Das Licht der Wohnung war abgeschaltet, aber im Nachtsichtmodus meines Implantats zeichnete sich das spartanische Inventar dennoch deutlich ab. Ich hatte unaufgeräumte Pizzaschachteln, Bierdosen und Fliegen erwartet, die um das gestapelte Geschirr in der Spüle ihre Kreise zogen.
Die Wohnung bildete das genaue Gegenteil zu Lindas Domizil. Statt schön war sie zweckdienlich. Kaltes, weißes Metall und Plastik, beinahe klinisch rein.
Zuerst hatte ich versucht, ganz legal in die Wohnung von Johannes Kanter zu gelangen. Seine Familie hatte aber einen Trupp Schläger davor abgestellt, mitsamt Anwalt. Ohne Ratsbeschluss hatte ich hier nichts zu suchen.
Aber ich befand mich nicht grundlos in der Außenweltabteilung des Sicherheitskorps. Ich musste mich täglich mit gefährlichen Kreaturen, Banden und Unternehmungen der Familien rumschlagen, die skrupellos versuchten, außerhalb der Rechtssprechung der Zitadelle, den größtmöglichen Profit zu scheffeln.
Ich hatte aber nicht erwartet, dass ich einmal innerhalb der Zitadellenstadt, wie ein Verbrecher durch Luft und Abwasserkanäle kriechen müsste, um meiner normalen Arbeit nachzugehen.
Mit den Resten dieses Abenteuers hinterließ ich eine braune, stinkende Spur auf dem hellen Boden. Beginnend bei der Verdeckung des Luftschachtes, die sich quietschend an einem letzten Scharnier festklammerte, bis hin zum Schreibtisch des Opfers, auf dem ich tatsächlich etwas Chaos vorfand. In dem musste sich auch der von Linda erwähnte Hinweis befinden.
Ich schob einen Stapel Farbmuster für die Sportuniform beiseite und verteilte eine Sammlung fingernagelgroßer Datenkarten auf der Arbeitsplatte, die darunter zum Vorschein kam. Ich scannte sie oberflächlich, bis ich eine fand, die den Suchkriterien entsprach. Mit Daumen und Zeigefinger fischte ich sie behutsam heraus und heftete sie auf die Displayschnittstelle meines tragbaren Medienpanels. Der Inhalt der Datenkarte erschien in einem weißen Rahmen und hob sich vom Rest der Oberfläche ab.
Treffer! Das war Kanters Tagebuch. Ich ging die Liste der Einträge durch und startete den ersten. Das Gesicht des Jungen erschien in Nahaufnahme und er justierte unbeholfen den Zoomfaktor, bevor er zu sprechen begann.
»Hochgeschwindigkeits-Komplettregeneration (HGKR) Tag 1. Ich habe mir nicht nur die Aufnahmen der Tierversuche angesehen, sondern es auch mit eigenen Augen erlebt. Es wachsen tatsächlich ganze Körperteile nach! Sie haben der Kanalratte alle Beine und den Schwanz abgeschnitten. Eine halbe Stunde in der Regenerationskammer und sie waren wieder da. Ich werde mit etwas Kleinem anfangen. Dem kleinen Finger. Falls es schief geht, besorg ich mir eine Fingerprothese, in die ich mir einen Miniaturlaser einbauen lasse. Das wär irgendwie cool, oder? Ach ja, falls jemand nachfragt, ich habe mich ganz freiwillig für dieses Experiment entschieden und habe bereits eine Idee, wie ich daraus großes Geld machen kann.«
Die Bilder der Aufzeichnung zeigten den Innenbereich des Labors, dann huschte die Aufnahme über den Verzichtsvertrag mit dem Kanter-Logo, der auf einem Schreibtisch lag. Das Experiment war also von der Gruppe selbst in Gang gesetzt worden. So viel zu seiner Unabhängigkeit.
Die Abtrennung des Fingers folgte unzensiert und die Hand verschwand anschließend in einen durchsichtigen Zylinder, der mit blauer Flüssigkeit gefüllt war. Im Zeitraffer wurde ich Zeuge, wie sich erst fahles Knochenmaterial bildete und anschließend Schicht für Schicht mit Nerven, Gefäßen, Sehnen Fleisch und Haut überzogen wurde. 19 Minuten und 53 Sekunden dauerte es also, einen kleinen Finger nachwachsen zu lassen.
Es folgten viele weitere Aufzeichnungen, wie er und seine Freunde ihr virtuelles Hobby in die Realität verlagerten. Wie sie trotz verlorener Körperteile glücklich grinsend im Regenerationstank schwebten. Was bedeutete schon ein verlorener Arm, wenn sie einfach einen Speicherstand davor laden konnten?
Gemeinsam mit Takada Sports stieg Kanter in den Unterhaltungssektor ein und hatte neben den absurden Prämien gleich eine Dokumentation, dass das Verfahren funktionierte.
Es war ein rasanter Aufstieg und wäre er den offiziellen Weg gegangen, hätte er Jahre dafür gebraucht und nicht nur Monate, wenn er es überhaupt so weit geschafft hätte.
Auch als er später immer öfter selbst regeneriert werden musste, ließ er sich nicht bremsen. Obwohl es bereits möglich war, die Experimente zu beenden, konnte er nicht aufhören, sich in die Schlacht zu werfen. Er wurde süchtig danach.
Mir fiel auf, dass seine körperliche Präsenz mit jedem Tagebucheintrag abnahm. Das Gesicht wurde hagerer und die Haare dünner. Wie war das seiner Freundin nicht aufgefallen? Nein, wenn man sich jeden Tag selbst im Spiegel erblickt, fällt einem auch erst auf, dass man gealtert ist, wenn man sich Bilder aus der Vergangenheit ansieht. Also konnte ich das irgendwie verstehen. Doch irgendwann bemerkte er es selbst:
»HGKR Tag 117: Ich habe von Siks mit Prothesen immer wieder gehört, dass sie ihre verlorenen Gliedmaßen spüren können, obwohl sie nicht da sind. Wenn sie ihre Prothesen erhalten, wird es besser. Die Nervenimpulse lassen sich wieder zuordnen.
Mir geht es ähnlich. Nein, eigentlich ist es umgekehrt. Wenn ich meinen Körper betrachte, wenn ich Körperteile ansehe, die ich verloren habe, entsteht in mir ein Konflikt. Mein Kopf sagt mir, dass ich diese Hand eigentlich verloren habe, aber meine Augen sehen sie trotzdem. Das war am Anfang nicht schlimm.
Jetzt habe ich meine Hand schon fünf Mal verloren und mein Kopf weigert sich, anzunehmen, dass sie immer noch da ist. Beim letzten Kampf konnte ich keine Waffe abfeuern. Ich habe meine Hand nicht gespürt, obwohl sie da war. Jetzt geht es wieder, aber ich musste mich zwei Stunden auf sie konzentrieren, bis sie sich rührte. Ein Prozess, der eigentlich automatisch stattfinden sollte.
Was ist, wenn plötzlich meine Beine versagen? Körperlich ist alles in Ordnung, die Messgeräte zeigen keine Gründe dafür, aber das Gehirn benutzt sie einfach nicht? Werde ich dann stattdessen Prothesen tragen müssen? Funktionieren die dann? Ich denke, ich muss mit den Kämpfen aufhören. Ich hoffe, dass ich es schaffe.«
Ich atmete durch. Das war hart. Ich wünschte mir wirklich, dass er es schaffen würde. Sinnlos, wenn man das Ende eines Films schon kennt. Er schaffte es nicht, wie ich aus den Medienberichten der letzten Wochen erfuhr. Hatte das Labor es vielleicht doch als zu große Gefahr eingestuft, ihn in Folge einer psychologischen Nebenwirkung zu verlieren? Und mit ihm vielleicht alle anderen Erfolge? Ich würde Kanters Team erneut befragen müssen, direkt zu diesen psychologischen Erscheinungen.
Doch eine letzte Aufzeichnung befand noch auf der Datenkarte und ich spielte sie ab.
Kanter befand sich in einem weißen Raum und starrte in das Aufnahmegerät. Seine Haare waren wirr und schwarze Linien zeichneten sich unter seinen Augen ab. Das Bild war so grell, dass es Kanters Büro in helles Licht tauchte und mich blendete.
»HGKR Tag 162: Letzte Nacht lag ich im Bett und konnte mich nicht rühren. Ich spürte keinen Teil meines Körpers. Nicht nur die, die ich habe nachwachsen lassen, wirklich keinen!
Linda lag neben mir und hat geschlafen. Sie hat zum Glück nichts davon mitbekommen. Aber selbst wenn ich gewollt hätte, ich hätte sie nicht um Hilfe bitten können.
Ich war verzweifelt. Ich bin es immer noch. Früher gab es Menschen, die durch einen Unfall in einem bewegungsunfähigen Körper gefangen wurden, und ich schaffe mir dieses Gefängnis selbst. Ich will nicht den Rest meines Lebens in einem Regenerationstank zubringen, der mich künstlich am Leben hält, wenn ich irgendwann nicht mehr selber Essen oder atmen kann! Ich wollte unsterblich werden, jetzt ist mir klar, dass das unmöglich ist.
Die anderen haben keine der Auswirkungen gezeigt, zumindest habe ich davon nichts erfahren. Das Laborteam kann es sich nicht erklären. Sie können mir nicht helfen. Sie müssen es auch nicht, schließlich habe ich damals diesen verdammten Vertrag unterzeichnet.
Ich bin erst siebzehn Jahre alt und fühle mich so, als sei ich in den letzten Wochen um Jahre gealtert. Ich habe meinen Körper überstrapaziert, habe ihn ausgebrannt. Bin einfach müde. Und ich sehe keinen Ausweg.
Ich will es Linda nicht zumuten, wenn sich der Vorgang von letzter Nacht wiederholt. Sie wird sich zwar nicht um mich kümmern müssen, das macht meine werte Familie, aber ich will ihr den Schock ersparen, falls sie dabei ist. Ich habe mein Testament geändert und überschreibe ihr mein Vermögen und die Gewinne durch den Medienkanal. Ich bin sicher, dass sie das Geld weiser einsetzen kann, als ich.
Falls du das jemals zu sehen bekommst, Linda, musst du wissen, dass ich dich liebe und das es mir leidtut.
Ich werde das Zielsystem der Waffen so modifizieren, dass sie Kopfschüsse zulassen und meinen Helm abschalten. Ich weiß, dass die anderen instinktiv immer auf den Kopf zielen. Es wird also nicht lange dauern, bis es mich erwischt.«
Kanter starrte noch eine Weile in das Aufnahmegerät, sah dann aber ein, dass er alles gesagt hatte, was zu sagen war und beendete die Aufzeichnung.
Ich atmete tief durch und kopierte den Inhalt auf mein Medienpanel. Das Original würde ich Linda übergeben. Ich wusste nicht, ob es sie noch mehr schocken würde, aber er wollte, dass sie es erfuhr.
Mein Vorgesetzter würde über die Informationen erfreut sein, die ich heute gesammelt hatte. Mit dem Bezug auf Linda konnten wir es sogar so drehen, dass das Sicherheitskorps die Daten auf legalem Weg erhalten hatte. Wir konnten einen Ratsbeschluss erwirken, der uns Zugang zu den Laboren und eine Möglichkeit verschaffte, um die Schlachten der Jugendlichen zu unterbinden.
Vor der Wohnungstür ertönte Lärm und Licht drang in die Wohnung. Verdammt! Ich hätte die Daten nur kurz überfliegen sollen und dann gleich abhauen.
Die Tür öffnete sich mit einem sanften Zischen, während ich meine Waffe zog, und das Implantat ging in den Gefechtsmodus über. Zwei bullige Schläger betraten die Szene und stellten sich zwischen mich und die Gerechtigkeit. Nun würde ich doch kämpfen müssen. Aber was sollte ich mich beklagen, das war schließlich mein Job.
--- ENDE ---