Ein bitterer Frieden
Als die Lage ans Unerträgliche grenzte, als man sich auf das Durchhalten in einem weiteren trostlosen Winter einrichtete, kam die Nachricht, dass der Feind aufgab. Der Krieg war gewonnen. Marie wusste kaum, was sie fühlen sollte, sicher sie schloss sich dem unmittelbaren Jubel der Kameraden an – wer jetzt noch lebte, durfte es bleiben, vielleicht alt werden – ihr kam aber auch der Gedanke, dass ihr Weg nun zu Ende war. Sie, die Kriegsheldin, die Soldatin, die Kameradin, durfte nicht länger sein. Und so kündigte eine Küchenkraft auf einem französischen Militärflugplatz, zog zu ihrer Tante in die nahe Stadt und unterrichtete wieder Kinder. Zu viele Lehrer kehrten nicht mehr in ihre Schulen zurück und sie wurde nun gebraucht um Frankreichs Zukunft aufzubauen.
„Ja, Jacques und nun bin ich hier, eine Lehrerin, alleine mit meiner Tante, meinen Familien entrissen. Verlassen, ausgebrannt, ich bin so hart geworden. Ich zittere immer noch, wenn ich alleine bin. Und du fragst mich nach den Männern?!“ Marie weinte. „Marie, das tut mir leid, vieles habe ich so noch nie gesehen, vieles habe ich so nicht gewusst.“ Und er nahm sie in den Arm und versprach ihr, dass er diejenigen, die noch lebten zusammenholen wolle, dass sie immer noch einen Teil ihrer Familie hätte. Er erzählte ihr, dass er diese Veränderung im Kriege ganz ähnlich erlebt hätte, dass er auch immer noch zu viel Wein bräuchte, dass er zu Hause manchmal auf seine Kinder und seine Frau losging, obwohl er es nicht wollte – „die Nerven sind schwach geworden in den Jahren“. Und dann er erzählte weiter: „Weißt du, ich arbeite zurzeit auf dem Flugplatz der Engländer, der unserem benachbart war. Der wird im Moment abgebaut und dort brauchen sie Verbindungspersonal. Und weißt du, ich habe das Gefühl, die ticken völlig anders als wir. Die sahen den Krieg anscheinend als sportlichen Wettbewerb. Einer von ihnen hat einen deutschen Piloten eingeladen, einen hochdekorierten Offizier, einen dieser bornierten preußischen Adligen. Weißt du, wie viele der von uns auf dem Gewissen hat? Er soll nächste Woche kommen.“ Er erregte sich zunehmend über diese Geschmacklosigkeit der Briten.
Es war spät am Abend, als Jacques ging und er ließ Marie aufgewühlt zurück. Natürlich hatte sie sich über seinen Besuch sehr gefreut – aber die ganzen Erinnerungen ließen ihr keine Ruhe – und dann noch die Geschichte mit dem Deutschen. Es arbeitete in ihr. Marie konnte die Nacht wieder nicht schlafen und sie scherte sich ihre Haare kurz.
Am Tag, für den der deutsche Besuch angekündigt war fuhr mit ihrem Rad zu diesem Flugplatz. Sie ging den Briten aus dem Wege und suchte Jacques. Sie standen etwas abseits, als ein Handvoll alkoholisierter Männer aus dem Zigarettenqualm des Standortkasinos kam. „Ist er das?“ fragte Marie. „Ich glaube schon“ erwiderte Jacques. „Was machen sie den jetzt? Wollen sie ihn noch fliegen lassen?“ Marie war entsetzt. “Jacques, das darf nicht sein, ich durfte seit einem halben Jahr nicht mehr fliegen und diesen Boche heben sie in ein Flugzeug?!“ Jacques war selbst entsetzt. Nachdem der Deutsche abgeflogen war und die Engländer wieder ins Kasino gegangen waren, sagte Jacques: „Marie komm, da sind noch mehr Maschinen, die flugbereit sind! Ich helfe dir“. Marie strahlte.
Sie war nur kurz in der Luft, als sie das Flugzeug des Deutschen entdeckte. Sie flog auf ihn zu, klemmte sich hinter ihn. Und da war es wieder, die Wut, der Rausch, diese sonderbare Erregung. Sie eröffnete das Feuer und jeder Schuss, jede Salve war ihr eine tiefe Genugtuung. Der Andere war keine leichte Beute und flog riskante Manöver um ihr zu entkommen. Sie ließ nicht ab von ihm, folgte jedem Ausweichmanöver. Einmal geriet sie zu tief an den Boden, es gab einen heftigen Schlag, irgendetwas musste kaputt gegangen sein. Das Flugzeug ließ sich kaum noch kontrollieren und sie schaffte es gerade noch, es auf einem Feld zu Boden zu bringen. Sie erlitt bei der Landung schmerzhafte Prellungen und Schürfwunden. Sie taumelte aus dem Flugzeug, kaum noch fähig zu denken, als dieses hinter ihr zu brennen begann. Sie schleppte sich noch einige Meter bis zu einem Baum, dann brach sie in sich zusammen. Das Zittern nahm überhand und sie begann hemmungslos zu weinen. Tausende Gedanken schossen ihr noch durch den Kopf, die Wut, die Trauer, die Blamage und was das alles für Konsequenzen hätte. Nie mehr hätte sie die Möglichkeit ein normales Leben zu führen, nie mehr würde sie fliegen können. Dann trat eine bleischwere Leere in ihren Kopf.
Nach einer Weile merkte sie, dass eine Person an sie herantrat, es musste wohl der dieser deutsche Pilot sein. Unfähig zu einer Regung oder zu einem Wort verharrte sie in sich gekauert. Schließlich griff eine Hand nach der ihren. Es war die Hand eines Menschen, nicht die eines Feindes und sie war warm und sie hielt sie im Leben. Und so erwiderte sie den Griff und so saßen sie, schweigend bis in den Abend, bis ein Auto mit britischen Soldaten heranfuhr und sie aufnahm.
Die Nacht war schwarz und sie hatte keine Träume, keine Erinnerung. Am Morgen lag sie wach, als der Deutsche in ihren Raum trat, sich zu ihr setzte und ihr die Hand reichte. Diesmal fand Marie Worte und sie begann mit ihm zu sprechen. Zu ihrer Überraschung sprach er ein passables Französisch und sie fragte ihn wer er war und woher er kam und er erfuhr die Geschichte eines Mädchens, das mit seinem Vater vor vielen Jahren eine Flugschau in Nordfrankreich besuchte.
P.S.: Die Geschichte "Marie" ergänzt sich mit dem Buch "Flieger".
Das Coverbild zeigt eine zerstörte französische Stadt und stammt von einer Feldpostkarte von 1915 - es ergänzt sich mit dem Coverbild von"Flieger"