Draußen verkündeten inzwischen die ersten Vogelstimmen den neuen Morgen, als die Zauberin endlich eröffnete, sie habe die Lösung gefunden. Die Zeichen im Staub hatten ihr offenbar verraten, was sie nun sprach:
„Von heute an am neunundneunzigsten Tag, wird jenseits des östlichen großen Wassers der Mond zwischen Sonne und Erde treten und der Himmel wird sich verdunkeln, als sei es Nacht. Dann müsst ihr dort sein. Wenn es Nacht wird am Tag, ist der Fluch so schwach, dass ihr ihn brechen könnt, wenn ihr zusammen seid.“
Marisande hatte von so einem Phänomen gehört und so wuchs in ihrem Herzen die Zuversicht. Sie dankte der Zauberin und kaum war dies geschehen, da kam der Wolf mit dem ersten Morgengrauen in die Hütte zurück. Marisande umarmte ihn, dann riss die Verwandlung beide Liebenden wieder auseinander.
Nach dieser Nacht gab es für Lear und Marisande nur noch ein Ziel: Das jenseitige Ufer im Osten. Bis dorthin mussten sie zur Sonnenfinsternis gelangen.
Die Reise war beschwerlich und es gab genügend Gefahren, die ihnen auf dem Weg dorthin drohten. Darum entbanden sie Bessindra von jeglicher Pflicht, sie aus Dankbarkeit bis dorthin zu begleiten. Doch die Zauberin wollte davon nichts wissen. So machten sich die drei gemeinsam auf. Kein Sturm, keine Gluthitze, keine Schlucht und keine Räuberbande konnte sie aufhalten. Mit Pferden, die sie gegen einen Edelstein aus dem Knauf von Lears Schwert tauschten, kamen sie über die weiten Ebenen und selbst über die wilden Berge. An den Gestaden des großen Wassers suchten sie nach einem Hafen, wo es ein Schiff gab, mit dem sie der Sonne entgegen segeln konnten. Für zwei Saphire aus dem Heft des Schwertes fanden sie einen Kapitän, dem das seltsame Dreiergespann aus Eule, Frau und düsterem Recken nicht zu unheimlich war, um es an Bord zu nehmen. Nachts verbarg sich Marisande mit dem Wolf in der hintersten und dunkelsten Ecke des Laderaumes. Und schließlich erreichten sie die Lande im Osten. Es war der sechsundneunzigste Tag und schon bald würde sich zeigen, ob die Zauberin recht behielte.
Nach sieben Tagen und Nächten in der Enge des Schiffes, drängte es die Reisenden fort aus der Hafenstadt und in die Weite einer fremdartigen Natur. Hier gab es keine Wälder und Auen, stattdessen sandige Hügel und staubige Ebenen, über denen die Hitze flirrte. Die Bäume waren seltsam und hatten keine Blätter oder Nadeln, sondern eine Art Fächer, und es wuchsen süße Früchte darauf. Auch die Tiere waren vollkommen unbekannter Art. Manche schienen wie kleine Katzen, und sie kletterten flink in die Höhe. Sonne und Mond aber waren hier gleichermaßen unerbittlich und nichts deutete darauf hin, dass ein besonderes Ereignis der Gestirne bevorstand. Nur Wolf und Eule waren nervöser als je zuvor. In ihrer menschlichen Gestalt wirkten Lear und Marisande vollkommen gefasst, doch wenn sie ihre tierische Form angenommen hatten, zeigte sich, wie sehr die Anspannung auf ihnen lastete. Der Vogel kreiste unentwegt krächzend im heißen Aufwind über den Hügeln, und der Wolf kam morgens erschöpft von der Jagd und langem Laufen zurück. Bessindra beobachtete des Nachts die Gestirne und befragte ihre Runen. Endlich kam der neunundneunzigste Tag und die Stunde rückte näher, zu der sie die Konstellation erwarteten. Sie befanden sich auf einer kleinen Anhöhe und wagten nicht, direkt in die Sonne zu sehen. Die Sperbereule saß auf den Schultern des Ritters, in ihren Federn spielte der Wind. Die Zauberin, neben ihnen, hielt Lears Hand, die ein wenig zitterte. Da begann es.
Der Schatten des Mondes schob sich vor die Sonne. Bessindra schaute durch eine Achatscheibe und sah es nun ganz deutlich. Und tatsächlich flatterte Marisande auf den Boden, wo sie verängstigte Rufe ausstieß und den Kopf unter die Flügel steckte. Lear wollte zu ihr, doch da packte Bessindra ihn an beiden Armen und befahl ihm, stehen zu bleiben und ihr in die Augen zu sehen.
„Die Sonne ist da oben und du kannst sie spüren. Es wird nicht Nacht, es wird nur dunkel“, beschwor sie ihn. Er erschrak vor ihrem Blick, sein Atem beschleunigte sich unnatürlich, doch er vertraute ihr, musste es, denn vielleicht wäre es die einzige Chance, die er und seine Liebste bekommen würden. Inzwischen wand sich die Eule auf dem Boden, krümmte sich. Eine Mischung aus ihrem Krächzen und menschlichem Klagen Marisandes wurde laut.
„Sieh nicht hin, schau nicht zum Mond. Es ist Tag, bleib was du bist, bleib …“, wiederholte die Zauberin immerfort. Ihre Fingernägel bohrten sich in Lears Arme. Seine Muskeln spannten sich, Schweiß brach aus. Sein wölfisches Wesen, das mit dem Mond kam, verlangte nach ihm.
Er schrie auf: „Verschwinde! Lass mich!“
Ob er sein anderes Ich oder Bessindra meinte, war nicht auszumachen.
Keiner der drei hatte eine Ahnung, wie lange diese Sonnenfinsternis andauern würde. Wie hart es sein würde, dem zu widerstehen, was mit dem Verschwinden des Sonnenlichts beginnen würde, doch Lear war stark und stärker noch schien Bessindra, die seinen Blick mit dem ihren festhielt. Und noch immer redete sie auf ihn ein. „Es ist Tag … vergiss den Mond … bleib! …“
Um sie herum verstummten alle Laute der Natur. Kein Vogel sang, kein Insekt schwirrte, Marisandes Rufe waren verklungen. Es wurde kühl. Aber nicht so sehr wie zu Beginn der Nacht. Plötzlich fiel der Mann bewusstlos zu Boden. Ein Beben und Zittern durchruckte ihn, dann lag er still. Eilig hockte sich Bessindra hinzu, hörte nicht auf zu reden und hielt ihn im Arm. Marisande, inzwischen menschlich, kroch zu ihm heran, warf sich vor seine Brust, als wolle sie ihn schützen, und mit einem Mal fasste sie sein Kinn, drehte sein Gesicht zu dem ihren und küsste ihn. Ihre Lippen erinnerten sich an seine Lippen. Sie waren rissig und spröde von den Entbehrungen der Reise, aber warm und sein Atem war süß. Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf sein Gesicht, während Marisande ihm über die Wangen strich. Sie waren ein wenig rau, aber menschlich, ohne das Fell des Wolfes. Noch immer regte sich Lear nicht, da küsste Marisande abermals. Und siehe da, er schlug die Augen auf.
„Du bist es, meine Liebste“, hauchte er, noch bevor er ganz begriffen hatte, dass er nicht zum Wolf geworden war.
„Ja, ich bin es“, flüsterte sie und drückte seine Hand, seine Finger, sodass er verstand.
Beide hielten jetzt ihre verbundenen Hände zur Sonne, die wie zuvor ganz am Himmel stand. Der Mond war vorübergezogen und mit ihm der Fluch verschwunden, der diese beiden so lange in dunklen Banden gehalten hatte.
Bessindra erhob sich langsam, ließ den Umhang des Ritters liegen, dann ging sie ein Stück weit fort, um die Liebenden allein zu lassen, die nun zum ersten Mal wirklich zusammen sein konnten.