Rating: P12
Nach dem Prompt „Eichhörnchen“ der Gruppe „Crikey!“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
"Hast du schon gehört? Im Norden soll ein großes Monster aufgetaucht sein!"
Yallie zuckte zusammen. Sie hatte nicht gehört, dass Kiyoyo eingetreten war. "Was? Ein Monster?", fragte sie zaghaft.
Kiyoyo nickte ernst. "Ein riiiesiges Tier! Keiner der Jäger hat so was bisher gesehen. Wir müssen uns das einfach ansehen!"
"Ansehen?", piepste Yallie und starrte ihren Freund entsetzt an. "Bist du verrückt?"
"Nur einen kurzen Blick!"
"Und wenn es uns frisst?" Nervös strich Yallie durch ihr hellblaues Haar. Ihre Flügel, durchscheinend bis auf dunkle, schwarze Umrandungen und Adern, flatterten unsicher.
"Wir nehmen Vaters Libellen. Das Monster kann zwar klettern und springen, aber nicht fliegen." Kiyoyo sprang auf sie zu und zog an Yallies Arm. "Na los, das wird witzig!"
"Du spinnst doch!", rief Yallie, aber sie ließ sich bis zur Öffnung des runden, kokonartigen Hauses ziehen. "Wenn meine Eltern davon erfahren ..."
"Du hast gesagt, sie wären den ganzen Tag unterwegs!", erinnerte Kiyoyo sie.
"Ja, aber wenn sie zurückkommen und ich bin nicht da ..."
"Wir sind am Mittag zurück, du wirst sehen!" Kiyoyo zog sie in den Sonnenschein, der seine gelben Flügel leuchten ließ. Auf seinem Rücken saßen zwei große, gelbe Schwingen wie die Flügel von Zitronenfaltern, bis hin zu den winzigen Schuppen darauf. Seine Haut war hellgrün, sein Haar blond und auch die schwarze Zeichnung im Gesicht - zwei einzelne Punkte auf jeder Wange - und die hellgrünen Augen harmonisierten mit den Flügeln.
Yallie dagegen hatte blaue Haut und blaue Haare. Ihre Zeichnung bildete einen kleinen Ring um ihr Gesicht und lief über ihre Arme und Beine. Ihre Fühler waren ebenfalls schwarz und zuckten unentschlossen, als sie auf dem Rand der runden Öffnung des Kokons balancierte.
"Du willst dir das doch nicht entgehen lassen, oder?", fragte Kiyoyo.
Yallie warf einen letzten Blick zurück auf ihre Näharbeit. "Wie sieht das Monster denn aus?"
"Es ist länger als eine Libelle!", erklärte Kiyoyo. "Und es soll überall fellig sein wie ein Bienennacken. Und es hat nur vier kurze Beinchen!"
Yallie verzog das Gesicht. "Du willst mich veräppeln!"
"Das haben die Jäger gesagt. Und dass sein Körper wie ein Stück ist, ohne Segmente und so!"
"Wie ... wir?", fragte Yallie und strich sich unwillkürlich über den Hals.
"Es hat auch ganz ähnliche Ohren", versprach Kiyoyo ihr und deutete auf seine eigenen Ohren.
"Na gut." Yallie löste ihren Arm aus seinem Griff. "Aber wir gucken wirklich nur von Weitem."
"Versprochen!", sagte Kiyoyo und begann, auf das Dach des Kokons zu klettern. Dort ging es weiter über das dicke Tau, an dem Yallies kleine Behausung baumelte. An dem mächtigen Ast über ihnen hingen noch weitere Häuser, der ganze Baum war mit ihnen angefüllt. Es war einer der größten Bäume und Yallie war heimlich stolz darauf, zu den Feen zu gehören, die dieses gewaltige Wunderwerk erobert hatten. Der große Baum stand auf einem grünen Hügel und abseits von den anderen Bäumen. Bis auf eine Birke am Lichtungswald waren die meisten Gewächse in der Nähe unbewohnt.
Über Leitern, gewundene Treppen und Hängebrücken in luftiger Höhe kletterten die beiden Kinder immer höher. Je weiter sie kamen, desto lauter wurde das Summen der Bienen, deren Schäfer sie in den Blüten außen am Baum ernten ließen. Der Libellenstall befand sich nicht ganz im Obergeschoss, sondern hinter der Barriere aus Bienenherden und wespenreitenden Wächtern.
Auf einer runden Plattform aus grünen Schilfstämmen standen mehrere große Libellen. Die Raubtiere klackerten mit den Greifzangen und zischten gefährlich. Es gab rote, grünblaue, gelbschwarze und dunkelblaue Tiere und jedes verfolgte mit glitzernden Facettenaugen, wie sich die Elfen in ihre Mitte begaben.
Kiyoyo führte Yallie zu einigen kleineren, roten Tieren. Sie waren nur etwa so hoch wie eines der Eichenblätter und reichten den Ausreißern damit knapp bis zur Brust.
Kiyoyo pfiff und die Tiere beugten sich vor, wobei sie die Vorderbeine stark anwinkelten. Die beiden Feen stiegen auf die Vorderbeine und setzten sich in den Knick zwischen Kopf und Oberkörper, direkt hinter den beiden großen Augen.
"Gut festhalten", wies Kiyoyo Yallie konzentriert an und summte eine bestimmte Melodie.
Die beiden Libellen surrten mit den Flügeln und stiegen mit lautem Brummen in die Höhe. Dann jagte Kiyoyos Libelle unvermittelt los und Yallies Reittier unmittelbar hinterher.
Yallie schrie leise auf, als ihr das Wind ins Haar fuhr. Sie tauchten unter großen Eichenblättern hinweg und jagten dicht über Ästen dahin. Ängstlich umklammerte Yallie den Hals der Libelle mit den Beinen. Sie wusste natürlich, dass Libellen - wenn sie einmal gezähmt waren - zu den sichersten Reittieren gehörten. Sie hatten einen kontrollierten, waagerechten Flug, man musste nur aufpassen, dass man bei ihrem wilden Zickzack nicht von ihrem glatten Rücken geschleudert wurde.
Trotzdem schlug ihr das Herz bis zum Hals, als sie aus dem Lichtwechsel der Blätter ausbrachen, an einigen Bienen vorbeirauschten und sich in die Luft über den Wiesen begaben. Über ihnen nur der Himmel, unter ihnen Gras, so hoch wie eine Fee.
Vor ihr jauchzte Kiyoyo übermütig und ließ seine Libelle beschleunigen und mal da-, mal dorthin flattern, während Yallies Tier langsamer auf gerader Linie folgte.
"Ist das nicht herrlich?", rief Kiyoyo ihr zu und winkte.
Yallie winkte vorsichtig zurück. Im Gegensatz zu Kiyoyo, dessen Vater die Libellen ausbildete, war sie so ein Tier noch nicht besonders oft geritten. Und im Gegensatz zu Kiyoyo hatte sie furchtbare Angst vor den Greifzangen der Raubtiere.
Der Norden war ein ganzes Stück weg. Yallie wusste nicht, wann sie zuletzt so weit geflogen war - oder überhaupt so weit gereist. Sie überquerten den Brombeerforst, den Geröllhang und schließlich den Bachstrom, der die nördlichste Grenze ihres Königreichs bildete. Dahinter lag unerforschte Wildnis und Yallie begann, in den Wipfeln aufgeregt nach einer Spur des Monsters zu suchen.
Käfer und Schmetterlinge wichen zur Seite, sobald sie die Libellen bemerkten. Wilde, unbewohnte Blumen und Pilze erstreckten sich im Schatten von Bäumen, die vielleicht noch nie eine Fee betreten hatte.
Kiyoyo bremste seine Libelle und Yallies Tier hielt hinter ihm in der Luft. Das Surren ihrer Flügel wurde so laut, dass die beiden Feen brüllen mussten, um sich zu verständigen.
"Hast du es gesehen?", rief Yallie.
Kiyoyo schüttelte den Kopf und sah sich suchend um. "Weit kann es nicht sein!"
Ungeduldig drehten die beiden Feenkinder die Köpfe. Dann ...
"Da!", schrie Yallie und hieb der Libelle instinktiv die Füße in die Seiten. Sie lehnte sich vor, als ihr Flugtier sich nach unten und zur linken Seite neigte, wo Yallie etwas Rotes im hohen Gras erblickt hatte.
Wind peitschte ihre blauen Haare nach hinten, als die Libelle in den Sturzflug ging.
"Yallie, warte!", rief Kiyoyo und lenkte seine Libelle hinterher.
Yallies Flugtier jagte über einen Baum hinweg und ging dahinter tiefer. In großen Kreisen näherte sich die Libelle einem merkwürdigen Wesen am Boden. Das Monster richtete sich überraschend auf die Hinterbeine und wuchs in die Höhe, als es Yallies Libelle hörte. Erschrocken bremste das Mädchen ihr Reittier.
Aus schwarzen, feucht schimmernden Augen sah das Monster zu ihr auf. Es hatte auf dem Kopf zwei lange, behaarte Ohren - länger als die Ohren von Yallie und den anderen Feen - und war in etwa so groß wie die Libelle, durch den buschigen und beweglichen Hinterleib oder Stachel allerdings länger. Seine Füße ähnelten auf unheimliche Weise denen von Spinnen, doch es hatte nur vier davon und dicke, kurze Beine. Von seiner Schnauze ragten lange, dünne Fühler zu den Seiten. Es hatte nicht nur zwei, sondern sicherlich hundert davon!
"Yallie!" Kiyoyos Libelle kam heran und bremste ein Stück über Yallie. "Nicht bewegen!", warnte Kiyoyo. "Dann greift es vielleicht nicht an."
Yallie schielte hinab. Sie war dem Boden tatsächlich ein ganzes Stück nähergekommen, als ursprünglich geplant. Dabei konnte das merkwürdige Monster doch springen! Doch die Aufregung hatte sie mitgerissen.
Das Herz klopfte ihr bis zum Hals, als sie das Monster wieder ansah. Doch das Untier hatte seinen Blick von Yallie angewandt und damit begonnen, seinen Kopf mithilfe der Pfoten zu waschen. Wie eine Fliege! Allerdings hatte es weder einen Rüssel noch Greifzangen, sondern nur ein Loch im Gesicht, wo sein Mund war.
"Das tut ja überhaupt nichts!", rief Kiyoyo aus. "Los, lass uns näher ran!"
"Kiyo, warte ..." Doch Yallies Ruf kam zu spät. Schon flitzte die eine Libelle zur Erde und das zweite Tier folgte. Sie landeten im hohen Gras, das über ihre Köpfte ragte. Doch die beiden Libellen drückten es ringsum nieder.
"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist!", rief Yallie, als Kiyoyo losrannte. "Was, wenn es nur Beute am Boden frisst oder so?"
"Das ist ein Klettermonster!", rief Kiyoyo ihr zu. "Das jagt in Bäumen. Komm schon."
"Du blöder ...", murmelte Yallie. Dann rannte sie hinterher. Denn wenn sie ehrlich war, wollte sie sich den Anblick auch nicht entgehen lassen.
Die Grasstämme raschelten leise. Wenn Yallie hochsprang, konnte sie über die Spitzen der niedrigeren Gräser blicken und die fernen Ohren des Monsters sehen. Doch Kiyoyos Position konnte sie nur durch die Geräusche seiner Schritte orten.
Schließlich erreichte sie den Rand der temporären Lichtung, die das Monster mit seinem Körper gebildet hatte. Yallie ging hinter einigen Grasstämmen in Deckung. Eine Bewegung weckte ihre Aufmerksamkeit: Kiyoyo winkte ihr von einem Versteck nicht weit entfernt zu.
Neugierig und so still wie Blattlauslarven beobachteten sie das Monster. Yallie schnappte leise nach Luft: Das merkwürdige Tier hatte eine ganze Nuss in den Pfoten und knackte die Schale mit einem geschickten Biss. So fremdartig das Wesen auch war, sie hatte es bis gerade niedlich gefunden. Jetzt fragte sie sich mit einer Mischung aus Angst und Faszination, wie leicht ein solch kräftiger Kiefer einen Knochen brechen könnte.
Das Monster schien mit der Nuss allerdings zufrieden zu sein. Es wühlte das essbare Innere heraus, für die Feen ein vollständiges Abendessen, und stopfte es problemlos in sein Maul. Nur ab und zu hob es den Kopf und sah sich nervös um, schnupperte, fraß dann weiter. Seine beiden Beobachter schien es allerdings nicht zu bemerken.
Nachdem es mit der Nuss fertig war, ließ es die Schalen liegen und machte einen weiten Sprung, als würde es überhaupt nichts wiegen. Yallie hörte den fernen Aufprall und merkte gleichzeitig, wie eine ungeahnte Anspannung von ihr abfiel, als sie aufatmete.
Als sie wieder auf die Lichtung sah, beugte sich Kiyoyo bereits über die Nussschalen.
"Unglaublich!", rief er. "Mit solchen Zähnen würden wir uns einiges an Schlepperei und Werkzeug sparen!"
"Ich bin so froh, dass es uns nicht gesehen hat!" Yallie trat zu ihm. "Lass uns nach Hause, ja? Guck, es wird schon dunkel."
"Nur eine Sekunde ..." Kiyoyo durchwühlte die Nussschalensplitter nach einem etwa faustgroßen Stück, das wie ein Messer geformt war. "Das müssen wir mitnehmen! Als Beweis und um daran zu forschen wie richtige Wegesucher!"
"Ich dachte, du willst auch Libellenzüchter werden", sagte Yallie verwundert.
"Na ja", Kiyoyo verzog das Gesicht. "Vater will, dass ich die Zucht übernehmen, also ... aber Wegesucher wäre ich auch gerne!"
"Ich auch", gab Yallie zu. "Aber ich hätte viel zu viel Angst, so ganz alleine in der Wildnis."
"Wenn wir groß sind, ziehen wir einfach zusammen los!", schlug Kiyoyo vor.
Yallie nickte begeistert und bückte sich, um ebenfalls ein Stück Nussschale aufzunehmen. Ihres war größer und wies die Bissspuren des Monsters auf.
Kiyoyo pfiff und die Libellen kamen fast augenblicklich angeflogen. Rasch stiegen die beiden Ausreißer auf.
"Was glaubst du, wo das Monster herkam?", fragte Kiyoyo.
"Bestimmt von den großen Steinwänden!", hauchte Yallie. "Dort, wo kein Insekt mehr fliegen kann, da oben wohnt es."
"Ganz sicher!", stimmte Kiyoyo mit glänzenden Augen zu. "Da gibt es bestimmt noch größere Monster!" Er wendete seine Libelle und ließ sie zurückfliegen. Die Tiere kannten den Weg zu ihrem Heimatbaum auswendig und eilten rasch dahin, bis der große Teich am Fuß des Baumes mit seinem Glitzern die Ankunft in der Heimat verkündete.
"Ich gehe am besten direkt zurück", sagte Yallie, als sie abgestiegen war. "Bevor meine Eltern mich suchen kommen."
"Viel Glück", sagte Kiyoyo. "Und bis morgen!"
"Ja, bis morgen!" Yallie winkte und hüpfte den breiten, im Wind schaukelnden Ast entlang zum Stamm. Rings um die äußeren Blüten erschienen die ersten Nachtwächter mit ihren Glühwürmchen.
Yallie presste das Nussstück grinsend gegen ihre Brust. Sie fühlte sich ein kleines Stückchen mutiger, nachdem sie sich heute dem Monster gestellt hatte.