.
»Ey Bruder, mach mir hier jetzt nicht schlapp. Ich habe gesagt, ich bringe dich bis ins Lager, und das mache ich auch. Nicht, dass du mir unterwegs im Sattel wegstirbst, oder so.«
Besorgt musterte ihn das blonde Mädchen. In ihren Augen lag echtes Mitgefühl, gepaart mit einer Spur von Angst, wie es schien.
»Ey, ich bin ja vieles gewohnt«, fuhr sie fort, »aber deine Kotzerei eben war schon etwas ekelig. Hast du vielleicht was Falsches gegessen? Wobei - hast du überhaupt was gegessen? Oder bist du krank? Du siehst wirklich nicht gut aus. Hast du Fieber? Schüttelfrost? Magenschmerzen vielleicht? Tut dir der Kopf weh? Wieviele Finger halte ich hoch? Kannst du dir mit geschlossenen Augen an die Nase tippen? Lass mal deine Pupillen sehen!«
Paul-Kevin, der nun Shaun hieß, hob ächzend eine Hand an die Stirn. Sein Kopf drohte ihm wirklich zu platzen. Zusätzlich trieben ihm das Brennen von Galle und schalem Bier in Rachen und Nase Tränen in die Augen. Dieses verdammte Reittier war weit schlimmer als ein Dromedar, egal was sie sagte. Es fühlte sich eher so an, wie aufrecht am Bug eines Segelschiffes neben der Galleonsfigur festgezurrt worden zu sein, während das Schiff selbst in schwerstem Sturm auf das Bermudadreieck zuhielt. Sein Magen pumpte noch immer, obwohl er längst leer war. Dazu kam diese schreckliche Erschöpfung. Er fühlte sich völlig ausgebrannt. Doch wenn er die Augen schloss, konnte er das Gefühl ausblenden. Sobald er die Lieder fest zusammenpresste, war da nur noch diese warme, weiche Dunkelheit, die ihn gnädig umfing.
Müde.
Er war einfach unglaublich erschöpft. Immer wieder fielen ihm die Augen zu. Irgendwann blieben sie geschlossen. Sein Kopf sank auf die Brust.
Im gleichen Moment ließ ihn ein brennender Schmerz in der Wange wieder hochfahren. Jetzt blickte das Mädchen - Mooni hieß sie, daran erinnerte er sich nun wieder – ihn zornig an.
»Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«
Verdattert rieb er sich über die schmerzende Stelle. Sie musste ihn geohrfeigt haben.
»Du musst mich ja nicht gleich verprügeln«, nuschelte er benommen.
»Offensichtlich doch. Und jetzt halt dich fest, ich löse deinen Halteriemen. Eigentlich haben wir keine Zeit für eine Pause, aber bevor du hinter mir den Löffel abgibst...«
Ehe er ihren Satz vollständig begriffen hatte, verlor er schon den Halt und rutschte zur Seite. Glücklicherweise fing ein gewaltiges Kleeblatt seinen Sturz auf. Immerhin hatte der Schreck seine Lebensgeister wieder geweckt. Er schaffte es, sich an der Blattkante festzuhalten, bevor er weiter abrutschen konnte. Sein vorsichtig tastender Fuß fand sicheren Stand. Schwankend stützte er sich an einen verholzten Stamm, als Mooni auch schon geschickt neben ihm auf dem federnden, grünen Boden landete.
»Na, wieder unter den Lebenden?«
»Ja. Und daran hast du diesmal keinen Anteil.«
Und wieder ließ sie dieses völlig unpassende, dröhnende Gelächter erklingen. Er fragte sich, wie ein so zierlicher Mensch nur so laut Lachen konnte. Hatte sie vielleicht Blechdosen anstatt Lungen? Blöder Gedanke. Seine Magen knurrte vernehmlich. Die Übelkeit war fast augenblicklich verflogen, sobald er wieder festen Boden unter den Füßen spürte.
Um das Thema zu wechseln, fragte er: »Hast du auch was zu Essen dabei? Ich könnte jetzt mindestens zwei BigMac und ne Familienpackung Nuggets verdrücken.«
Wieder brach sie in Lachen aus. Der markerschütternde Ton ließ seine Ohren klingeln. Hoffentlich lockte sie damit keine Insekten an.
Übergangslos wurde sie jedoch wieder ernst: »Nein hab ich nicht, du Witzbold. Aber wir können uns ja was leckeres fangen.«
Bevor er sie fragen konnte, was sie damit meinte, drehte sie sich um und band die Zügel ihres gewaltigen Tausendfüßlers an einen Seitentrieb des dicken Stamms. Sie tätschelte dem riesige Tier die Flanke. Das grüne Monster drehte den Kopf, stupste das Mädchen spielerisch gegen die Schulter und begann dann gemächlich, einige Grasstängel zu rupfen. Mooni grub in einer Satteltasche und kehrte mit ein verschnürtes Bündel zu ihm zurück.
»Was hast du da?«, wollte er neugierig wissen.
Diesmal jedoch lächelte sie nur geheimnisvoll. Um die Spannung noch weiter zu erhöhen, wandte sie sich ab, nestelte an Verschnürung herum, bevor sie sich wieder in seine Richtung drehte.
»Tadaaa!«
Das Mädchen hielt ihm eine hölzerne Schale hin, die mit einer stark riechender Paste gefüllt war. Fragend blickte er sie an.
»Was ist das? Es riecht ... seltsam.
Der süßliche Geruch erinnerte ihn an Blumen, auch wenn er nicht genau sagen konnte, welche. Lavendel? Rosen? Kirschblüten? Irgendwie schien es alles zusammen zu sein, und doch war da noch mehr. Auch ein Hauch von Honig und Vanille glaubte er wahrzunehmen.
»Das, mein lieber Shaun«, sagte sie grinsend, »ist der erste Schritt zu unserem Imbiss.«
Sie zog eine geflochtene Schnur mit einer Schlaufe daran aus ihrer Gesäßtasche.
»Und dies der Zweite.«
Er wollte ihr gerade weitere Fragen stellen, als sich von oben ein lautes Brummen näherte. Schnell rollte sich der Junge unter ein Blatt. Mooni folgte ihm mit einem Hechtsprung. Ihre schmutzigen Gesichter befanden sich jetzt nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Grinsend entblößte sie ihre Zähne und funkelte ihn verschwörerisch an.
»Das ist doch kein Zufall. Sag schon, was ist das da in der Schale?«, verlangte er flüsternd zu wissen.
Doch sie deutete ihm nur, leise zu sein, und griff nach seiner Hand. Ihre Körperwärme ließ ihn erschaudern. Zu lange hatte ihn niemand mehr berührt. Monate? Vielleicht ein halbes Jahr? Oder war das noch länger her? Überrascht spürte er die groben Schwielen an ihren Fingern. Das waren die Hände eines Menschen, der es gewohnt war, schwer zu arbeiten. Auch er hatte besaß inzwischen diese Schwielen, wurde ihm bewusst.
Das Brummen über ihnen wurde lauter. Die Anwesenheit von Insekten waren nie ein gutes Zeichen, auch wenn sich die meisten der fliegenden Biester nicht für Menschen interessierten. Dies traf auch auf dieses Exemplar zu. Die Hummel von der Größe eines Schäferhundes flog lautstark eine Kurve und näherte sich dann wieder ihrem Standort. Shaun hob schützend die Arme über den Kopf, als die Flügel Staub und Erde aufwirbelte. Die Hummel landete neben der Stelle, an der er selbst noch vor wenigen Augenblicken am Stamm gelehnt hatte. Sie schien sich eindeutig für den Inhalt der Schale zu interessieren. Mooni erhob sich vorsichtig auf die Knie und nestelte in einer Gürteltasche.
»Bist du irre?«, zischte er sie an und wollte sie am Arm packen.
Das Mädchen jedoch wich ihm geschickt aus und entblößte ihre Zähne erneut. Nun wirkte sie eher wie ein Raubtier. Mit einer Hand schob sie lässig etwas kleines, braunes in die Schlaufe.
Er versuchte es erneut: »Lass das. Die bringt uns beide doch um, wenn du sie ärgerst. Du weißt, wie aggressiv die Viecher drauf sind.«
Sie nickte und deutete süffisant schmunzelnd auf den gigantischen Tausendfüßler, der in wenigen Schritten Entfernung friedlich graste. Ihn schien die monströse Hummel nicht zu interessieren. Kein Wunder, wenn man einen dicken Chitinpanzer hat, dachte der Junge. Die Hummel hatte inzwischen ihren Saugrüssel ausgefahren und schlürfte laut an der blumigen Paste.
Plötzlich beugte Mooni sich herab und küsste Shaun flüchtig auf den Mund. Dann begann sie, ihre Schleuder langsam über den Kopf zu kreisen zu lassen. Entsetzt starrte er sie an. Mooni musste verrückt sein. Diese Insekten waren nahezu unverwundbar. Er hatte sich noch vor wenigen Tagen selbst einen gefährlichen Kampf mit einer Wespe geliefert, die in seinem Gewächshaus zu viel vom vergorenen Obst genascht hatte. Mit einer Holzlatte voller Nägel hatte er auf sie eingeprügelt, ohne ihr ernsthaften Schaden zuzufügen. Und jetzt wollte dieses Mädchen eine doppelt so große Hummel mit einem Kinderspielzeug besiegen? Das war absolut irre. Diese Mooni musste total durchgeknallt sein, anders ließ sich das erklären.
Shaun robbte rückwärts davon. Er wollte nicht dabei sein, wenn das Insekt sich auf sie stürzte und sie zerriss. Es wäre bedauerlich, wirklich sehr, sehr bedauerlich. Er hatte gerade angefangen, sie zu mögen. Aber er war deshalb noch lange nicht bereit, gemeinsam mit ihr zu sterben. Wenn sie sich unbedingt umbringen wollte, sollte sie das bitte ohne ihn machen. Sein tastendes Bein stieß an etwas Hartes. Als er sie gehetzt umsah, erkannte er einen weiteren dicken Stamm. Eilig suchte er dahinter Deckung. Wenn diese hungrige Hummel ihn nicht bemerkte, würde wenigstens er den Irrsinn überleben. Wirklich, wirklich schade, denn der Kuss war richtig gut gewesen. Davon hätte er gern noch mehr gehabt. Aber dann sollte es halt nicht sein. Gut Küssen zu können wog keinen Wahnsinn auf. Nicht in dieser Welt. Ganz vorsichtig blickte er um die Ecke. Die Hummel saugte noch immer an dem Zeug, das Mooni dort deponiert hatte. In diesem Augenblick sprang das Mädchen vor. Sie ließ ihr Wurfgeschoss mit einem wilden Aufschrei auf das Insekt fliegen.
Shaun konnte aus seiner Deckung heraus nicht genau erkennen, ob, und wo sie das Tier getroffen hatte, doch die Wirkung war verblüffend. Die Hummel rollte blitzartig ihren Rüssel ein und hob zornig brummend vom Boden ab. Vermutlich würde sie sich jetzt auf das Mädchen stürzen. Doch sobald sie sich nur wenige Meter in der Luft befand, wurde ihr Flügelschlag bereits unregelmäßig. Sie klang nun wie ein Propellerflugzeug mit Motorschaden. Der Junge erwartete fast das unvermeidliche Pfeifen, das alle abstürzenden Flugzeuge in den Filmen machten. Die wahnsinnige Mooni stand noch immer aufrecht und breitbeinig da, sah dem pelzigen Tier abwartend entgegen. Sie trat lässig einen Schritt zur Seite, als die monströse Hummel neben ihr dumpf auf dem Boden aufschlug. Die gewaltigen Flügel rieben noch einmal knisternd aneinander, dann war das Tier tot.
Der Junge war verblüfft. Sie hatte dieses riesige Insekt mit einem einizigen Schuss dieser simplen Schleuder getötet. Gerade als er sich aufrichtete und zum breit grinsenden Mädchen gehen wollte, bemerkte er am Boden hinter ihr eine Bewegung. Laub und Zweige bewegten sich, wurden zur Seite geschoben. Ein rotbrauner, melonengroßer Kopf mit kräftigen Beißwerkzeugen schob sich aus einem Riss in der Erde.
Eine Ameise. Verdammt!
Das mörderische Tier blickte sich mit umherschwenkenden Antennen um. Als es die tote Hummel erkannte, kam es zur Gänze aus seinem Loch hervor. Mooni hatte noch nichts von der schrecklichen Gefahr in ihrem Rücken bemerkt. Sie deutete lachend auf Shaun.
»Hatte ich mit dem Angsthasen vorhin also doch recht.« Sie schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, als hätte sie einen unglaublich guten Witz gerissen.
Shaun reagierte reflexartig. Er griff nach einem Betonklumpen und schleuderte ihn auf die Ameise. Der Kopf des Tieres ruckte herum. Angriffslustig klapperte es mit seinen unterarmlangen Mandibeln.
»Drecksvieh«, schrie er zornig. Zwar hatte er keine Ahnung, ob Ameisen überhaupt Ohren besaßen, aber ihm half es, seine Trägheit abzuschütteln. Er griff nach einem dicken Ast am Boden. Der wäre zwar keine wirkliche Waffe gegen die kräftigen Beißwerkzeuge, aber noch immer besser als völlig wehrlos zerstückelt zu werden.
Er wich stolpernd zur Seite aus, als das mörderische Insekt auf ihn zustürmte. Mooni wurde einfach vom Insekt umgerannt. Shaun rollte sich über die Schulter ab. Irgendetwas krachte darin. Der linke Arm kribbelte mit einem Mal seltsam. Die erneut aufsteigende Übelkeit und der Kopfschmerz ließen ihn kurz taumeln, doch er kam wieder auf die Füße. Gerade rechtzeitig, als der Kopf mit den blitzenden Mandibeln vorzuckte. Ihm kam eine verzweifelte Idee. Er stieß den Ast vor, rammte ihn zwischen die Kauwerkzeuge in die Öffnung. Die Ameise gab einen quietschenden Ton von sich, sprang zurück. Shaun wartete nicht ab, bis sie sich von dem Schrecken erholt hatte und stolperte weiter auf den riesigen, grünen Tausendfüßler zu. Dieser beobachtete das ganze Geschehen äußerst interessiert aus seinen schillernden Facettenaugen. Und genau darauf hatte Shaun gehofft. Das gewaltige Tier schien so etwas wie ein Freund von Mooni zu sein. Außerdem war dieses Reittier um ein Vielfaches größer als die aggressive Ameise, und garantiert schwerer und stärker Sine Kauwerkzeuge waren jedenfalls mehr als doppelt so lang. Shaun lief weiter, schlug einem Bogen um den gezäumten Kopf der Tausendfüßlers. Dann blickte gehetzt er zurück auf den Angreifer. Die Ameise hatte den Ast inzwischen zerteilt und wandte sich erneut Shaun zu. Mooni hatte sich zur Seite gerollt und blickte zu ihm hinüber. Sie war jedoch klug genug, am Boden liegen zu bleiben.
Er holte tief Luft und schrie die Ameise an.
»Komm schon her, Mistvieh! Hol mich doch, wenn du kannst! Noch vor Kurzen hätte ich dich mit dem Fuß zertreten. Ich hol gleich mein Brennglas und dann suche ich deinen Bau!«
Angriffslustig senke sie den Kopf und stürmte los - in gerader Linie auf ihn zu. Darauf hatte er gehofft. Der Tausendfüßler betrachtete die sich ihm nähernde Bedrohung, hob gemächlich den Kopf, reckte sich nach vorn und ließ dann sein Kinn auf das vorbeieilende Tier fallen. Es gab ein lautes, knirschendes Geräusch. Ein wenig stinkende Flüssigkeit spritzte umher und sprenkelte seine Kleidung. Doch die mörderische Ameise war tot. Er hatte es geschafft. Shaun sank auf die Knie und würgte wieder. Seine Schulter brannte wie Feuer und etwas knirschte seltsam, als er sie versuchsweise bewegte. Auch konnte er den linken Arm kaum noch heben. Scheiße! Als er erschöpft aufblickte, stand Mooni vor ihm und streckte ihm die Hand entgegen. Erleichtert griff er mit der funktionierenden Hand zu und zog sich hoch.
Grinsend tätschelte sie ihm den Rücken. »Hiermit nehme den Angsthasen offiziell zurück. Das war ne hammercoole Aktion. Für heute bist du mein persönlicher Held! Ab sofort sollst du stockschwingender Ameisenköder heißen.«
Empört blicke Shaun sie an.
»Na gut, ich überleg mir noch was Besseres. Aber jetzt lass uns erstmal was essen.«
Damit ging sie zu der toten Hummel und begann, ihren Panzer oben an den Flügel aufzubrechen.
»Weiß du Bruder, das meiste an diesen blöden Insekten ist ungenießbar. Zunächst habe ich gedacht, ich müsste verhungern. Aber die Flugmuskulatur schmeckt fast wie Hühnchen. Mit einer Panade oder Currysauce kann ich zwar nicht dienen, aber vielleicht reicht dir das ja für den Anfang.«
Shaun ließ sich ermattet auf den Boden sinken, während Mooni ein kleines Feuer entfachte.