Ein lauter Knall ließ den Sibulek aus einem traumlosen Schlaf aufschrecken. Intuitiv tastete er um sich, aber da war niemand. Mühsam drehte er den Kopf und blickte sich um. Doch so sehr er auch suchte, Yo war nirgends zu entdecken. Er war allein.
Cru seufzte. Dann stemmte er sich schwerfällig in den Sitz und lehnte seinen Rücken gegen die Steinwand. Müde rieb er sich die Augen und ließ seinen Blick eine Weile lang stumm durch den Raum gleiten. Sein Bett war zerwühlt, die Laken lagen wild verstreut auf dem Boden, eine Flügeltür des Schrankes stand offen, der Waschzuber war umgestoßen, sein Spiegel verdreht und die Kammertür vibrierte noch leicht. Er selbst saß halbnackt und verschmiert inmitten einer großen Lache getrockneten Blutes, um ihn herum verkohlte Holzstücke und Splitter, die einmal der Sims seines Fensters gewesen waren. Ihm war kalt, unsäglich kalt, und sein Körper fühlte sich an wie eine steife, taube Hülle. Sich zu bewegen, fiel ihm unglaublich schwer und seine Fingerspitzen spürte er kaum.
Als Cru sich mit einer Hand am Boden abstützte, stach ihn etwas. Yos Gürtel lag noch am Fuße des Fensters. Unwillkürlich zog er den nietenbesetzten Gurt heran und roch daran. Das Leder war getränkt von Blut und Schweiß und aus jeder Pore drang der charakteristische Geruch des Vampirelben. Mit einem tiefen Atemzug sog Cru ihn ein, dann lehnte er den Hinterkopf an die kalte Mauer und schloss die Augen.
„Es war wohl ein Fehler“, seufzte er und war doch anderer Meinung.
Seinen Freund nach all der Zeit relativ unversehrt und vor allen Dingen frei von Sünde wiederzusehen, hatte er in seinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt. Schließlich hatte er nur zu genau gewusst, dass sein Schwertbruder ihm das verhängnisvolle Versprechen an jenem Abend lediglich deshalb gegeben hatte, weil er vom Trubel der Nacht der bunten Bänder schwer genervt gewesen war. Genauso wie ihm all die Zeit bewusst gewesen war, dass Yos leichtfertiges Wort seit jeher so unbeständig wie der Wind an einem stürmischen Herbstabend und so schwach wie die nächtliche Dunkelheit bei Anbruch eines neuen Tages war. Und doch hatte er es ihm abgerungen, ihm gar in einem kurzen Moment der Ablenkung ein hellblaues Band, das er gemäß der Tradition mit einem Wunsch für seinen Gefährten verbunden hatte, ums Handgelenk gebunden. Zur Erinnerung an dessen Schwur und um an seiner statt über den Vampirelben zu wachen. Denn wenn Yos Blutdurst erst einmal erwachte, dann war sein Partner mehr wildes Tier, denn vernunftgesteuertes Wesen. Und er würde nicht da sein, wenn es geschah!
Nur wenig später hatte der Sibulek unzählige Tagesritte von seinem Schwertbruder entfernt vor seinem Zelt gelegen und die folgenden tausend Nächte in das prasselnde Lagerfeuer gestarrt. Immer in der Hoffnung, die Flammen könnten ihm seine Sorgen und die Albträume nehmen. Grausame Bilder von schrecklichen Kämpfen hatten ihn verfolgt. Ab dem dritten Winter beinahe jede Nacht. Ein ganzes Feld voller Leichen hatte ihn allabendlich mit offenen Mündern und leeren Augen voller Entsetzen angestarrt. Tapfere Krieger und unglückselige Unterhändler, aber auch unschuldige Frauen und Kinder mit anklagender Frage im Totengesicht. Kein einziger Blutstropfen war mehr in ihren bleichen, leblosen Körpern gewesen und über allem hatte ein mordlüsternes Monster gethront, das weder Gnade noch Mitgefühl kannte und nur noch schwer als sein Freund und Gefährte zu erkennen gewesen war.
Nacht um Nacht war Cru schweißgebadet aus seinen nächtlichen Träumen geschreckt. Manchmal gar schreiend oder bittere Tränen weinend. Doch so sehr er auch gehofft hatte, er mochte sich irren, so sehr er auch gewünscht hatte, dass der Vampirelb stark und willens genug war, sich nicht von seinem Blutdurst bezwingen zu lassen, so gewiss war er sich stets gewesen, dass diese nächtlichen Bilder mehr als nur realitätsferne Hirngespinste waren. Nie hatte er auch nur zu träumen gewagt, dass Yo sein flüchtiges Versprechen allen Versuchungen zum Trotz tatsächlich hielt!
Die letzte Nacht jedoch hatte all seine Befürchtungen, seine Ängste und seine trügerische Gewissheit schmerzhaft Lügen gestraft. Denn obgleich sein Partner unbeholfen schroff gewesen war und ihn rabiat bedrängt, ihn letztlich mit aller Härte gebissen hatte, wusste Cru doch, dass Yo in all der Zeit kein Blut auf diese Weise vergossen hatte. Seine tiefschwarzen, begehrlich flackernden Augen hatten es ihm verraten. Lange bevor die geistige Barriere zwischen ihnen zerbröckelt war und jeden Zweifel hinweggefegt hatte. Gierig hatten sie nach seiner Lebenskraft verlangt und ihn im gleichen Augenblick voller Demut angefleht, dieses unsägliche Gelübde von dem Vampirelben zu nehmen. Ihn endlich freizugeben!
Ein wohliger Schauer rann durch Crus Körper, da riss ihn lautes, energisches Klopfen aus den Gedanken und eine nicht minder energische Stimme drang durch die Kammertür.
„General Kanîja!?!“
Für einen Moment war er versucht, sich abwesend zu stellen. „Ja?“, antwortete er nach einer Pause dann doch. Leise und inständig hoffend, dass der Klopfende keinen Einlass begehrte.
„Ich wollte Euch nur daran erinnern, dass Ihr kurz nach Anbruch der Tagesmitte im Großen Saal erwartet werdet. Wie Euch sicher nicht entfallen ist, wird der Rat der Weisen heute den Obersten General benennen.“
Der Sibulek seufzte. Wenn das nicht Cay Rojahn war, der da vor seiner Tür stand und ihm dezent unter die Nase rieb, dass er in der Rangfolge bald eine Stufe über ihm stände. Es war kaum zu überhören, dass der Anführer der Grünen Nebel klar mit seiner Ernennung rechnete und seinen Triumph kaum noch erwarten konnte. Doch so unliebsam ihm diese Vorstellung auch war, er hatte momentan weit schwerwiegendere Probleme als dieses.
„Ihr solltet Euch also auf keinen Fall verspäten!“, tönte es fast schon drohend wieder vom Gang.
Leise antwortete Cru: „Ich werde pünktlich sein.“
Dann versank er wieder in seine Gedanken und schenkte dem Störenfried keine Beachtung mehr. Sollten sie doch ihren Obersten General benennen. Er hatte weit existenziellere Fragen zu klären. Und wie ihm schwante, waren diese nicht von der Natur, dass sich einfache Antworten auf sie finden ließen. Wenn es denn überhaupt welche gab. Der blauhäutige Mann seufzte erneut. Ein Kampf in ungewappnetem Zustand und ohne Rüstung gegen ein waffenstarrendes æhranisches Heer war einfacher zu gewinnen, als die vor ihm liegende Aufgabe zu meistern. Allein, ihm blieb keine Wahl. So zu tun, als sei nichts geschehen, war keine Option. Ein Schmunzeln zuckte um seine Mundwinkel. Es war selten, dass er nach Yos Wahlspruch handelte, doch es gab Momente im Leben, da war Angriff tatsächlich besser als Verteidigung.
Doch zuvor musste er sich erst einmal in eine angriffsfähige Verfassung bringen. Oder zumindest den Anschein einer selbigen erwecken. Seine Schwäche ignorierend stemmte Cru sich daher gegen die Wand und richtete sich langsam auf. Einen Moment wartete er, ob seine Beine sein Gewicht auch trugen, dann schleppte er sich Schritt für Schritt an der Mauer entlang zum Kleiderschrank. Zwar war ihm schon nach kurzer Strecke derart schwindlig, dass die Konturen seiner Umgebung sich zu bizarren Formen verzogen und er mehrmals wegknickte, dennoch zwang er sich eisern weiter. Sein Schrank konnte nicht mehr weit sein. Nur noch zwei, vielleicht drei Mannslängen entfernt. Machbar. Mit letzter Kraft stolperte er gegen die offene Flügeltür des hölzernen Ungetüms und klammerte sich daran fest. Er schaffte es gerade noch, nach einem der zahlreichen Hemden zu greifen, dann gaben seine Beine nach und er sank er einfach in sich zusammen.
Ein dichter, weißer Schleier verbarg selbst die nächste Umgebung vor ihm und verschluckte fürs Erste auch seine Gedanken. Was blieb, war das Gefühl der völligen Entkräftung, das er nun in jeder Faser seines Körpers spürte. Es war eigenartig, um nicht zu sagen überaus befremdlich, dermaßen erschöpft zu sein. Nach keiner noch so harten Schlacht und keinem noch so zehrenden Kampf hatte er sich je derart zerschlagen gefühlt.
„Verdammter Mistkerl“, entschlüpfte Cru ein unschicklicher Fluch.
Müde lehnte er seinen Kopf gegen das angenehm warme und weiche Holz des Möbelstücks. Ein schwaches Lächeln verzog seine Mundwinkel und er schloss die Augen. Es war seltsam. Obgleich er sich außer Stande sah, auch nur einen Finger zu rühren, und ein dumpfer, lähmender Schmerz seinen ganzen Leib erfüllte, zürnte er seinem Gefährten kein bisschen. Wirklich begreifen konnte der Sibulek dieses irrationale Empfinden selbst nicht. Nach allem, was Yo ihm angetan hatte, war es das Natürlichste auf der Welt, dass er ihm alle Unbill an den Hals und das grausamste Ableben wünschte. Zumindest aber auf Rache und Vergeltung sann. Doch nichts dergleichen kam ihm in den Sinn. Stattdessen spürte er eine tiefe Zufriedenheit in seinem Herzen, die alles andere vergessen machte und jedwede missfällige Empfindung für den Vampirelben unterband.
Yo hatte sich verändert! Als er damals davongezogen war, hatte noch der letzte Hauch wilder, impulsiver Jugend in seinen Zügen gelegen. Doch als er ihm gestern endlich wieder gegenübergestand hatte, hatte er in das Antlitz eines deutlich gereifteren, aber nicht minder ungezähmten Mannes geblickt. Ein Mann gezeichnet von Krieg und Zerstörung. Die Züge seines Schwertbruders waren markanter, seine Statur athletischer und sein Blick noch durchdringender geworden. Minimale körperliche Veränderungen, die eine enorme, geradezu erschreckende Wirkung auf ihn ausübten. Die größte Wandlung lag jedoch jenseits des Sichtbaren. Nie zuvor war er Yo so nahegekommen. Nicht nur physisch, auch seelisch, emotional. Noch nie hatte er Sätze wie „Ich habe dich vermisst“ oder gar ein „Ich will dich“ aus dem Munde des Vampirelben gehört. Und nie zuvor hatte dieser so bereitwillig die Kontrolle aus den Händen gegeben, sich einfach fallen lassen.
Als ihre Wege sich getrennt hatten, waren sie Gefährten gewesen, aneinander gebunden durch einen unbedachten Schwur und die unergründlichen Launen des Schicksals. Schwertbrüder. Freunde, auf ihre Art. Partner! Doch nun? Nun bekam alles und insbesondere das letzte Wort eine neue und bei Tageslicht betrachtet erschreckend andere Bedeutung.
Ein warmer Schauer rann über Crus Haut und er seufzte. Er hatte sein Leben schon vor langer Zeit in Yos Hände gegeben, ohne zu ahnen, welch weitreichende Folgen dies haben würde. Doch nun? Nun hielt der unberechenbare Vampirelb weit mehr in ihnen als das. Er hatte ihm in nur einer Nacht geraubt, was er äonenlang geschützt hatte und für immer verschlossen halten wollte: sein Herz und seine Seele.
Lange Augenblicke blieb der erschöpfte Sibulek regungslos sitzen. Durch gezielte Atemübungen gelang es ihm, sein aufgewühltes Inneres zu beruhigen und wieder Herr über seinen Körper zu werden. Ein paar Mal dämmerte er gar ein und nach jedem Nickerchen fühlte er sich ein wenig mehr gestärkt. Auch hatte die Welt ihren schwindelerregenden Tanz beendet und einige Wolken das helle Licht des Morgens in ein angenehmes Zwielicht gewandelt.
Crus Blick fiel auf den zerstörten Sims und er atmete geräuschvoll aus. Er brauchte eine gute Ausrede, um das zu erklären. Eine verdammt gute Ausrede! Einen kleinen Unfall und ein heruntergefallenes Brennholz oder eine vergessene Kerze nahm man ihm in Anbetracht des völlig verkohlten Eibenholzrahmens garantiert nicht ab. Nicht zu sprechen von der beachtlichen Menge Blut, die auf dem Fußboden verteilt war.
Der Sibulek atmete dreimal tief durch, dann angelte er eine frische Leinenhose aus dem Schrank und zog sich am Rande des Möbelstücks nach oben. Taumelnd, doch schon etwas sicherer auf den Beinen schleppte er sich in seine Waschnische. Das Antlitz, das er im Spiegel erblickte, sah furchtbar aus und war kaum mehr als das seine zu erkennen. Zwar hatte er erstaunlicherweise keine Verletzungen im Gesicht davongetragen, doch dicke, dunkle Schatten zierten seine müden, glanzlosen Augen. Ein fahler Hauch lag auf seinen Wangen und für einen Moment meinte Cru, sein ohnehin ungewöhnlich blasses Blau wäre gar einem aschgrauen Hautton gewichen.
Vorsichtig streckte er eine Hand nach dem umgestoßenen Zuber aus, doch er erreichte ihn nicht. Das Halt gebende Wandbrett loszulassen, wagte er aber ebenso wenig, wie er sich imstande sah, in die Hocke zu gehen. Kraftlos ließ er sich daher auf den kleinen Schemel nahe der Waschnische und seine Kleider daneben fallen. Er brauchte eine Verschnaufpause. Er fühlte sich furchtbar. Wie ein alter, gebrechlicher Mann. Dem Sterbebett leidlich entronnen. Und er roch auch so. Angewidert rümpfte Cru die Nase, dann beschrieb seine rechte Hand eine vierphasige Welle.
Mit nach oben geöffneter Handfläche deutete er auf die kleine Wasserlache vor dem Kübel und flüsterte: „Theni helva.“
Sowie sich seine Finger schlossen, kam Leben in das vergossene Nass. Als drehte man das Rad der Zeit rückwärts, floss das Wasser zum Zuber zurück und sammelte sich davor, konzentrierte sich in einer tellergroßen Lache und stieg dann empor. Ein lebensgroßes, durchsichtiges Wesen, in dessen Inneren das Wasser einem Flusslauf gleich strömte, formte sich, hielt auf ihn zu und langte nach ihm. Nur einen Augenblick später legten zwei angenehm warme Hände sich auf seine Wangen, malten feuchte Spuren hinterlassend seine Gesichtszüge nach und ein sanfter Druck unter dem Kinn hieß ihn aufstehen. Sowie er sich erhob, glitten die durchsichtigen Hände seine Arme entlang abwärts. Sanft strichen sie über Brust, Bauch und Rücken, liebkosten und belebten ihn. Cru genoss die stimulierenden Berührungen und schloss die Augen, als das konturlose Gesicht des Wesens näherkam und seine Arme ihn umschlangen. Im nächsten Moment spürte er, wie es ihn küsste und er mit Kopf und Körper in das pulsierende Nass eintauchte. Luftblasen entstanden an seiner Haut, krochen in jedes Fältchen seines Leibes und kitzelten ihn. Winzig kleine und größere, vereinzelt und in Grüppchen. Der Sibulek kannte das Spiel. Von Kindesbeinen an war ihm dieses Ritual so vertraut wie der Sonnenaufgang am Morgen.
Als er die Augen öffnete, stoben die Bläschen alle zugleich auf, rollten als prickelnde, fast schon stechende Woge seinen Leib hinauf, sammelten sich über seinem kahlen Haupt und zerplatzten zischend. Die Hände zu einem Kelch geformt fing er einen Teil des herabfallenden Wassers auf und trank es mit einem einzigen Zug aus. Dann sog er die frische, klare Luft tief in die Lungen, trat aus der Pfütze und strich sich den dünnen Wasserfilm von der Haut. Befreit atmete Cru auf und spürte, wie das nasse Element vom Bauch aus durch seinen ganzen Leib floss und ihn mit Frische und einer Prise Energie versorgte. Ein flüchtiger Blick in den Spiegel ließ ihn wohlwollend lächeln. Ja, er sah wieder ganz passabel aus. Die Spuren der Nacht waren so weit wie möglich von seinem Körper verschwunden und auch seine Hautfarbe hatte wieder einen dunkleren, vitaleren Ton angenommen.
Dass dies jedoch reine Fassade war und sein übliches Stärkungsritual dieses Mal nicht ausreichte, spürte er noch im gleichen Augenblick, da er sich seiner tropfnassen Beinkleider entledigte und nach der sauberen Hose neben dem Schemel griff. Mit einem Schlag versank sein Sichtfeld in einem schwarzen Strudel und tonlos sackte Cru auf die Knie. Die Arme fest um die Sitzfläche des Hockers geklammert kämpfte er darum, die Überreste seines Abendmahls bei sich zu behalten. Wie lange er so da hing, wusste der Sibulek nicht zu sagen, doch schlussendlich war sein Wille stärker als sein Körper. Mit einiger Anstrengung gelang es ihm, in die Hose zu schlüpfen und sich den Schemel vor die Wand zu ziehen, dann endlich saß er und konnte sich anlehnen. Verschnaufen. Ausruhen. Ein bissiges Lächeln huschte über seine Lippen, so unglaublich dämlich kam er sich einen Moment vor.
Dann jedoch schweifte sein Blick wie von etwas Magischem angezogen erneut zum Fenster und die helle Morgenröte vor seinen Augen verwandelte sich in das dunkle Karmin der Dämmerung durchzogen mit Schlieren tiefen Violetts, vor denen die Umrisse der Gestalten auf dem Sims sich nur allzu deutlich abzeichneten. Unfähig, die Erinnerung zu unterdrücken, sah er dem Schattenspiel eine Zeit lang zu, hin- und hergerissen zwischen Wohlbehagen und Entsetzen. Schon nach Kurzem war der Sibulek das emotionale Auf und Ab leid und schüttelte schnaufend den Kopf, um diese Gedanken zurückzudrängen. Sein Körper jedoch hatte ein eigenes Gedächtnis und bescherte ihm eine intensive Gänsehaut.
Cru seufzte. Wann hatte er begonnen, so zu fühlen? Er wusste es nicht. Bis zum gestrigen Abend hatte er nie bemerkt, dass solche Empfindungen, solch ein Abgrund in ihm schlummerten. Nicht für einen Wimpernschlag war ihm je in den Sinn gekommen, Yo körperlich nahe sein zu wollen. Ihn berühren, gar küssen zu wollen! Lächerlich, absurd und völlig undenkbar war dies bis letzte Nacht gewesen. Und doch mussten all diese Gefühle, denen er gestern so bedenkenlos freien Lauf gelassen hatte, lange Zeit unbemerkt in ihm geschlummert haben. Sehr lange Zeit.
Gedankenverloren strich Cru über die Bisswunden am Hals und noch im selben Wimpernschlag durchdrang ihn ein glühender Schmerz, der seinen ganzen Körper durchzog und sich bis tief in seine Gedärme fraß. Als wäre er zurückversetzt in jenen Moment, fühlte er den heißen Atem des Vampirelben im Nacken und dessen glühende Hände, aus deren Griff es kein Entrinnen gab. Er spürte Yos scharfe, spitze Zähne, wie sie sich unaufhaltsam ihren Weg in sein Fleisch bahnten und seine Lebenskraft anzapften. Und so wenig er die Schmerzen letzte Nacht gespürt hatte, so heftig zogen und rissen sie jetzt in ihm. Ein gequältes Keuchen entrang sich Cru. Am Boden kauernd presste er eine Hand fest an den krampfenden Bauch, die andere auf die wie Feuer brennende Wunde, und machte sich so klein er konnte.
Warum, um alles in der Welt, hatte er das zugelassen? Das war hochgradig lebensgefährlich gewesen. Blanker Irrsinn! Er musste von allen guten Geistern verlassen gewesen sein! Warum hatte er Yo nicht aus dem Fenster gestoßen? Warum hatte er das Band des Schwures gelöst, anstatt darauf zu beharren? Und warum hatte er sein uraltes Gelöbnis, dem Vampirelben niemals auch nur den Hauch einer günstigen Gelegenheit für einen derartigen Übergriff zu bieten, gebrochen? Wie hatte er nur so unverantwortlich leichtsinnig, so gnadenlos dämlich sein können? Die Augenlider fest zusammengepresst schüttelte Cru wieder und wieder den Kopf. Widerstreitende Gedanken und Gefühle tobten in seinem Inneren und im Moment verstand er sich selbst nicht.
Das Feuer war vorüber, der Rauch hatte sich gelegt und was blieb, das konnte er nicht so recht einordnen. Zwar fühlte er sich durch den hohen Blutverlust und die allmählich abklingenden Schmerzen noch immer betäubt und im wahrsten Sinne des Wortes ausgesaugt. Dennoch konnte er einfach nicht leugnen, dass der Biss seines Partners eine außergewöhnliche, einmalige Grenzerfahrung auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod gewesen war. Einerseits beängstigend, doch andererseits derart berauschend und zugleich seltsam befreiend. Ein überwältigender, ekstatischer Sinnestaumel. Eine Nacht für die Ewigkeit. Eine Nacht wie im Fieber.
Ein Fieber, das allem Anschein nach noch anhielt und ihn in Bälde um den Verstand brachte, wenn er es nicht schaffen sollte, seine Gedanken auf irgendetwas Anderes zu lenken. Doch wie, wenn ihn jeder einzelne Atemzug schmerzhaft erinnerte? Wenn der Geruch von Kohle, Blut und Schwefel schwer wie ein bleiernes Leichentuch auf allem lag. Wenn alles in diesem Raum und jede Faser seines Körpers den Namen seines Partners schrie. Wie konnte er dem entrinnen, was allgegenwärtig war und was ihn im Innersten erfüllte?
Doch noch etwas Anderes arbeitete in ihm. Beharrlich kämpfte es sich durch den Wirrwarr seiner Gedanken und lenkte diese in immer dunklere Bahnen. Yo hatte in seinem Bett geschlafen. Allein. Ihn hatte er einfach auf dem Boden liegen lassen. Keine Decke, kein Schutz. Nichts. Die Mitternachtskälte hätte sein Schicksal besiegeln können. Und vielleicht sollte sie das auch. Noch vor dem letzten Schrei des Gragals war sein Partner gegangen. Ohne Erklärung oder Entschuldigung. Überhaupt ohne ein einziges Wort. Yo hatte ihn einfach zurückgelassen. Vielleicht sogar zum Sterben.
Crus Mundwinkel begannen zu zucken und tiefe Furchen bildeten sich auf seiner Stirn. Konnte er dem nächtlichen Trugbild seiner Augen wirklich Vertrauen schenken oder war er einer fatalen Sinnestäuschung erlegen? Hatte sein Gefährte sich tatsächlich so sehr verändert oder war nur sein Wunsch Vater dieses irrigen Glaubens? Was wenn die Sehnsucht nach dem fehlenden Bestandteil seines Lebens unbemerkt so groß geworden war, dass sie ihn hatte Dinge sehen lassen, die so nicht wirklich waren? Was wenn der Vampirelb diesen Anflug von Schwäche, diesen Moment der Unsicherheit einfach nur ausgenutzt hatte, um endlich das zu bekommen, was er seit ihrer ersten Begegnung so sehnlichst begehrte?
Energisch schüttelte der aufgewühlte Mann den Kopf und lehnte die rechte Schläfe gegen die kalte Mauer. Nein, so viel rege Fantasie traute er sich beim besten Willen nicht zu. Wollte er sich einfach nicht zutrauen. Gedankenspiele wie dieses brachten ihn kein Stück weiter. Er musste einen klaren Kopf behalten. Denn gleich ob Wunschdenken, perfides Spiel oder was auch immer, das Geschehene war kein Hirngespinst und im Augenblick gab es nur eine einzige wichtige Frage: Was sollte er jetzt tun?
Langsam und leise wie ein Raubtier auf Samtpfoten beschlich ihn das bange Gefühl, ihre uralte und auf ihre eigene Art tiefe Freundschaft konnte an dieser einen Nacht ernsthaften Schaden nehmen oder gar an ihr zerbrechen. Ein Gedanke, der dem Sibulek unerträglich schien und ihm sprichwörtlich den Boden unter den Füßen wegzog. Selten hatte er sich so rat- und hilflos gefühlt. Wie ein Kind, das nicht wusste, wohin mit sich und der Welt und kurz davorstand ...
Mit einem tiefen Atemzug schloss Cru die Augen, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf, legte die linke Hand auf die zur Faust geformte rechte und bettete Mund und Nase darauf. Dann summte er eine dunkle, langsame Melodie und sprach unvermittelt in den Raum hinein.
„Paį menħa, jin dara me. Doc minħa, avverta donte me. Lavos monħo, ayodaro me.“
Einer Formel gleich wiederholte er diesen Spruch. Immer und immer wieder. Leise. Andächtig.
„Vater mein, gib mir Kraft. Mutter mein, schenk mir Weisheit. Ahnen mein, steht mir bei.“
Nicht lange und Stille kehrte in seinen Kopf und sein Herz ein. Legte sich wie ein schützender Mantel über ihn. Umhüllte und erfüllte ihn. Wärmte ihn. Vor seinem geistigen Auge sah der Sibulek die gutmütig lächelnden Augen seiner Mutter. Er vernahm die ermunternden Worte jener, die er vor langer, langer Zeit verloren hatte. Und er spürte die stärkenden Hände seines Vaters auf den Schultern.
Als er nach langen Momenten die Augen wieder öffnete, wusste Cru um den Weg, Antworten auf all seine Fragen zu erhalten. Er war nur eine Seite der Medaille. Die andere war sein Partner. Er musste wissen, was dieser dachte, wie der Vampirelb fühlte, wollte er seinen inneren Frieden wiedererlangen. Um Yos und seiner selbst willen: Er würde eine Möglichkeit finden, mit ihm darüber zu reden!
Mit diesem Entschluss stand Cru auf und ging gemächlichen Schrittes zu dem kleinen Schreibschrank aus schwarzbeschlagenem Margoiholz, der nahe dem Fenster zum Burghof stand. Er öffnete die oberste Schublade und zog einen kleinen nachtsamtenen Beutel aus dem integrierten Geheimfach. Vorsichtig legte er etwas von dem darin befindlichen, in ein speckiges Ledertuch gehüllten dornigen Rankenbüschel samt einem Gefäß von der Größe eines Fingerhutes und drei lilafarbenen, leuchtenden Kügelchen auf die Schreibplatte. Dann stach er sich eine unbenutzte Schreibfeder in die Kuppe des rechten Mittelfingers und drückte drei Tropfen Blut in den kleinen Becher. Langsam und nicht ohne sich am Schrank festzuhalten, ging der Sibulek in die Knie, öffnete die mittlere sowie die unterste Schublade und zog aus ihnen Beutelchen von ähnlichem Aussehen und Inhalt. Die feingliedrigen und länglichen, pergamentartig durchscheinenden Blätter legte er zur Rechten der Kügelchen ab, die getrocknete Wurzelknolle zur Linken des Gefäßes.
Als alles an seinem Platz und das Übrige wieder verstaut war, trat der Sibulek bis in die Mitte des Raumes zurück, schloss die Augen und flüsterte: „Akva theni, urok ervha sîlħa. Envokara me.“
Noch ehe er geendet hatte, rollten die im Raum zerstreuten Wassertropfen auf ihn zu, sammelten sich vor seinen Füßen und manifestierten sich erneut in Gestalt eines Wesens. Ein Fingerzeig hinter sich, dann wandte er sich ab und hielt wieder auf seinen Kleiderschrank zu. Das geheimnisvolle Knistern und Zischen in seinem Rücken bedeutete ihm, dass Theni sich ans Werk gemacht hatte, und nur wenige Augenblicke später zogen Dampfschwaden durch den Raum und trugen einen süßherben Geruch an seine Nase.
Cru lächelte. Feuerdost war doch eine erstaunliche Pflanze. Ein unscheinbares, stacheliges Gewächs, das nur in kargen, felsigen Gegenden fernab der Zivilisation gedieh und bei Kontakt mit Wasser sofort Feuer fing. Weiße, heiße Stichflammen, die schon so manch unvorsichtige Hand verbrannt hatten und allein mit Blut zu löschen waren. Vermengt mit den Blättern des kriechenden Geisterfarns entstand mit der richtigen Rezeptur ein starkes Potentia, das die Wirkung von Heilkräutern wie Achtherzwurz massiv steigerte. Ein mächtiges Elixier, das dem Vernehmen nach selbst Totgeweihte wieder genesen lassen konnte, allerdings ebenso schnell zu einem hässlichen Tod führte, wenn man nicht zur rechten Zeit den richtigen Mittler nutzte. Doch darum brauchte er sich keine Gedanken machen. Sein Trank war ihn kapablen „Händen“.
Worüber er sich durchaus Gedanken machen sollte, war seine Aufmachung. Er war keineswegs in der Verfassung, sich heute mit dem Rat anzulegen, also wollte er den Neun Weisen auch nicht den geringsten Anlass bieten und das Protokoll peinlichst genau befolgen. Die alten Herren zitierten ihn sowieso noch vor sich, sobald sie Wind davon bekamen, dass er ihren direkten Befehl, Yo sofort zu ihnen zu schicken, vorsätzlich missachtet hatte. Und da er wusste, wie viel Wert die Mitglieder des Gremiums auf ein ordentliches, angemessenes Erscheinungsbild der Generäle legten, suchte der mitgenommene Heerführer sorgsam alle Einzelteile seiner Ratskleidung zusammen. Dann schob er den Schemel vor seinen lebensgroßen Spiegel, legte alles vorsichtig darauf ab und betrachtete sein Ebenbild.
Ein erschreckender Anblick, den er hoffentlich zum letzten Mal sah. Einmal mehr dankte Cru mit einem stummen Stoßgebet seinen Selbstheilungskräften, ohne die er den Gefühlsausbruch seines Gefährten mit Sicherheit nicht überlebt hätte. Der Heftigkeit dieser Attacke zum Trotz waren sie stark genug, dass er sich zwar etwas wackelig, doch immerhin auf seinen eigenen zwei Beinen halten konnte. Wenn er sich noch etwas anstrengte und mit der Hilfe des schon verführerisch duftenden Heiltrankes, schaffte er es vielleicht sogar, einen halbwegs normalen Eindruck zu vermitteln, ohne dass ihm jeder die mörderische Nacht sofort an der blauen Nasenspitze abzulesen vermochte. Zumindest hoffte er das inständig.
Sorgfältig richtete der Sibulek sein schief hängendes Hemd, strich die kleinen Falten heraus und schlug den Kragen auf. Zu seiner großen Erleichterung konnte er die Wunde am Hals damit vollständig verbergen. Mit langsamen, überlegten Griffen und unter Vermeidung allzu schneller Bewegungen, tauschte er die geliebten Beinkleider aus leichtem Leinen gegen die schwere Hose aus gegerbtem Leder, zog das Hemd fein säuberlich hinein und schloss die Knöpfe der steifen Manschetten.
Dass Yo sich auch die Mühe machte, sich ordnungsgemäß zu kleiden, bezweifelte Cru. Sein Schwertbruder hatte schließlich nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine Uniform regelrecht hasste! Mit zuverlässiger Regelmäßigkeit artete es jedes Mal in wüste Flüche und Verwünschungen aus, wenn sein Freund die Ehrenkleidung anlegen musste.
‚Hoffentlich benimmt er sich nicht allzu auffällig‘, dachte er besorgt, als er die silberne Brokatweste überstreifte und glattzog.
Der Sibulek glaubte, nur zu gut zu wissen, was ihnen blühte, sollte je jemand von der vergangenen Nacht erfahren. Nicht nur dass die engstirnigen, religiösen Moralvorstellungen dieses Landes keine ihrer Handlungen duldeten und sie mit Sicherheit als unzüchtig und widernatürlich stigmatisierten. Auch das wahre Wesen des Vampirelben käme dann unweigerlich ans Licht. Und so mächtig Yo auch war, könnte dies seinen Gefährten unter Umständen sogar das Leben kosten. In Zeiten wie diesen waren Menschen schon wegen weit weniger kapitaler Verbrechen zum Tode verurteilt worden. Und so manch mächtiger Magier oder vermeintlich überlegenes Wesen war schon der Lynchjustiz eines wütenden Mobs zum Opfer gefallen.
Seufzend zwang Cru sich in die blank polierten, glänzenden Kurzstiefel mit leichtem Absatz und griff nach der schweren Samtjacke, die denselben Schwarzton wie die Hose besaß und allen drei Generälen gleich war. Die Ideologie dieser zeremoniellen Kleidung beabsichtigte, sowohl die Eigenständigkeit der drei Heere als auch ihre Einheit und Einigkeit zu symbolisieren. So trugen alle Anführer die gleichen Beinkleider, Hemden und Jacken, unterschieden sich aber in der Farbe der Weste, der Handschuhe und der Insignien am Revers. In seinem Fall bedeutete das ein Wechselspiel aus Schwarz und Silber, was sich glücklicherweise nicht mit seiner Hautfarbe biss. Wenn er ehrlich war, sah es sogar recht galant aus. Was dem Ganzen allerdings die Krone aufsetzte und eine eigentlich imposante Uniform ins Lächerliche zog, war das farblich zur Weste passende Stirnband, auf das seltsamerweise besonders viel Wert gelegt wurde. Genau wie auf die korrekte Anordnung der Insignien und Ketten der Heerführer, die der Sibulek nun gewissenhaft überprüfte und richtete, während er bedächtigen Schrittes durchs Zimmer wandelte.
Aus für ihn unerfindlichen Gründen waren solche und andere Kleinigkeiten ebenso wie viele gesellschaftlichen Gebote und Anstandsregeln nicht nur hier am Hofe des Regenten penibel vorgeschrieben, sondern tief im Glauben der Menschen Lanois verwurzelt. Und auch wenn er diese Religion, die ihren Kindern die geistige Freiheit verwehrte und ihre Anhänger mit drastischer Sühne und drakonischen Strafen maßregelte, noch immer nicht ganz durchschaut hatte, der moralischen Zwänge, die sie auferlegte, und der Folgen ihrer Missachtung war er sich inzwischen bewusster als ihm lieb war.
Ein letzter prüfender Blick, dass er auch ja nichts vergessen hatte und alles ordentlich saß, dann nickte Cru seinem deutlich ansehnlicheren Ebenbild bestätigend zu. Im Spiegelglas sah er Theni mit einer gespenstisch funkelnden, rubinroten, dampfenden Flüssigkeit in den zu einer Schale geformten Händen auf sich zukommen. Der verlockend süße Duft des Trankes ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen, doch schon den ersten Schluck hätte er reflexartig beinahe wieder ausgespuckt. Den abstoßend bitteren und ranzigen Geschmack des Elixiers hatte er in den letzten dreihundert Wintern, die er dieser Hilfe nicht mehr benötigt hatte, völlig verdrängt. Nur mit Mühe gelang es ihm, sein Ekelgefühl zu unterdrücken und das widerliche Gebräu nach einigen Atemzügen hinunterzuschlucken. Was blieb war ein pelziges, taubes Gefühl im Mund und ein staubtrockener, metallischer Geschmack auf der brennenden Zunge. Die ihm dargebotene Neige gänzlich auszutrinken, kostete denn auch einiges an Überwindung, doch die Aussicht auf einen Zusammenbruch vor aller Augen im Ratssaal schreckte Cru mehr als dieser Trank. Wortlos wischte er sich den Mund ab und nahm noch einen großen Schluck frischen, klaren Wassers aus den Händen seines Elementes.
„Danke, Theni“, sprach er zu der Wassergestalt und berührte sie mit den Fingerkuppen, worauf sie zerfloss und sich erneut in den Zuber zurückzog, während der Sibulek sich zum Gehen wandte.
Den Türgriff in der Hand warf er erneut einen Blick zum Fenster. Noch immer war dieses verrußt und zerstört. Noch immer waren die große Blutlache und die ihr entspringende Blutspur deutlich zu sehen. Und noch immer roch alles nach Tod und Zerstörung. Der ungehindert in seine Kammer fallende helle Sonnenschein tauchte jedoch alles in ein warmes Licht und verströmte eine seltsam beruhigende Zuversicht. Diese Ruhe und Wärme in sich aufnehmend schloss Cru die Augen und atmete noch ein letztes Mal tief durch, um seine Zerschlagenheit endgültig abzuschütteln. Sein Geist hatte über die Ankleideprozedur, für die er mehr als zwei Sandgläser benötigt hatte, vorerst Frieden gefunden. Er konnte wieder rationale, klare Gedanken zu fassen, seine besonnene Selbstsicherheit war in großen Teilen zurückgekehrt und sogar ein Lächeln stahl sich auf seine blassblauen Lippen.
‚Besser ich lasse Petyr den Rahmen ersetzen, bevor eine der Mägde etwas bemerkt.‘
Ein Wink mit dem rechten Arm und ein Fingerschnippen, schon ergoss sich das Wasser aus dem Kübel in der kleinen Waschnische auf den Boden, floss zum Fenster und von dort zu seinem Bett. Sprudelnd bauschte es sich auf, wusch sämtliches Blut von den Steinen und hinterließ nichts als glänzende Sauberkeit.
„Theni nathi, akva vola“, flüsterte er leise, worauf sich das Wasser in Nebeltau verwandelte und wirbelnd durch die Fensteröffnung entschwand.
Langsamen, doch festen Schrittes und zuversichtlich machte Cru sich auf den Weg zu seinem Adjutanten, um dort noch eine kurze Rast einzulegen und dann gemeinsam mit ihm pünktlich zur Verkündung des Rates zu erscheinen.