Neujahrsironie
Bleischwer begrub die scheinbar ewig weite und ebenso unzerstörbare Wolkendecke schon seit Wochen die ganze Region unter ihrer Last. Dort, wo auf Neujahrsfeiern und Familienessen kleine Schokoladen Schornsteinfeger und billige Marzipanschweine unter dem immer gleichen Lächeln begleitet von den ewig selben Worten hin- und hergereicht wurden, so verschenkte der trostlos graue Himmel großzügigst Winterdepressionen als müsse er sie dringend alle losgeworden sein, bevor sich auch nur ein Sonnenstrahl auf die Erde verirrte.
Irgendwo war es ironisch, dachte sich Chloe und lachte diese Art von, beinahe schon verzweifeltem, Lachen, das nur von dem noch übertroffen werden konnte, der, eingeschlossen zwischen zwei erdrückend schwarzen Höllenschlunden, nackt auf Messers Schneide tanzte, während Satan höchstpersönlich eine Finger um des Tänzers Fußgelenke schloss. Irgendwie war es ironisch, die Welt jedes Mal aufs Neue so zu sehen, als würde niemand etwas lernen, geschweige denn verstehen.
So hatte sich doch das Wolkenmeer in der gestrigen Nacht zumindest schon soweit erhoben, dass die bunten Funken der Feuerwerkskörper die ganze Stadt erhellen konnten und somit wenigstens etwas mehr als bloßen Lärm mit sich gebracht hatten, doch nun, nur wenigen Stunden nachdem das letzte Knallen und Zündeln Vergangenheit geworden war, erfüllte die Straßen eine umso erdrückendere Leere und Chloe beschlich immer mehr das Gefühl, in diesem Drecksloch zu ersticken.
Sie atmete schwer und legte ihren Kopf nach hinten, in der lächerlichen Erwartung der aus Wasserdampf gefertigte Stahlsarkophag über ihrem Kopf würde nur aus Erbarmen ihr gegenüber sein eisernes Schweigen brechen und in einem Schwall erlösendem Wasser all den Dreck, der die Straßen und Wege säumte, einfach hinfort spülen. Stattdessen ging ein schwacher Windhauch durch die viel zu milde Luft und rüttelte kläglich an den Überresten eines China-Böllers, bevor er unverrichteter Dinge wieder im Nichts verschwand.
Es war doch irgendwie ironisch.
Aber war es das nicht schon immer gewesen, fragte sie sich. Ein Zeichen von Hoffnung, das Versprechen von Freude, der Blick in eine wunderschöne Welt, aber sobald man danach greifen wollte, würde es sofort wieder verschwinden. Ein wenig wie diese Streiche, die man Kindern wie ihr früher auf dem Pausenhof gespielt hatte; „Möchtest du mitspielen?“ „Ja, gerne.“ – „Darfst du aber nicht.“ Irgendwie lustig, nicht wahr?
Und die Menschen dachten nie. Als würde ein Überlastung der Hirnströme und Empathieempfindens unweigerlich zur größten anzunehmenden Katastrophe führen; „Denkanstrengung schuld an Supergau, tausende Hektar Land von Empathie verstrahlt“. Sie lachte erneut, obwohl da eigentlich nichts Lustiges zu finden war.
Alles in Allem, war es doch irgendwie ironisch. War es nicht ironisch, dass sie jetzt auch jetzt wieder in einer Flut von Gedanken in ihrem Inneren ertrank, obwohl nach dem vergeblichen Versuch hinein in die Welt des Schlafs zu finden, ein Spaziergang eben diese Gedanken hätte ertränken sollen und nicht die Gedanken sie? War es nicht ironisch, dass die Menschen jedes Jahr, jeden Tag aufs Neue die ewig gleichen Fehler machten, trotz des Schwures stets daraus zu lernen und abertausenden von guten Vorsätzen? War nicht alles irgendwo ironisch? Und das ganz besonders an einem Tag wie heute, der ebenso wie jeder andere auch in Gleichgültigkeit vorüberziehen werden würde und dennoch in Empfang genommen wurde als wäre er der Beginn einer neuen Epoche des Menschen? Sie wusste es nicht, hatte sie schon lange keine Antworten mehr auf ihre unzähligen von Fragen finden können.
Kopfschüttelnd begann Chloe breit zu grinsen und aus dem Grinsen wurde ein lautstarkes Lachen, das ewig weiter hätte anschwellen können bis es ganze Hausfassenden zerrissen, tektonische Platten auseinandergebrochen und die ganze Welt in Bruch gelacht hätte, wenn es nicht immer mehr zu einem Weinen geformt hätte. Ein verzweifeltes Schluchzen, getrieben von einem Chaos in ihr, das sie selbst schon lang nicht mehr verstand. Sie wollte es herausweinen, herausschreien, zerstören und entwirren zu gleich. Sollte sich doch endlich einmal etwas wirklich verändern und gleichzeitig so bleiben wie es war, denn alles andere würde ihre nur Lungen nur weiter mit dem giftigen Gas der Angst füllen, niemals genug sein zu werden.
Und sie weinte und sie schluchzte. Und währenddessen hatte es zu regnen begonnen.