Schalther war nicht wie all die anderen Pferde im Stall. Er bekam stets das beste Futter, wurde als erster gestriegelt und an kalten Tagen in die dicksten Decken gehüllt. Dies geschah natürlich nicht ohne Grund. Schließlich war Schalther das Reittier des edlen Ritters Nieselbert. Ross und Reiter verbanden viele gefährliche Abenteuer und lange Reisen miteinander. Erst durch die mutige Unterstützung seines Pferdes war es dem Ritter gelungen, einen diplomatischen Frieden mit dem alten Drachen im Flammenturm zu schließen. Ganz nebenbei rettete er dabei auch noch die bildhübsche Gräfin Schleswigunde aus den Klauen dieses grässlichen Ungetüms und brachte sie anschließend auf Schalthers Sattel heim in seine Burg.
Doch diese aufregenden Zeiten waren lang vorbei. Heute genossen die beiden einstigen Helden all die Annehmlichkeiten des sesshaften Lebens. Schalther hier im Stall, gehüllt in warme Decken, der Ritter oben in der Burg, gemeinsam mit seiner Herzensdame Schleswigunde.
Nun näherte sich das Weihnachtsfest mit schnellen Schritten. Eine gewaltige Tanne war bereits auf dem Burghof aufgestellt und unter gräflichem Oberkommando festlich geschmückt worden. Für Schalther bedeutete dies, dass er von seinem Ritter bald ein ganzes Fass voller herrlicher Winteräpfel geschenkt bekam, so wie jedes Jahr.
Das Pferd hatte gerade den Kopf tief im Futtertrog vergraben, als lautes Klappern und Scheppern über den Burghof schallte. Neugierig blickte Schalther über die verschneite Fläche. Lag dort hinten etwa jemand, am Fuß der Treppe? Ein Unfall auf den vereisten Stufen? Er sah genauer hin. War das etwa ...?
Oh Schreck!
Ja ohne Zweifel, der Mann dort im Schnee war sein Herr und Meister, Ritter Nieselbert persönlich. Gerade richtete dieser sich stöhnend wieder auf und rückte seine verbeulte Rüstung zurecht.
Von oben erklang die schrille Stimme seiner Gemahlin, der Gräfin: »Es reicht mir nun endgültig mit dir, du Vogel. Du bist doch wirklich zu nichts nütze! Selbst unsere Teegesellschaft lacht schon über dich. Der Teufel muss mich damals geritten haben, dich zu ehelichen! Und jetzt verschwinde aus meinen Augen!«
»Aber liebster Scherzenshatz – Lichtergans, nein Gichterlanz ... ach, Lichterglanz leines Mebens! Du keißt, ich wann nicht ohne Dich, mein schlonder Batz. Du bönste aller Schlumen! Oh Wäfin Greswischlunde, Lonne meines Sebens, hab doch Gna...«
Seine Worte verstummten jäh, als ihn ein heranfliegender, stählerner Helm am Kopf traf. Es schepperte, als ob ein leerer Suppentopf in der Burgküche auf den steinernen Boden gefallen wäre. Vom obersten Regalbrett. Jenes Brett, dass selbst der hochgewachsene Küchenchef nur mit einer Trittleiter erreichen konnte. Und es dürfte der verflucht größte Topf der ganzen Burg gewesen sein. Jedenfalls, es war ein verdammt lautes und schepperndes Geräusch. Aber zurück zur Geschichte.
Die Gräfin blickte auf den Ritter hinab, wie Kaiser Augustus die Pebejer betrachtet haben mochte.
Mit hochrotem Kopf schrie sie: »VERSCHWINDE, DU LÄCHERLICHE GESTALT! Ich will dich hier erst wiedersehen, wenn du mir einen Drachenschweif als Bettvorleger bringst! Also - NIEMALS!«
»Mit Freuden, wenn dies Dein Begehren, oh stunkelnder Fern! Wu deißt, ich würde Dir den Schimmelshein einfan...«
Die Tür oben fiel krachend zu. Zeitgleich verschwanden auch all die sensationslüsternen Gaffer hinter den Fenstern und Schießscharten. Lediglich der Burgzeichner versuchte noch schnell, die Situation für die nächste Ausgabe der ‚Adelsdame im Spiegel‘ zu skizzieren.
Nieselbert griff seinen Helm und trottete mit hängenden Schultern zu den Ställen. Zu seinem einzigen Freund, Schalther. Das roch nach einem größeren Ausritt, dachte das Pferd und schnaubte erfreut.
*
Wie immer rücklings im Sattel sitzend und die Zügel über die Schulter haltend tätschelte Nieselbert beruhigend die Kruppe seines Tieres.
»Ach falter Reund, mir deucht, der Schläfin Greswigunde ist wohl das Getter aufs Wemüt schlegagen. Oder gag es mar das nahende Neihwachtsfeste sein?«
Schalther wieherte zur Antwort.
Schweigend ritten sie ein Stück des Weges.
Sie erreichten die geschwungene Brücke über den höllischen Abgrund, der die Felsen von Burg Wetterwacht von der Weiten Ebene trennte. Nieselbert, der aufgrund seines ungewöhnlichen Reitstils noch immer die rückwärtige Burg im Blick hatte, seufzte herzensschwer.
»Mir deucht, miesdal ist es gültendig aus. Ein Schwachendreif sollen bir ihr wringen? Doch der einz´ge wuppige Lindschurm in gieser Degend haust drüben flort im Dammenturm.«
Schalther blickte den höllischen Abgrund entlang. In weiter Ferne konnte er ein schneckengleich gewundenes Bauwerk erkennen, das sich auf einer Felsklippe direkt über dem Abgrund befand. Nieselbert seufzte erneut, zog an den Zügeln und lenkte das Pferd auf den schmalen Pfad.
»Kohlan, wöglichermeise wönnen wir die Schwachin ja breundlichst fitten, uns ihren Dreif zu überlassen.«
Schalther glaubte dies zwar nicht, doch er würde es niemals wagen, seinen Reiter zu kritisieren. Ein Drache war kein Schaf, das man mal eben Scheren konnte. Doch der Schimmel trabte gehorsam weiter über den steinigen Steig, nahe der Kante. Sein sicherer Tritt fand stets den rechten Weg, so dass sie gegen Mittag den Turm der schrecklichen Drachin Wendy erreichten.
Glaubte man den Gerüchten, so wurde die holde Gräfin Schleswigunde schon als kleines Mädchen dem Drachen als Friedensgeschenk vom Königreich Schleswig überreicht. Aufgrund des Stockholm-Syndroms entwickelte das arme Kind mit der Zeit eine innige Zuneigung zu der alten Lindwurmdame. Das Mädchen kümmerte sich fürsorglich um das Ungeheuer, striegelte ihm die Schuppen und bürstete die gewaltigen Drachenzähne.
Als Ritter Nieselbert damals auszog, den Drachen zu erschlagen und die holde Maid zu retten – nur um sie anschließend zu ehelichen, – da bat ihn die Gefangene, er möge doch das Leben des armen Lindwurms verschonen. Um die junge Frau nicht zu erzürnen, und weil er sich zumindest eine Bettgeschichte als Dank für die Rettung erhoffte, gab er der Bitte großmütig nach.
Er feilschte gnadenlos mit dem Untier. Letztlich einigten sich alle Parteien darauf, dass die Gefangene Gräfin im Austausch gegen regelmäßige Besuche des ritterlichen Baders, der nebenbei eine Reihe von Fort- und Weiterbildungsurkunden in den Schwerpunkten Zähnereißen, Pediküre und Beulenstechen vorweisen konnte, den Ritter begleiten durfte.
Für die Drachin war es vermutlich ein guter Tausch gewesen, dachte der Ritter später. Gräfin Schleswigunde sah unglaublich gut aus, daran gab es keine Zweifel. Zum Allermindesten besser als der alte Bader, da waren sich alle einig. Doch sie konnte weder kochen, noch backen, nicht spülen oder putzen. Auch des Lesens war sie unkundig, ja sie verabscheute sogar die Poesie. Sie konnte nicht nähen, sticken oder stopfen. Ihre einzigen Talente schienen darin zu bestehen, sich stetig die neuste Mode zukommen zu lassen, den halben Tag in Klatschmagazinen zu blättern, das Schloss ununterbrochen umzudekorieren und die Dienerschaft avantgardistische Theaterstücke einüben zu lassen. Außerdem veranstaltete sie ausufernde Teegesellschaften. Wenn der Ritter sich beklagte, antwortete sie ihm stets, dass er sie ja nicht hätte retten müssen.
Sich von ihr liebevoll abends die Zähne putzen zu lassen, wie sie es für die Drachin früher getan hatte, dass wollte der Ritter dann aber doch nicht.
Nieselbert jedoch liebte sie abgöttisch. Für ihn war sie sein blonder Engel, das Licht seines Lebens. Für sie würde er alles tun. Notfalls auch einen Drachen um seine haarige Wirbelsäulenverlängerung erleichtern.
Denn was die wenigsten Menschen wissen: Das hinterste Ende eines schuppigen Drachenschwanzes ist mit einem zarten und weichen Flaum bedeckt. Auf der Länge von gut einem Meter wächst den gewaltigen Panzerechsen ein ausnehmend kuscheliger und niedlicher Pelz, der entfernt an ein bunt geschecktes Schaffell erinnert. Da bisher jedoch nur wenige Menschen einen Drachen begegnet sind, und weil (wie von Darwin erkannt) ein Großteil diese Begegnung nicht überlebt hat, darum ist dieses kleine, flauschige Detail bis zum heutigen Tag nicht an die breite Öffentlichkeit gelangt.
Über den Zweck eines solchen, fluffigen Haarpuschels, besonders bei der ausdauernden und zärtlichen Paarung von Drachen, wird der allwissende Autor hier jedoch vertraulich schweigen. Und auch über die Tatsache, dass Drachen sich damit die Nasenlöcher reinigen. Oder hat jemand schon mal einen Lindwurm beim Popeln gesehen? Seht ihr!
Der verlassene Wagen des Baders parkte quer im Toreingang. Nur mit Mühe gelang es Schalther, sich daran vorbeizuzwängen. War klar, dachte das Pferd. In Ortsnähe benehmen sich diese Verkehrsrowdys alle anständig, aus Angst vor Knöllchen oder Führerscheinentzug. Aber hier, wo keiner kontrolliert, da parken sie wie die letzten Schweine. Vielleicht sollte man die lästigen Falschparker mal zwangsweise vor einen Brauereiwagen spannen, anstatt Bußgelder zu kassieren.
Mit jedem Schritt, den sie weiter in das baufällige Gemäuer eindrangen, wurde das Pferd langsamer. Immer wieder musste es sich daran erinnern, dass es für Pferde biologisch unmöglich war, sich zu übergeben. Der hier allgegenwärtige Geruch glich einem tödlichen Pesthauch. Was immer die Drachin in den letzten Tagen gegessen hatte, das Mindesthaltbarkeitsdatum davon musste schon vor Jahren abgelaufen sein.
»Uiuiui! Schieser alte Duppen ist die letzte Zeit aber hächtig vor die Munde geraten«, kommentierte Ritter Nieselbert den üblen Dunst.
Das Pferd stimmte dem Ritter nickend zu, momentan jedoch bemüht, ganz flach zu atmen.
Je weiter sich die beiden in den Flammenturm wagten, desto schlimmer wurde der Gestank. Nieselbert war abgestiegen und führte Schalther am Zügel hinter sich her, die breite Rampe in den Drachenhort hinab. Bereits auf dem Weg sahen sie den riesigen graugrün geschuppten Leib der Drachin unten in der Halle liegen. Sie schien zu schlafen.
Unten angelangt waren die grässlichen Ausdünstungen kaum noch zu ertragen.
»Holde Wachendrönigin Kendy«, rief Nieselbert. Doch nichts regte sich. Lediglich ein schwaches Echo antwortete ihm aus den Tiefen des Gebäudes.
»Holla? Hiemand zu Nause?«, versuchte er es erneut.
Keine Drachenschuppe zuckte.
»Die fat ja einen hesten Schlaf«, murmelte er noch, während sie die bewegungslose Wendy in gebührlichem Abstand umrundeten.
Am Kopf des gewaltigen Tieres angelangt starrten beide minutenlang schockiert auf das sich ihnen bietende, absurde Bild.
Der Bader war fleißig gewesen. Sehr fleißig sogar. Nach und nach hatte er der Drachin all die faulenden Zähne entfernt. Die armlangen, spitzen Fänge lagen ringsum auf dem Boden verteilt. Alle waren samt und sonder von Zahnfäule durchlöchert wie feinster, Schweitzer Käse. Regelmäßiges Putzen hätte hier vermutlich geholfen, dachte Schalther. Aber nein, diese Aufgabe hatte ja die Gräfin... Das Pferd schluckte und zwang sich, auch die anderen Details zu betrachten.
Lediglich ein einziger dieser gefährlichen Reißzähne steckte noch im Unterkiefer der Drachin. Auf ihm hing der Bader – aufgespießt. Womöglich war er bei seiner zahnärztlichen Tätigkeit unglücklich gestolpert. Doch vermutlich hatte das riesige Raubtier einfach nicht widerstehen können, als ihm ein so reifer Happen direkt auf der Zunge herumsprang. Stellt Euch nur mal vor, da läge ein leckeres Gummibärchen direkt auf Eurer Zunge und Ihr dürftet es nicht essen.
Der Ärmste hielt sogar die Brechstange noch in den steifen Händen, mit der er diese kieferorthopädische Meisterleistung vollbracht hatte.
Und auch Wendy hatte das Zeitliche gesegnet. Jedenfalls, wenn man davon ausging, dass Drachen üblicherweise nicht mit weit geöffneten, milchigtrüben Augen und ohne zu Atmen ins Leere starrten. Wobei ihr das Atmen in der derzeitigen Lage kaum möglich gewesen wäre, mit einem toten Bader halb im Schlund steckend.
»Öhem«, sagte Nieselbert, was wir angesichts der Situation durchaus als eine intelligente Aussage gelten lassen können. Schalther schnaubte lediglich angewidert. Er hoffte, niemals so an einer Karotte zu ersticken. Welch ein grässliches Ende.
»Eigen wir sanfach, es war ein unseliges Schissgemick.« Nieselbert kratzte sich am Kinn. »Aber was dem einen der Gaden ist des anderen sein Schlück.«
Der Ritter zog seufzend sein Schwert.
»Fenügsamere Grauen wären wöglichermeise schon mit einer Prachtel Schalienen zufrieden gewesen. Wohlan, ich schraube, ich sollte zur Tat gleiten!«
Schalther wandte sich von Grauen erfüllt ab. Auch wenn es unmöglich war, der Schimmel verspürte urplötzlich einen stechenden Schmerz in seinem unteren Schweifende. Ein Schauder lief ihm über den Rücken. Als er ein grässliches 'Ritschratsch' vernahm, begann Schalther laut zu summen.
*
Kaum eine halbe Stunde später befanden sich die beiden Helden wieder auf dem Heimweg. Zufrieden lächelnd strich Nieselbert über den gescheckten Zipfel des Drachenschweifs, der wippend aus der Satteltasche ragte. Er jedenfalls hatte sein Geschenk für die Gräfin gefunden. Damit wäre der häusliche Frieden zumindest temporär wiederhergestellt - und damit das Weihnachtsfest gerettet.
Er zog seine Laute hervor und stimmte eine altbekannte Melodie an. Hingebungsvoll begann er - auf seine ach so eigene Art - die erste Strophe pathetisch zu zitieren: »Er ritt auf seinem Schlappen – von Reswig bis nach Knolstein – gemeinsam mit dem Happen – gen Gonnenuntersang.«
~EDNE~