Ein Freitags-Beitrag für die 'Authors for Future' Gruppe: Ein kurzes 'Spin Off' meiner dystopischen 'Last Kids Standing'-Erzählung - aus der Welt nach dem Umweltcollaps.
CN: Hunger, Durst, Gefangenschaft, Verletzung, körperlicher Verfall, bedrohliche Atmosphäre, Insekten, Tod
Die kleine Lara rieb ihre rechte Hand immer wieder am Hosebund, doch der brennende Schmerz wollte nicht nachlassen. Ganz im Gegenteil, er wurde schlimmer. Nun bildeten sich auf den geröteten Fingern und dem Handrücken auch noch Bläschen. Kalte Panik stieg in ihr auf.
»Maaamaaaa!«
Sie stolperte in der dunklen Diele über einen Haufen schmutziger Wäsche, rannte weinend weiter ins Wohnzimmer. Nur ein schmaler, fahlgrüner Lichtstreifen drang durch einen Spalt in den geschlossenen Rollos. Er durchschnitt die stickige, warme Luft wie eine Klinge, ohne dabei viel zu beleuchten. Doch die Augen des Mädchens hatten sich längst an das ständige Dämmerlicht gewöhnt.
Etwas regte sich im Zimmer. Eine ausgemergelte Gestalt – fahlgelbe, faltige Haut und eingesunkener, trüber Blick – wälzte sich mühsam auf der Couch herum. Raschelnd hob die Mumie ihr Haupt, nur um es sofort wieder keuchend sinken zu lassen.
»Was denn, Spatz?« Eine ausgetrocknete Stimme, brüchig wie altes Pergament.
Das Mädchen stieg über zerknüllte Verpackungen und leere Konservendosen. Vor der Couch hielt es an, reckte verschämt die rechte Hand vor.
»Das tut weh!«
Und jetzt, wo sie es laut aussprach, erschien es der Neunjährigen, als ob der Schmerz noch realer wurde, von ihr Besitz ergriff. Das Brennen kroch immer höher, hatte bereits ihren Ellenbogen erreicht.
»Ganz, ganz doll weh!«, schob sie hinterher.
Die Mutter ächzte, griff zitternd nach Laras Hand. Das Mädchen zuckte keuchend zurück, als deren Finger sie berührte.
»AUA! Spinnst du?«
Die Erschöpfung in den Augen der Frau wich tiefer Besorgnis.
»Hey, alles wird gut. Was ist denn passiert?«
Stöhnend richtete die Frau sich auf. Sie stützte sich zitternd mit beiden Händen ab, suchte scheinbar nach dem Gleichgewicht und ließ sich dann schwer gegen die Rückenlehne sinken.
Lara kletterte zu ihr auf die Couch, sorgfältig darauf bedacht, die schmerzende Rechte nicht zu benutzen. Schluchzend legte sie sich hin, bettete ihren Kopf auf dem Schoß ihrer Mutter.
Dürre, klauenartige Finger mit langen Nägeln strichen fahrig über Laras Schulter, fuhren ihr durchs verfilzte Haar. Sie betrachtete die Hand ihrer Tochter, bemerkte jetzt die Rötung und die Blasen. Entsetzen stieg in ihr auf.
»Warst du etwa am Wasserhahn?«
Lara schlug die Augen nieder, vergrub das Gesicht im Shirt ihrer Mutter. »Ich hab Durst«, murmelte sie undeutlich.
Die Frau stöhnte gequält auf. »Ach Spatz. Du weißt doch, dass man das Wasser nicht mehr trinken kann. Sieh dir deine Hand an. Willst du, dass das auch mit deinem Mund passiert?«
Lara schüttelte verzweifelt den Kopf, presste ihre Rechte an die Brust.
Die Mutter betrachtete sie kummervoll. »Wenn du solchen Durst hast, dann hol dir eine Dose Limo aus der Küche.«
»Aber da ist doch gar keine mehr.« Lara schniefte. »Hast du das schon wieder vergessen?«
Stille.
Geistesabwesend ließ die Mutter eine von Laras Haarsträhnen durch ihre Finger gleiten. Ihr Blick wurde glasig, sie erstarrte.
Lara drehte sich auf den Rücken, sah zu ihrer Mutter auf.
»Was hast du, Mama?« Sie klang verunsichert.
Noch immer bewegte sich ihre Mutter nicht, senkte nicht einmal den Kopf.
Vorsichtig löste Lara sich aus dem Griff, richtete sich auf. Ihre Mama saß noch immer aufrecht da, starrte reglos auf die Wand. Ein kalter Schauer kroch über Laras Rücken, die Härchen auf ihren Armen schabten mit einem Mal unangenehm am Stoff des Pullovers.
Die schmerzende Hand war plötzlich vergessen, als sie an der Schulter ihrer Mutter rüttelte.
»Mama? Bitte bitte sag doch was!«
Keine Reaktion.
Sie schrie sie an: »MAAMAAAAAA!« Die Worte hallten durch die dunkle Wohnung. In Laras Ohren klingelte es.
Der Mund der Frau öffnete sich langsam, millimeterweise. Aus einem leisen Pfeifen wurde ein trockenes Rasseln, als sie ihre papiernen Lungen gierig mit Sauerstoff füllten.
Sie blinzelte, sah ihre Tochter irritiert an. »Hey, alles klar, Spatz?«
Lara zog die Nase hoch, wischte sich mit einem Ärmel über das Gesicht. »Ja Mama.«
»Dann hol dir doch jetzt eine Limo, du musst etwas trinken«, sagte die Mutter lächelnd. »Und wenn noch ein klein bisschen Zwieback da ist, bring ein, zwei Eckchen mit. Das haben wir uns verdient.«
»Ja Mama.«
Gehorsam trottete die Tochter in Richtung Küche. In der Diele angekommen vernahm sie plötzlich ein unvertrautes Geräusch. Sie blieb stehen, lauschte.
Es klapperte und rappelte hinter ihr im Wohnzimmer. War ihre Mutter etwa aufgestanden? Zum ersten Mal seit über einer Woche? Nein, das musste etwas anderes sein.
Da – schon wieder. Es klopfte, kratzte.
Dann dämmerte es ihr, woher diese Geräusche stammten mussten.
Das waren die Rollos. Etwas rüttelte von außen an den verschlossenen Rollläden vor den Fenstern. In der dritten Etage!
Ihre Nackenhaare richteten sich auf und sie verfluchte sich selbst. Sie sollte stets leise sein, das hatte ihre Mutter ihr immer wieder eingeschärft. Doch Lara hatte es in ihrem Entsetzen über die Regungslosigkeit ihrer Mutter eben vergessen. Sie hatte in ihrer Angst nicht daran gedacht, dass sie hier niemals laut sein durften.
Das Geräusch wiederholte sich. Jemand, etwas kratzte von außen am harten Plastik.
Auf Zehenspitzen schlich sie zurück Richtung Wohnzimmer, blickte angstvoll um die Ecke.
Die aufgerichtete Silhouette ihrer Mutter starrte auf das geschlossene und verdunkelte Fenster. Durch den schmalen Spalt konnte Lara etwas Großes erkennen, das sich außerhalb bewegte. Das Rollo wackelte klappernd. Ein astdünnes Bein schob sich durch den Spalt, kratzte mit einer Kralle quietschend über das Glas. Es hinterließ einen langen Kratzer in der Scheibe.
Lara ahnte, was dies war. Es musste sich um eine dieser komischen, neuen Mücken handeln. Eines der schrecklichen Tiere, das ihren Vater getötet hatte. Diese Monster waren der Grund, warum Lara und ihre Mutter jetzt hier im Dunkeln saßen. Und weshalb Mama niemals die Fenster öffnete. Und auch den Lüftungsschlitz in der Vorratskammer vernagelt hatte.
Mama hatte gesagt, diese riesigen Mücken könnten ihren Atem und ihren Schweiß riechen. Und sie könnten auch irgendwie ihre Körperwärme erkennen. All das lockte sie an, hatte Mama gesagt. Darum dürften sie nicht mehr raus, vielleicht nie wieder.
Papa war nämlich unten auf der Straße von einer Mücke gestochen worden. Sie hatte sich auf seinen Kopf gesetzt und ihren langen Saugrüssel in seinen Hals gesteckt. Papa war umgefallen und dann nicht wieder aufgestanden. Lara und Mama waren schnell ins Haus gelaufen und hatten die Tür hinter sich geschlossen. Papa war nicht hinterhergekommen.
Beim ersten Mal, als Lara heimlich ein Rollo hochgezogen hatte, hatte sie ihren Vater immer noch unten vor dem Eingang liegen sehen. Er war schon total braun und schrumpelig gewesen, wie eine alte Banane.
Als sie am nächsten Tag erneut nach ihm hatte sehen wollen, war er nicht mehr da gewesen. Dafür waren überall Wurzeln und Blätter zwischen den Steinplatten gewachsen. Und Lara hatte seltsame Ameisen gesehen. Auch die waren jetzt viel größer. Manche von ihnen hatten Menschen weggetragen. Bestimmt alles tote Menschen, so wie ihr Papa, denn sie waren auch ganz braun und vertrocknet gewesen. Seitdem hatte Lara nicht mehr oft aus dem Fenster gesehen. Jetzt war die Straße vor dem Haus sowieso nicht mehr zu erkennen. Riesige Stämme und Äste und gewaltige Blätter verdeckten alles. Die Pflanzen da draußen waren richtig schnell gewachsen - und sie waren jetzt wie die Insekten auch viel größer als sonst.
Die Mücke vor dem Fenster hatte aufgehört, am Rollo zu klappern. Vielleicht hatte sie endlich gemerkt, dass sie hier nicht hereinkam. Beklommen ging Lara zurück zu ihrer Mutter auf die Couch.
»War das eine Mücke?«, wollte sie von ihr wissen.
Mama zuckte nur mit den Achseln. »Hm. Aber was macht deine Hand, Spatz?«
»Schon viel besser«, log Lara.
»Hat dir die Limo geschmeckt?«
Das Mädchen sah rasch zur Seite, damit ihre Mutter nicht merkte, wie sie erneut log. »Ja, ganz wunderbar.«
Laras trockener Hals kratzte, wenn sie auch nur an Trinken dachte.
»Hast du uns ein bisschen Zwieback mitgebracht?« Die Mutter strich ihr zärtlich übers Haar.
»Ach nein, Mama. Wir haben doch nicht mehr viel davon. Lass uns noch etwas warten, bevor wir ein Stück essen.« Sie konnte ihrer Mutter auch bei dieser weiteren Lüge nicht in die Augen sehen. Das letzte Stück Zwieback hatten sie bereits vor vier Tagen gegessen. Heute Morgen hatte Lara ein Stück von einem Karton abgebissen. Es hatte schrecklich geschmeckt, aber nun tat ihr Bauch nicht mehr ganz so weh. Sie kuschelte sich eng an ihre Mutter und schloss die Augen. Wenn sie schlief, tat ihr nichts weh.
»Du bist so ein liebes Kind«, hörte sie ihre Mutter noch undeutlich murmeln, bevor sie in unruhigem Schlaf versank.
Das leise Geräusch von tropfendem Wasser weckte Lara. Sie glitt vorsichtig von der Couch, um ihre Mutter nicht zu wecken. Bestimmt hatte sie vorhin den Wasserhahn nur nicht richtig zugedreht, so, dass diese stinkende Brühe noch immer in die Wanne tropfte. Leise stieg sie über den Abfall, der ihr den Weg versperrte.
Im Durchgang zum Badezimmer blieb sie verblüfft stehen. Der Raum hatte sich verändert. Zwar konnte sie im Dämmerlicht nicht alle Einzelheiten ausmachen, doch sie erkannte Ranken, die sich jetzt aus dem Abfluss schoben. Sie wuchsen bereits die Wand hoch. Ja, Lara konnte dem Efeu dabei zusehen, wie es langsam weiter in Richtung der Zimmerdecke kroch. Gruselig.
Wieder löste sich ein brauner Wassertropfen aus dem Hahn, platschte auf eines der Blätter, die allesamt größer als Laras Kopf waren. Dieses widerliche Wasser hatte ihr vorhin die Haut verbrannt, daher erwartete sie, gleich auch ein Loch im Blatt zu sehen. Doch der Pflanze schien es nichts auszumachen. Ganz im Gegenteil. Ein junger Trieb bildete sich neben dem Blattstiel – innerhalb von Sekunden. Lara sah, wie diese neue Ranke auf den Wasserhahn zukroch, ihn zu umschlingen begann. Das Metall ächzte unter dem Griff. Knarrend bog es sich nach oben.
Plötzlich zischte es. Ein feiner, brauner Strahl stob aus dem Hahn, sprühte durchs Badezimmer. Die Blätter des Efeus erzitterten. Lara erkannte, wie sich überall neue Triebe bildeten.
Mit einem berstenden Knall brach der Wasserhahn vollends aus der Wand. Aus dem Loch schoss ein gewaltiger Wasserstrahl. Er prasselte gegen die Wand, durchnässte alles im Zimmer. Das Efeu breitete sich jetzt rasend schnell aus. Wandfliesen zerbarsten, flogen wie Schrapnelle umher. Lara stolperte entsetzt zurück in die Diele. Das gluckernde Wasser bahnte sich auf dem Boden bereits einen Weg in ihre Richtung, umspülte die leeren Kartons und Verpackungen, die leeren Limonadendosen und die Berge alter Wäsche. Sie wich weiter zurück, bis sie plötzlich an ihre Mutter dachte. Sie musste sie warnen, ihr helfen. Alleine würde sie dort sterben.
Verzweifelt kletterte Lara auf eine hölzerne Kiste. Bis zum Wohnzimmer waren es nur wenige Schritte, doch das Wasser umspülte bereits ihre kleine, rettende Insel. Beherzt sprang sie auf einen Berg Wäsche, der an der Ecke zum Wohnzimmer lag. Ihr nackter Fuß geriet dabei kurz ins Wasser. Mit einem Aufschrei zog sie ihn zurück. Doch es war schon zu spät. Die Haut rötete sich und begann sofort zu brennen.
Die Efeuranken schoben sich jetzt vor ihren Augen aus dem Bad, wuchsen quer durch die Wohnung. Einige ragten bereits ins Wohnzimmer. Lara musste ihre Mutter erreichen, bevor diese Pflanze sie womöglich erwürgte.
Gerade, als sie zum Sprung auf die Kommode ansetzte, krachte es laut im Badezimmer. Lara stockte. Der Boden unter ihr schien zu wackeln. Sie hielt sich an der Wand fest, um nicht ins Wasser zu stürzen.
Erneut ertönte das berstende Geräusch und mit einem Mal drang helles, grünes Licht aus dem Bad. Lara riss schützend die Hand empor. Die ungewohnte Helligkeit stach in ihren Augen. Wieder bebte der Boden. Eine dicke Ranke schob sich wie eine Schlange hinter ihr an der Wand entlang. Das Mädchen blinzelte zwischen den Fingern hindurch und erschrak.
Das schreckliche Efeu hatte die Badezimmerwände wie eine Nussschale aufgebrochen. Es war durch sie hindurchgewachsen, hatte die dicken Mauern dabei zerrissen. Durch das Loch konnte Lara Bäume und Pflanzen erkennen, die überall um ihr Haus in die Höhe geschossen waren.
Sie sah den gewaltigen Urwald, zu dem die Welt geworden war.