Dunkle Wolken
In diesem Sommer brauten sich dunkle Wolken über der Welt zusammen und schließlich brach Krieg aus. Der Feind drang schnell und unbarmherzig vor und schon schien das ganze Land bedroht. Schließlich gelang es, unter Aufwand der letzten Kräfte den Vormarsch zu stoppen. Und dieser Vormarsch kam dort zum Halt, wo sich ihre Heimatstadt befand. Sie verlor den Kontakt zu ihrer Familie und erfuhr erst Monate später vom Artilleriebeschuss, der ihr Elternhaus, wie die halbe Stadt in Trümmer legte und ihre Eltern darunter begrub. Marie fühlte sich ohnmächtig in ihrer Wut und Trauer. Schließlich zog sie zu einer Tante, etwas entfernt von der Front und aber näher an dem, was sie verloren hatte. Um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen, begann sie dort nun Schüler zu unterrichten, deren Lehrer in den Krieg gezogen waren
Nicht weit von der kleinen Stadt, in der ihre Tante wohnte befand sich ein Feldflugplatz. Marie konnte ihn gut mit dem Fahrrad erreichen und so fuhr sie immer wieder dort hin und beobachtete den Flugbetrieb. Bei jedem Abflug hoben ihre Träume mit ab und es war ihr ein Trost in dieser Zeit, ihre Gedanken mit den Fliegern zu schicken. Es machte ihr außerdem Mut, zu sehen, wie diese Männer sich einsetzten, um ihr Land zu verteidigen und in ihr wuchs der Wunsch, sie darin zu unterstützen.
Die Soldaten ihrerseits wurden bald auf die junge Frau aufmerksam und sie freundeten sich mit ihr an. Es war nicht nur ihr freundliches Wesen, es war ihnen eine Freude und ein Bedürfnis über das was sie taten und was sie täglich beschäftigte mit einer jungen Frau reden zu können. Viele trauten sich mit einer Frau offener darüber sprechen was sie belastete, über die Sorgen, die sie mit sich trugen und darüber wovor sie Angst hatten. Ihre Frauen und Freundinnen befanden sich ja oft sehr weit weg – und viele Soldaten waren froh, überhaupt mit einer Frau sprechen zu können. Gleichzeitig schätzten sie es, ein Gegenüber auf Augenhöhe zu haben – denn sie kannte sich ja mit dem Fliegen aus und teilte ihre Leidenschaft dafür.
Es dauerte auch nicht sehr lange, bis die Piloten ihr das Angebot machten, doch einmal mitzufliegen, es gab ja genügend ungefährliche Routine- oder Verbindungsflüge. Schließlich trauten sie ihr sogar zu, selbst zu einmal fliegen.
Marie verbrachte nun fast jeden Tag an „ihrem“ Flugplatz und viele der Soldaten wurden ihr gute und enge Freunde. Schließlich meinte sie sogar, ein Stück von dem zurück zu bekommen, was sie so schmerzlich verloren hatte - eine Familie – mit lauter „Brüdern“ zwar- aber ein Ort mit Menschen, denen sie sich verbunden fühlte.
Die Vorgesetzten durften davon natürlich nichts wissen -aber eine Familie hält zusammen.
Mit der Zeit wurde es nun immer selbstverständlicher, dass Marie Flüge übernahm solange sie ungefährlich erschienen. Es blieb aber nicht lange aus, da begegnete sie in der Luft einem feindlichem Flugzeug. Es hielt auf sie zu und nahm sie unter Beschuss. Marie schaffte es mit gewagten Manövern und knapper Not zu entkommen und sie landete unbeschadet auf dem Stützpunkt. Zu ihrer Verwunderung war es weniger die Angst, die sie in diesen Momenten bestimmte, es war eine nie gekannte Art der Erregung, ja fast ein Rausch und dennoch konnte sie ungewöhnlich klar denken und fokussiert handeln. Marie hatte nun immer wieder solche Begegnungen während ihrer Flüge und sie ergriff nun nicht mehr die Flucht, sie suchte sie förmlich. Sie merkte, dass sie eine gewisse Gabe hatte, die Flugmanöver der Feinde vorauszuahnen und so fühlte sie sich in diesen Duellen immer sicherer, ja es gab Situationen, da spielte sie mit ihren Gegnern. Schließlich begann sie das Maschinengewehrfeuer zu erwidern. Es löste in ihr fast ein Hochgefühl aus, sich nach einem kurzen „Balgen“ der Flugzeuge in der Luft, hinter den Feind zu klemmen und ihn mit einigen Salven in die Flucht zu treiben. Sie fühlte sich in solchen Momenten mächtig, unverwundbar, ja fast euphorisch. Ihre Kameraden entwickelten einen großen Respekt, ja Hochachtung vor ihren Fähigkeiten.
Der Standortkommandant, der Marie sehr schätzte aber das Geschehen vor seinen Vorgesetzten zu verbergen suchte – ein weiblicher Kampfpilot, eine Frau im Kampfeinsatz – das war undenkbar, nicht verhandelbar, in der glorreichen französischen Armee nicht vorgesehen – gab ihr zur Tarnung eine Stelle in der Standortküche. So konnte sie ihre Stelle an der Schule aufgeben und bekam ein Dienstzimmer, eine winzige Kammer auf dem Stützpunkt zur Verfügung gestellt und sie konnte jeden Tag fliegen. Natürlich wurde sie nie in der Küche gesehen. Marie trug die Haare nun kurz, um unter den anderen Piloten nicht aufzufallen – wenn doch jemand unangemeldet zur Inspektion kam.
Marie identifizierte sich immer mehr mit ihrer Rolle als Soldat und so begann sie in den Luftkämpfen „ernst“ zu machen. Sie verteidigte ihre Heimat, sie wollte Vergeltung für die Vernichtung ihrer Stadt, ihrer Familie. Und so begnügte sie sich nicht mehr, die Gegner aus dem Luftraum zu vertreiben, sie verfolgte sie und schoss sie vom Himmel. Jeder Feind, der zu Boden musste war ihr Genugtuung. Und sicher waren viele dabei, die nie mehr aufstanden und das war gut so.
Der Krieg indes ging weiter und es war kein Ende abzusehen. Immer wieder gab es nun auch Luftkämpfe, in denen sie es nicht schaffte, den Gegner niederzuringen, Kämpfe, aus denen sie nur mit knapper Not davonkam.
Immer mehr der Kameraden, die ihre vertrauten Freunde waren kamen von ihren Einsätzen nicht mehr zurück. Es kamen dafür viele neue, junge Piloten, für die war sie aber nicht mehr die junge offene Frau die ihnen zuhörte sondern eine Institution, ein Mysterium – keine Freundin. Gerade die jungen Piloten, kaum drei, vier Jahre jünger als sie, waren auch diejenigen, die am schnellsten vom Himmel fielen. Marie veränderte sich, so wie der Krieg alle veränderte. Die Routine des Tötens und Sterbens, die Ängste, die jetzt in unpassenden Momenten hervorkrochen, die Ermüdung angesichts der Unveränderlichkeit. Die Faszination des Fliegens war verflogen, sie war einem bleiernen Gefühl der Pflichterfüllung gewichen, einer abgeklärten Vorsicht, das eigene Leben nicht unnötig zu riskieren. Marie musste sich immer mehr zusammennehmen, zusammenhalten um das alles zu ertragen, sie wurde schweigsamer und teilte mit ihren Kameraden immer mehr Flaschen Wein und Branntwein und Zigaretten um für Momente die Seele, den Mund und die Ohren zu öffnen. Manchmal lächelte sie immer noch, manchmal, wenn sie allein war, überkam sie ein unkontrollierbares Zittern.
Sie konnte froh sein, dass sie nie bei den Kommandos dabei war, die die Absturzstellen nach den Luftkämpfen inspizierten, die zerstörten, entstellten, manchmal verbrannten Reste der Körper identifizierten, die einmal ihre Freunde waren– oder ihre Feinde.