In der Stille knirschte der Schnee. Ein angenehmes Geräusch.
Seit nunmehr 26 Minuten stapfte Jonathan den Weg entlang in Richtung Bahnhof. Mit einer Hand in der Jackentasche und der anderen mit einer Zigarette beschäftigt, fror er sich beinahe zu Tode. Es war ein ungewöhnlich kalter Novembertag, Selbst hier in Norwegen. Kurz blieb er stehen, um das Feuerzeug aus der Jackentasche zu holenund genoss die Stille. Hier draußen am Rand von Amsjörten war es im Winter immer so ruhig. Tief zog er den Rauch ein. Sogleich stellte sich das beruhigende Gefühl von Lungenarterien verstopfendem Teer und betäubendem Nikotin ein. Jonathan, oder Mr. Elsworth, wie ihn sein Boss immer nannte, stapfte weiter. Am Horizont vor sich, dort wo die alte Backsteinfabrik stand, konnte er dunkle Dampfschwaden im Nebel wahrnehmen. Oder waren es Rauchschwaden? Wurde dort überhaupt etwas verbrannt? Jonathan wusste es nicht. In dieser Fabrik hatte er früher einmal gearbeitet, als sie noch auf die Herstellung von Dosenpfirsichen spezialisiert war. Monatelang hatte er am Fließband gestanden, immer die selbe Tätigkeit durchgeführt, Tag ein, Tag aus. Pfirsich nehmen. Pfirsich in Dose geben. Dose auf Laufband stellen. Deckel auf Dose. Pfirsich nehmen. Und alles wieder von vorn. Es war die Hölle gewesen. Mit einem geistigen Anforderungsstand auf Steinzeitniveau. Ein Glück, dass er dies nun hinter sich lassen konnte.
Der Dampf stieg weiter auf und änderte dabei ständig seine Form. Mal konnte Jonathan eine Tiergestalt darin erkennen, mal ein Gesicht, und dann wieder einfach nur Dampfschwaden. Inzwischen zeichneten sich die roten, rechteckigen Umrisse des Ziegelgebäudes im herbstlichen Nebel ab. Inzwischen hatten die Besitzer auf die Herstellung von Autoersatzteilen umgesattelt. Brachte wohl mehr Geld ein als Pfirsiche. Jonathan zuckte mit den Schultern und stapfte weiter.
Noch drei Kilometer und er wäre am Ziel. Zum Glück hatte er feste Winterstiefel. Nicht auszudenken, wenn er mit Turnschuhen unterwegs wäre wie im Sommer! Erst ein Jahr zuvor war ihm das nicht erspart geblieben. Nasse Schuhe waren die Geißel der Menschheit. Vor allem, wenn die Socken und die Füße nicht verschont wurden und die Heizung ausfiel oder gar nicht erst anging, da ja noch nicht Winter war. Ja, das vergangene Jahr war kein gutes gewesen. Es gab so viele Arbeitslose wie nie zuvor, Gesetze wurden beschlossen und gegen den Willen der Bevölkerung durchgesetzt, in Australien und Italien gab es große Erbeben, im nahen sowie fernen Osten herrschte immer noch Krieg und in Amerika.... Nun, in der USA hatte die Leute ihre ganz eigenen Probleme.
Wenigstens schien Nordeuropa größtenteils intakt, oder zumindest von großen Hungersnöten, Katastrophen und Krieg verschont worden zu sein. Ja, Jonathan sollte sich wohl glücklich schätzen in diesem Land leben zu können. Zwar war der Herbst ungewöhnlich kalt, die Tage kurz und die Stimmung Melancholisch, aber das passte eigentlich ganz gut zur Jahreszeit. Es lag wohl einfach am Wetter. Es war, wie seine Mutter immer gesagt hatte: "Hinter den Wolken ist der Himmel immer blau." Natalie Elsworth, geborene Nielsen, hatte tausende dieser Weisheiten auf Lager. Natürlich hatte Jonathan sie übersetzten müssen, schließlich konnte sein Vater mit dem Spruch "Bak skyen er himmelen alltid blå" nicht wirklich viel anfangen. Kein Wunder, schließlich war er ja auch Brite. Zumindest bezeichnete Wiliam Elsworth sich selbst stets als ein solcher. Dass er ursprünglich aus Schottland stammte schien ihn nicht gerade mit Nationalstolz zu erfüllen.
Noch zwei Kilometer. So langsam bekam Jonathan kalte Zehen.
Seine Zehen waren immer schon kälteempfindlich gewesen. Möglicherweise lag das an seiner schlechten Durchblutung. Er steckte sich eine neue Kippe an. Verdammtes Rauchen. Eigentlich wollte er es sich schon seit über zwölf Jahren abgewöhnen. Doch der Mensch war nun einmal ein Gewohnheitstier und daran ließ sich nichts rütteln. Naja, vielleicht hatte er auch einfach zu früh aufgegeben. Überhaupt gab er in vielerlei Hinsicht viel zu früh auf. Vielleicht würde er nicht mehr in einem Job festsitzen, der ihm zuwider war, wenn er sich mehr Mühe geben würde. Und er hätte außerdem den Traumkörper, den er sich immer wünschte. Vor allem hätte er Asa nicht verloren, wenn er nur um sie gekämpft hätte. Jonathan stieß ein trockenes Lachen aus. Gerade noch hatte er sich glücklich geschätzt, solch einen guten Lebensstandard zu genießen, und schon begann er damit, sich selbst zu bemitleiden. Es war erbärmlich.
Noch ein Kilometer bis zum Ziel.
Nach ein paar Abbiegungen würde der Bahnhof in Sicht kommen. Obwohl es ein elektrischer Zug war, erwartete Jonathan aus irgendeinem Grund jedesmal, Rauch zu sehen, sobald er sich dem Bahnhof näherte. Wie es wohl wäre, in einer alten, dampfbetrieben Lok mitzufahren? Zuletzt war ihm dieser Gedanke gekommen, als er sich einen ganz speziellen Film angesehen hatte, in dem ein Junge die Zauberei lernen sollte. Der hatte ihm allerdings nicht sonderlich gefallen. Wahrscheinlich war er einfach zu alt für so etwas, jetzt da er auf die fünfzig losging.
Das Alter spürte er auch schon in den Knochen. Vor allem im Winter, wenn ein Schneesturm durchs Land zog. Dann begann sein Kreuz zu knacken, seine Gelenke zu ziepen und der Kopf zu brummen. Das würde nicht schön werden. Aber Tage wie heute waren schon in Ordnung.
Um die Abbiegung, und dort war der Bahnhof. Es standen bereits zwei Personen am Bahnsteig und warteten. Jonathan nickte Ihnen zu und gesellte sich stumm zu ihnen. Er blickte ein wenig entrückt in den Nebel und lächelte, als der Zug einfuhr. Zwar schien die Sonne nicht stark genug, um ganz durch die Nebelwand hindurch zu kommen, doch wie seine Mutter schon immer sagte: Hinter den Wolken ist der Himmel immer blau.